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Stimmen.

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25.01.2006
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Stimmen.

Als Kind habe ich Gläser kaputtgebissen. Es war ein Zwang, der irgendwie raus musste. Wenn ich einen Schluck nahm, hörte ich Stimmen die mir befahlen zu zubeißen.
Es kam nicht selten vor, dass meine Familie und ich in Restaurants saßen und das Glas irgendwann in meinem Mund zersprang, mein Mund blutete, ein Krankenwagen kam, ich mit Blaulicht ins Krankenhaus gefahren wurde und mir unter Vollnarkose die Glassplitter aus dem Mund und aus dem Magen geholt wurden.
Irgendwann gab es nur noch Pappbecher in unserem Haus.


Es ist schon spät. In Berlin sind schon seit Stunden die Straßenlaternen an und die Botscha-spielenden Leute am Paul-Lincke-Ufer schon lange im Bett.
Ich trinke Wein aus der Flasche. Vier Euro vom Nachtverkauf an der Ecke. Vier Euro und eine Frage. „So spät noch auf?“ Ein Euro Wechselgeld und eine Antwort. „Sieht fast so aus.“
Ein Mädchen liegt gerade auf meinem Bett. Zumindest bilde ich mir das ein. Vielleicht hoffe ich es auch nur. Vielleicht sitzt sie auch in meiner Küche und isst etwas oder trinkt etwas oder sie steht unter der Dusche oder liegt in der Badewanne oder durchwühlt meine Schränke. Vielleicht steht sie auf meinem Balkon und hört meinen Nachbarn beim Streiten und Schreien zu. Meine Nachbarn streiten und schreien immer nachts. Am Tag hört man sie nie.


Als ich in den Kindergarten ging und sich das Ende näherte, mussten wir alle zu einem Schularzt, bei dem wir jeder eine Fingerübung machen mussten
Wer diese bestand, kam aus dem Kindergarten direkt in die erste Klasse und die Kinder, die diese Übung nicht schafften, kamen in die Vorschule.
Drei Kinder schafften diese Übung nicht.
Ich war einer von ihnen.


Nachdem ich mit dem Mädchen geschlafen habe und sie neben mir lag und geraucht hat, habe ich sie gefragt, was sie für mich ist. Sie lachte und ich war mir nicht sicher, ob sie mich auslacht oder ob sie mit mir lacht. Als ich bemerkte, dass ich nicht lachte, stand ich auf und stellte mich auf meinen Balkon. Draußen auf der Straße lief ein Hund entlang und sein Besitzer trabte gähnend hinter ihm her.
Es sah aus, als hätte der Mann nur eine Unterhose getragen.


Als ich 17 Jahre alt war, wurde während einer Notoperation ein Stück Glas in meinem Magen gefunden.
Einen Tag später fragten mich die Ärzte, wie dieses Stück Glas in meinen Magen kommt und ich erzählte ihnen die Geschichte aus meiner Kindheit und sie hörten mir zu und als ich fertig war mit erzählen, sagten sie, dass das nicht sein kann. Wäre dieses Stück Glas so viele Jahre in meinem Magen gewesen, hätte es den ganzen Magen zerstört.


„Ich bin dein Mädchen. Erst war ich das Mädchen mit den kurzen, blonden Haaren und den blauen Augen. Das Mädchen mit dem Rock und den Schuhen in der Hand und den viel zu großen Kopfhörern auf dem Kopf, dass du umgerannt hast, im wahrsten Sinne des Wortes. Du bist gerannt. Dann war ich das Mädchen, dass dich festgehalten hat, weil mir dein ständiges Rennen auf die Nerven ging. Dann war ich das Mädchen, das du immer bekocht hast und der du Filme gezeigt hast. Dann war ich das Mädchen, mit dem du jeden Dienstag schläfst.“
„Und was bist du jetzt?“ fragte ich. Das Mädchen fing wieder an zu lachen, drückte ihre Zigarette aus, stand von meinem Bett auf und kam zu mir auf den Balkon. Wir hörten Musik. Wir bewegten uns. Sahen uns an. Berührten uns nicht. Küssten uns nicht. Sahen uns an. Bewegten uns. Sie lachte wieder. Ich versuchte es. Die Nachbarin schrie. Eine Tür knallte. Sie zog mich an sich. Ich zog mich weg. Sie sah mich an. Ich lächelte zurück. Ich hörte ihre Frage. Ich drehte mich um. Sie blieb stehen. Ich zog meine Schuhe an. Sie blieb stehen. Ich öffnete die Wohnungstür. Sie rief die Frage. Ich ging hinaus und schloss die Tür.


Seit ich sechs Jahre alt bin, trage ich ein Foto bei mir.
Ich glaube, dieses Foto ist mein Leben.
Als ich 14 war, ist das Foto fast verloren gegangen.
Ich fuhr Bus und das Foto fiel mir aus der Tasche und als ich ausstieg, fiel mir auf, dass das Foto nicht mehr da ist.
Der Bus fuhr weiter und ich rannte so schnell ich konnte hinter dem Bus her und an der übernächsten Station holte ich den Bus ein.
Das Foto lag noch auf meinem Platz. Ich steckte es ein, setzte mich wieder hin und fuhr bis zur Endstation weiter.
Ich glaube, an diesem Tag fing das Gerenne an.


Es würde nicht mehr lange dauern, bis die Sonne aufgeht.
Die Straßenlaternen gingen bereits aus.
Ich schmiss die leere Weinflasche auf die Straße und ein Radfahrer schrie mir irgendetwas hinterher.
Ich verstand ihn nicht.
Auf dem Weg nach hause fragte ich den Zeitungsausträger, wie es ist, wenn man jeden Tag den Sonnenaufgang erlebt.
Der Zeitungsausträger sah mich an, fragte, ob ich betrunken sei und drückte mir eine „Berliner Morgenpost“ in die Hand. Ich fragte ihn, ob er mir nicht lieber den „Tagesspiegel“ geben könne, aber der Zeitungsausträger schüttelte nur verächtlich den Kopf, lief mit seiner Schubkarre weiter und brubbelte irgendetwas vor sich hin.
Ich verstand auch ihn nicht.
Zu hause angekommen war meine Wohnung leer.
Das Mädchen war fort.
Der Anrufbeantworter blinkte einmal.
„Ich komme morgen um 12.41 Uhr in Tegel an. Du holst mich doch ab, oder? Natürlich holst du mich ab! Vergiss bitte nicht meinen Eltern Bescheid zu sagen, mein Geld reicht nicht mehr aus um sie anzurufen. Ich freue mich auf dich und den Berliner Herbst. Die Hitze in Bangkok halte ich nicht mehr länger aus. Du kommst doch, oder? Wenn nicht, hast du hoffentlich eine gute Ausrede parat! Ich liebe dich.“

Ich machte Musik an, goss mir Wodka-Tonic auf Eis in ein Glas, nahm einen großen Schluck und schmiss mich auf mein Bett. Während ich das Eis zerkaute und mit vollem Mund den Sänger nachäffe, hörte ich meine Nachbarin wieder schreien und an meine Wand bummern.
Ich schlief ein.

Als ich aufwachte lief das gleiche Lied immer noch und die Uhrzeit war nicht spürbar weitergelaufen.
Ich hörte immer noch die Schreie und das Bummern an meine Wand. Ich bummerte zurück und es bummerte zurück und ich bummerte zurück und es bummerte zurück und ich ging an der Tür meiner Nachbarn klingeln und sah die Schreie und die Wundern der Frau und ich fragte sie, wo ihr Scheißmann sei und sie stammelte nur „Fort.“
Die Frau blutete aus ihrem Mund und ich rief den Krankenwagen. Sechs Minuten später fuhr ich mit ihr im Krankenwagen unter Blaulicht die Berliner Straßen entlang und ich fragte mich, ob ich jemals ohne Blaulicht in einem Krankenwagen sein werde.
Meine Nachbarin blutete immer stärker und ihr Schreien wollte nicht aufhören und ich schloss die Augen und hörte einen Mann schreien „Wir verlieren ihn.“ und ich wollte erwidern „Sie. Nicht ihn.“, doch ich konnte nicht mehr sprechen. Das Einzige was ich tun konnte, war zu denken. Ich dachte an die Botscha-spielenden Menschen und an den Wein und an den Zeitungsausträger und an den Sonnenaufgang und an das Foto, das ich nicht bei mir habe. Und ich dachte an Sie. Und daran, dass ich Sie auch liebe.

 

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