Stinknormal
Müde ließ ich mich auf meinen Stuhl plumpsen. Es war laut und kalt. Am liebsten wäre ich gleich wieder nach Hause gefahren und hätte mich in mein warmes, kuscheliges Bett gelegt. Ich war sowieso schon immer der Ansicht, dass die Schule viel zu früh beginnt! Nur solche unsympathischen Typen wie Herrn Möck schien das überhaupt nicht zu stören. Gut gelaunt betrat er das Klassenzimmer, baute sein Laptop auf, auf das er so stolz ist wie ein Olympiasieger auf seine Goldmedaille und begann munter drauf loszuplappern. Obwohl ich viel lieber weiter vor mich hingedöst hätte, zwang ich mich dazu, meine Geschichtsmappe rauszuholen und noch einmal alles für die bevorstehende Arbeit durchzugehen. „Mirjam, würdest du dich bitte auch wieder auf den Unterricht konzentrieren und mir diese Mappe geben, ich werde gut auf sie aufpassen“, hörte ich plötzlich Herrn Möcks Stimme durch den Raum säuseln. „Aber gerne doch, bitteschön“, säuselte ich ironisch zurück und übergab ihm die Mappe. Na Klasse! Er blickte mich böse an, verkniff sich aber eine Antwort, stattdessen verdonnerte er mich zum Tafelputzen. Missmutig begann ich die Tafel zu säubern, wobei ich die Augen zukneifen und die Luft anhalten musste, so sehr staubte der Schwamm. Als ich fertig war, bemerkt ich, dass alle meine Klamotten nun weiß gepunktet waren. Echt ein Superstart in dem Montagmorgen. Doch plötzlich hatte ich eine Idee, wie ich es diesem arroganten Typen, der nun mit dem Rücken zur Tafel saß, heimzahlen konnte. „Ganz zufällig“ ließ ich den Schwamm auf Herrn Möcks Sakko fallen, wo nun ein fetter, weißer Fleck zu sehen war. Mit Genugtuung begutachtete ich mein Werk und entschuldigte mich überschwänglich bei Herrn Möck, der mich nun wütend anstierte. Gut, dass Blicke nicht töten können! „Mach das auf der Stelle wieder weg!“, knurrte er mich leise an. „Wie Sie wünschen“, erwiderte ich und schlug ihm auf den Rücken. Ich gebe zu, es war nicht gerade ein Streicheln, aber mich rauszuschicken und mir Unmengen an Strafarbeiten aufzuhalsen, war eindeutig überreagiert! Er war doch nicht aus Zucker und konnte ja wohl meinen kleinen Säuberungsschlägen standhalten! Schmollend stand ich vor dem Klassenzimmer und wartete auf das Klingeln. Wenigsten blieben mir so seine widerlichen Glubschaugen, die meilenweit aus seinem Gesicht ragten, und seine herumsäuselnde Stimme erspart.
Endlich klingelte es, ich betrat die Klasse und ließ mich erst einmal von meiner besten Freundin Neele für diese Heldentat kräftig bewundern. Doch dann fiel mir die Geschichtsarbeit ein, die wir jetzt schreiben würden, und sofort verwandelte sich mein Stolz in ein Gefühl des Unbehagens. Ich durfte diese Arbeit nicht schon wieder verhauen! Da betrat Frau Fossien auch schon mit ihrem fiesen Grinsen, das gerade vor Klassenarbeiten alles andere als aufmunternd ist, das Klassenzimmer. Ich wundere mich immer wieder wie sie mit ihrer Figur, naja..., sagen wir besser, wie sie überhaupt noch durch die Tür passt! Sie wird von allen nur das Fossil genannt, da sie sich mit ihrem Motto: „Jahreszahlen sind das wichtigste in Geschichte“ nicht gerade beliebt gemacht hat. Nachdem sie ihren rituellen Lasst-fünf-Zentimeter-Rand Spruch verkündet hatte, teilte sie die Arbeiten aus. Schon von der ersten Aufgabe wurde mein Mund vor Schreck so trocken, dass ich befürchtete, meine Zunge würde jeden Moment in Staub zerfallen. „Ich habe die Arbeit extra ein bisschen schwieriger gemacht, weil sich letztes Mal einige darüber beschwert hatten, dass sie so viel gelernt hatten und so wenig davon drangekommen ist. Ich hoffe diesmal wird sie euren umfangreichen Kenntnissen gerecht“, sagte sie zuckersüß. Danke! Klasse! Echt vielen Dank an alle Streber in unserer Klasse! In dieser superleichten letzten Arbeit hab ich ja auch problemlos eine vier minus geschafft, aber damit sich die Lernerei für unsere Streberleins auch lohnt, nehme ich diesmal, sozial wie ich bin, auch gerne eine Fünf in Kauf. Na super!
Ich saß also über dieses verdammte Blatt Papier gebeugt und grübelte über das Zitat „ Die Revolution frisst ihre Kinder“ nach. Außer, dass die Revolution anscheinend eine Kannibalin gewesen ist, fiel mir aber nichts ein und ich hielt es für klüger, diese Erkenntnis nicht schriftlich festzuhalten. Ich widmete meine ganze Konzentration der zweiten Aufgabe, doch mir wollte auch dazu einfach nichts einfallen, was das Fossil da hätte lesen wollen. Ab Aufgabe drei ging es dann aber stetig bergauf, ich fühlte mich schon fast wie einer von den Strebern. Beim Klingeln gab ich dann mit einem einigermaßen guten Gefühl die Arbeit ab, vielleicht reichte es sogar noch für eine Zwei.
Leider waren Neele und ich heute mit Haus-und Hofdienst dran und so begannen wir in der Pause lustlos Trinkpäckchen, halb aufgegessenen Brote und größeren Müll aufzusammeln. Den kleinen Müll, beispielsweise Kaugummipapier, kriegt man mit diesen Zangen sowieso nicht hoch, es ist schon eine Leistung, wenn man ein Trinkpäckchen (und das ist mit Abstand der am leichtesten hochzukriegende Müll) beim ersten Versuch im Eimer hat. Ich war gerade damit beschäftigt, ein angebissenes Salamibrot mit Mayonnaise aufzuheben, was unheimlich anstrengend war, weil man die Zange so sehr zusammendrücken musste um das Wurststück, das immer wieder rausflutschte, hochzuheben, und ich hatte bereits beschlossen mit dieser Sisyphusarbeit aufzuhören (die Brotscheiben waren ja immerhin schon im Eimer), als Neele mir zuraunte: „Achtung, Herr Schulz schwimmt an!“ Sofort setzte ich meine unsinnige Arbeit fort. Herr Schulz ist wohl einer der strengsten Lehrer der Schule, er hat so einen Ordnungswahn und liebt es Strafarbeiten auszuteilen. „Schwimmt an“ sagen wir, weil er so sehr schwitzt, dass der Schweiß ihm schon überall runtertropft und seine T-Shirts spätestens nach drei Stunden triefend nass sind, meistens wechselt er sie aber schon nach zwei Stunden.
Die Salamischeibe flutschte mir gerade schon wieder von der Zange, ausgerechnet auf meine neuen Adidas-Turnschuhe, als er aus unserem Blickfeld entschwand. Ich schüttelte die Wurst ab und sah mir den Mayofleck an. Seufzend drehte ich mich zu Neele um, da klingelte es auch schon. Wir beeilten uns den Müll wegzubringen und erreichten keuchend unseren Klassenraum. Ein Glück, Herr Sandmann, unser Mathelehrer war noch nicht da! Schnell begann ich die Mathehausaufgaben abzuschreiben, bei der letzten Gleichung betrat er den Raum. Er verzichtet immer auf ein „Guten Morgen“, weil er meint, dass das unnötige Zeitverschwendung ist. Stattdessen fängt er lieber gleich an seine Gleichungen, Funktionen und irgendwelche Definitionen runterzuleiern, die sich für mich eher nach einer griechisch-lateinischen Predigt anhören. Dass ihm dabei kaum jemand zuhört und die Mehrzahl der Mädchen damit beschäftigt ist, sich den Spliss aus den Haaren zu schneiden, stört ihn anscheinend nicht. Er macht seinem Namen alle Ehre, nur dass er statt dem Säckchen mit Einschlafsand ein Ranzen und ein übergroßes Geodreieck mit sich herumträgt. Da ich in der vorigen Woche erst beim Frisör gewesen war und daher die Splisssuche zu lange gedauert hätte, vertrieb ich mir die Zeit mit Zettelchen schreiben. Endlich klingelte es. Die Klasse schien wie aus einem Dornröschenschlaf zu erwachen und langsam kam wieder Leben in sie. Manuel hatte Janka das Pausenbrot gestohlen und rannte damit nun durch die Klasse, dicht gefolgt von Janka und ein paar anderen Mädchen. Bald hatten sie ihn umzingelt und da flog das Brot auch schon auf Malte zu, der es auffing und weiter rannte. Ich half ihr dieses Mal nicht, da ich Janka nicht so gerne mochte. Ich finde sie ziemlich eingebildet, weil sie immer allen zeigen muss, wie super sie aussieht und was für tolle Haare sie hat. Außerdem klingelte es schon wieder und Frau Thompson betrat den Raum. Schnell holte ich meine Lateinsachen heraus. Wir begannen mit dem Vergleichen der Hausaufgaben. Ich bemühte mich wirklich mitzuarbeiten und meldete mich sogar zweimal, aber da Latein nicht gerade zu meinen Lieblingsfächern zählt, schweiften meine Gedanken bald ab. Anstatt meine Sätze zu korrigieren, dachte ich über die Farbe nach, in der ich mein Zimmer streichen wollte. Ich konnte mich nicht zwischen einem warmen Sonnengelb mit einem Touch ins Orange oder einem frühlingsfarbenen Mintgrün entscheiden. Während ich versuchte mir mein Zimmer in diesen Farben vorzustellen, stachen Neele und Rena plötzlich von beiden Seiten auf mich ein. Jedes Mal, wenn ihre Finger sich in meine Seite bohrten, zuckte ich kurz weg und immer war ein leises “Mobb“ zu hören. Klar, dass ich bei von diesen fiesen Kitzeleien irgendwann in Lachen ausbrechen musste, aber warum ausgerechnet, als absolute Konzentrationsstille herrschte? „Mirjam, wenn du den Satz so lustig findest, dann übersetz ihn doch bitte für alle!“ Sehr zufrieden über die perfekte Wahl ihres nächsten Opfers trat Frau Thompsons Blick einen Schritt auf mich zu. Sofort hörten Neele und Rena auf und blickten mich schuldbewusst an. Ich brauchte dringend Hilfe, doch woher? Da ich noch nicht einmal wusste, ob wir noch bei den Hausaufgaben oder schon weiter waren, geschweige denn welchem Satz sie meinte, fragt ich erstmal, um Zeit zu gewinnen, wie die dritte Vokabel hieße. Leider hatte ich das Pech und die dritte war ein “et“ also ein „und“, und das wissen ja sogar Leute, die nie Latein gehabt haben. Ausgerechnet diese eingebildete Janka schmiss mir einen kleinen Zettel auf den Tisch! Schnell entfaltete ich ihn, erklärte meiner Lehrerin, dass ich in der Zeile verrutscht wäre und las den Satz vom Zettel ab. Frau Thompson sah aus, als hätte sie gerade ein Mammut vorbei fliegen sehen, und da ich mir nicht sicher war, ob sie nun meinen Tisch nach geheimen Notizen absuchen würde, schluckte ich den Zettel vorsichtshalber herunter. Doch sie verzichtete darauf, lobte mich kurz, und begann mit dem nächsten Satz. Ich drehte mich um und bedankte mich bei Janka, die lässig erwiderte: “War doch logo!“ Meine Vorurteile gegen sie waren wie weggeblasen und ich nahm mir sogar vor, mich mal mit ihr zu treffen.
Da die beiden nun aufgehört hatten mich zu „mobben“, langweilte ich mich so sehr, dass ich anfing, mich dem nächsten Satz zu widmen. Zehn Minuten später schaffte ich es tatsächlich, eine dieser antiken Buchstabenfolgen in einen deutschen Satz umzuwandeln: Horatius (irgendein wahnsinnig bedeutender römischer Superman) hing am Schild, während ihn Pfeile durchbohrten. Stolz, dass ich diesen Satz ganz alleine übersetzen konnte, meldete ich mich, obwohl er mir schon etwas seltsam vorkam, doch es ist ja allseits bekannt, dass die Römer spinnen, und meine mündlichen Note benötigte sowieso dringend einen Retter, da kam Horatius gerade recht! Schon wurde ich von der Thompson drangenommen und stolz übersetzte ich meinen Satz. Die ganze Klasse brach in schallendes Gelächter aus. Hatte ich irgendwas nicht mitgekriegt? „ Horatius hielt den Schild, welcher von Pfeilen durchbohrt wurde!“, zischte Neele von rechts. Ich wurde knallrot- Einfach nicht mein Tag heute.
In den nächsten Stunden hatten wir zum Glück Sport, mein Lieblingsfach. Keine Vokabeln, nicht so viel Geplapper vom Lehrer und man selber konnte fast soviel reden wie man wollte. Herrlich! Auf dem Weg zur Turnhalle kamen wir an dem Seismografen unserer Schule vorbei. Er hatte schon wieder irgendwelche Störungen und zeigte mittelschwere Erdbeben an, die gar nicht existierten. Lediglich wir Schüler wissen, woher diese Schwingungen kommen können. Wir haben nämlich die Vermutung, dass Herr Schmidt, der aussieht wie ein überfressenes Walross mit kleinen Bein- und Armstummeln, diese Schwingungen hervorruft, wenn er unter seinem gewaltigen Gewicht den Kunstraum über dem Messgerät erbeben lässt.
Alles war wie immer: Stinknormal eben.