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Stille

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30.08.2007
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Stille

Stille

Wie jeden Tag kam er genau um 23 Uhr nach Hause. Seine Frau schlief für gewöhnlich um diese Zeit schon, also bemühte er sich leise zu sein, wie immer. Er ging auf die Toilette, putzte sich die Zähne, holte den Pyjama aus dem begehbaren Schrank, zog sich um und legte sich hin. „Gute Nacht!“ flüsterte er. Keine Antwort, seine Frau schlief friedlich neben ihm. „Heute habe ich viel geleistet“, dachte er zufrieden und schloss die Augen. Die regelmäßigen Atemzüge seiner Frau ließen ihn schnell einschlafen.

Am nächsten Morgen läutete wie immer um 6 Uhr 30 der Wecker. Die Sonne erwärmte das große Schlafzimmer und überflutete es mit einer angenehmen Welle von Licht. Seine Frau war schon aufgestanden und bereitete wie jeden Tag das Frühstück vor. Als er die Küche betrat, war sie gerade fertig. Perfektes Timing. Er widmete sich exakt 20 Minuten der Zeitung, zwei Minuten seinem Toast und drei Minuten seinem weich gekochten Ei. Zwischendurch trank er 2 ½ Tassen Kaffee und ein halb volles Glas frisch gepressten Orangensaft, wie er es gewohnt war. Seine Frau saß schweigend neben ihm. Er mochte es nicht, wenn man ihn beim Frühstück störte. „Wann bist du nach Hause gekommen?“ fragte sie, als er fertig war. „Um elf, wie immer“. Er stand auf und holte seinen Mantel. „Am Wochenende leisten wir uns ein Essen im Continental“, sagte er und küsste sie auf die Stirn. Dann war er weg.

Er hatte wie immer viel zu tun an diesem kühlen Herbsttag. Viele Beziehungen gehen in dieser Jahreszeit zugrunde, ein Paradies für Scheidungsanwälte. Manchmal überlegte er, wieso so viele Menschen nicht fähig waren eine Beziehung aufrecht zu erhalten. So schwer war das doch wirklich nicht. Er überarbeitete die ersten drei Fälle bis zur Mittagspause. Frauen vertrat er lieber. Die wurden meistens vernachlässigt und manchmal sogar misshandelt, da hatte er leichtes Spiel. Beim Mittagessen in dem kleinen Bistro gleich gegenüber der Kanzlei lief eine Bibel-Sendung im Fernsehen. Er war nicht interessiert, hörte nur mit einem Ohr hin. Irgendetwas von einem Splitter oder einem Balken im Auge war die Rede. Lächerlich. Er aß auf und ging wieder an die Arbeit. Drei weitere Fälle warteten auf ihn. Zwei vernachlässigt, eine misshandelt. Zum Abendessen traf er sich mit einem Kollegen in einem Lokal in der Nähe. Es war schon nach acht Uhr als er eintraf. Sie beredeten einen komplizierten Fall, aber dennoch war der Abend durchaus angenehm.

Wie jeden Tag kam er genau um 23 Uhr nach Hause. Seine Frau schlief für gewöhnlich um diese Zeit schon, also bemühte er sich leise zu sein, wie immer. Er ging auf die Toilette, putzte sich die Zähne, holte den Pyjama aus dem begehbaren Schrank, zog sich um und legte sich hin. Irgendetwas war anders an diesem Tag. „Gute Nacht!“ flüsterte er. Keine Antwort. „Heute habe ich viel geleistet“ dachte er zufrieden und schloss die Augen. In vollkommener Stille brauchte er etwas länger, bevor er schließlich einschlafen konnte.

 
Zuletzt bearbeitet:

„Seine Frau saß schweigend neben ihm.“
„Heute habe ich viel geleistet“, dachte er zufrieden und schloss die Augen.

Hallo, guten Abend & grüß Dich auf KG.de, mweiss,

woher kennstu den Tagesablauf meines Lebens als Angestellter?

Nun ja, nicht alles ist gezeichnet, wie’s wirklich war: ich stand um sechs Uhr auf, zum Frühstück trank ich keinen Orangensaft. Der war mir viel zu Gesund. In der schlimmsten Zeit hätt’ ich da gern schon ein Bier, gelegentlich auch Schärferes statt des abhängig machenden Kaffees getrunken … Und als ich 34 und älter war kam ich nicht unbedingt um 23 Uhr nach Hause, sondern später: zunächst nur das Presbyterium, dann kam irgendwann der Kreisvorstand der Gewerkschaft hinzu usw. usf. … Hinzu kommt, zweimal im Monat leisteten wir uns auswärtige exotische Essen, was im Übergang der 70-er zu den 80-er Jahren chinesisch, dann allgemein asiatisches Essen bedeutete, Italiener und Griechen waren da schon Nachbarn.

Und das nicht nur im Herbst.

Nun ja, bei mir war die Frau nachher nicht verschwunden, wir hatten uns nur tatsächlich nix mehr zu sagen und trennten uns. Denn wenn man vom Heiraten nach dem ersten Mal die Schnauze voll hat, warum sollte man Geld rausschmeißen und sich scheiden lassen?

Eine perfekte Studie legstu da vor auf nicht einmal einer vollen Manuskriptseite DINA 4, TNR 12 pt. einzeilig. Schleichender und hinterhältiger kann’s im Leben nicht sein: man wähnt sich am Morgen in täglicher Routine – und ist am Abend, - aller Wahrscheinlichkeit weit früher, - schon draußen.

Klasse gemacht, pardon, geschrieben!

Gruß

Friedrichard

 

Hallo mweiss,

Du beschreibst wohl genau das, was passiert, wenn der Berufsalltag Oberhand gewinnt und das Leben völlig bestimmt; es gibt keine Zeit mehr für die Familie, keine Zeit mehr für Außerplanmäßiges, denn alles muß seiner Ordnung halber erledigt werden. Letzten Endes gibt es auch keine Zeit mehr für sich selbst, denn man gerät durchweg in die "Arbeitsmühlen", man ist nur noch der Arbeitsmensch, sonst nichts - und anstatt diese Rolle zu kritisieren, fügt man sich, ohne es eigentlich zu merken. Genau so geht es Deinem Prot am Ende der Geschichte; er merkt noch nicht mal, daß seine Frau verschwunden ist. Er merkt nur, daß etwas anders ist als sonst, aber er kann nicht sagen, was und schläft schließlich irgendwann doch noch ein.

Eine sehr zeitkritische Geschichte, die zeigt, daß man durch zuviel Arbeit sich selbst verliert. Hat mir sehr gut gefallen! :thumbsup:

Liebe Grüße
stephy

 

Hallo mweis,
eine Kurzgeschichte wie 'aus dem Bilderbuch'.

Gut zu lesen, nett geschrieben. Obwohl man sich den Schluß denken könnte, überrascht er einen doch. Das Thema ist nicht neu, doch wie man an den anderen Kommentaren sieht, immer noch aktuell! ;)

Habe sie wirklich gerne gelesen!

Gruß
Kasimir

 

Hej mweiss,

sehr unaufdringlich geschrieben, und klar, das gefällt mir gut.

Irgendetwas von einem Splitter oder einem Balken im Auge war die Rede. Lächerlich.

Das wäre dann wohl der Wink mit dem Zaunpfahl :) - ich finde diesen Hinweis unnötig, er scheint mir eher auf den Leser gemünzt zu sein als auf den Prot. Nach meinem Empfinden müsste letzterer den Hinweis entweder deutlicher auf sich beziehen, um ihn beispielsweise lächerlich zu finden, oder gar nicht wahrnehmen. Ist aber nur 'ne Kleinigkeit.

Die Überschrift kann sich sowohl auf die Stille ihrer Abwesenheit als auch auf die Stille, die zwischen ihnen geherrscht hat, beziehen. Mit Überschriften hab ich selber oft Probleme, vor dieser ziehe ich den Hut.

Viele Grüße
Ane

 

Die Überschrift kann sich sowohl auf die Stille ihrer Abwesenheit als auch auf die Stille, die zwischen ihnen geherrscht hat, beziehen. Mit Überschriften hab ich selber oft Probleme, vor dieser ziehe ich den Hut.
Ane

ein Wort sagt mehr als tausend Bilder... ;)

 

Salü mweiss,
habe Deine kleine Geschichte mit grossem Inhalt mehrmals gelesen. Sie hat mir sehr gefallen. Du hast viel Würze in der Kürze!
Die 'Selbstsicherheit' des Prot ist schon wirklich gut beschrieben.
Bei der Stelle mit dem 'Splitter im Auge' bin ich wie Ane der Meinung, dass sie nicht unbedingt nötig ist. Sie schwächt den Schluss. Ohne Zaunpfahl wäre auch für mich der Schluss wie ein Hammer - sehr gut.

Ich grüsse Dich herzlich,
Gisanne

 

Hallo mweiss,

ich melde mich mal vor allem, weil ich es so ganz ganz anders sehe als die bisherigen kommentatoren. Das gesamtbild ist mir viel zu perfekt und dass er scheidungsanwalt ist, hat was von einem rosa kleidchen, dem noch ein rosa schleifchen hinzugefügt wird - viel zu viel des guten, um originell zu sein. Hier wird ein klischee zu typisch bedient, ist meine meinung.

das impliziert auch schon die antwort von friedrichard - dass er sich unter anderem mit gewerkschaftstätigkeiten überlastet hat, gibt einem solchen bild die interessante note.. denn von anwälten nehmen wir das geschriebene ja sowieso schon an - aber nen normaler arbeitenhemer, ein gewerkschaftsvertreter der auf 35 stunden pocht - und sich dann überarbeitet?

sowas fehlt mir in der geschichte - etwas, was es interessant, überraschend und nicht vorhersehbar macht.

übrigens erinnert mich das bild dann eher noch an eine zeit von vor 20 jahren: die frau die schweigend erträgt, der mann, der nen eindruck vermittelt, er wäre mindestens 50 jahre und führte halt das "geregelte" leben. die meisten die heute die 60 oder mehr stunden in einer woche arbeiten, sind eher deutlich jünger und wollen nichts geregeltes, sondern gehen mehr auf status.

stilistisch gefällt mir der schluss - weil er klein und fein, die abwesenheit der frau dokumentiert. Das war schön geschrieben.

grüße, streicher

 

@ streicher

natürlich ist das klischee in reinform

ich könnte natürlich auch massig details ins bild setzen, die die szenerie realer erscheinen ließen...
aber hätte dann der text noch die vorzüge, die die anderen an dieser version so schätzen (kürze, prägnanz, effekt am schluss?)

man kann nicht alles haben

 

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