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Stirb
Ich war schon Jahre nicht mehr hier. Es ist dunkel und kalt. Viel hat sich nicht verändert. Das Gartentor knarrt noch immer. Ein altvertrautes Geräusch, das mich merkwürdig anrührt. Es war die ganze Zeit da, hat auf mich gewartet. Das gute, alte Knarren, ein treuer Freund.
Ob der Schlüssel wohl noch passt? Ich habe ihn noch von früher. Hab ihn all die Jahre an meinem Bund gehabt. Nie gebraucht, aber immer bei mir getragen. Es ist der Schlüssel zu meiner Vergangenheit, ich wollte ihn nicht weglegen. Wollte immer die Möglichkeit haben, das alles eines Tages wieder aufzuschließen. Jetzt hab ich ihn wieder in der Hand, doch er passt nicht.
Dann eben hinten durch den Schuppen. So hab ich es früher auch immer gemacht. Einen kleinen Stock durch den Türspalt führen und den inneren Riegel hochdrücken. Heute nehme ich dafür eine Kreditkarte, geht auch. In einer versteckten Ecke im Werkzeugregal hängt - ein gut gehütetes Familiengeheimnis - der Schlüssel zum Keller. Ich geh die alte Steintrreppe herunter, zögere einen Augenblick, doch dann schließe ich auf. Der vertraute Kellergeruch schlägt mir entgegen. Ich leuchte mit der Taschenlampe in den Raum. Der Lichtkegel gleitet über bekannte Gegenstände. In einer Ecke stehen meine alten Spielsachen. Mein Kassettenrekorder, meine Matchbox-Autos, meine Legos, viel mehr hatte ich nicht. Es steht alles komischerweise genau in meiner alten Ecke. Meiner Zuflucht, wenn sie es mal wieder gemacht hat. Mit der fünfschwänzigen Peitsche, einem sehr praktischen Urlaubssouvenir. Stundenlang hab ich in dieser Ecke gehockt, gewinselt und gewartet. Dass der Schmerz nachlässt, dass sie mich wieder hoch ruft.
Ich gehe die Treppe hinauf. Vorsicht, die dritte Stufe! Ich will nicht ausprobieren, ob auch sie noch knarrt. Allzu oft hat sie mich schon verraten, wenn ich mich aus meiner Büßerecke nach oben stehlen wollte. Doch ich bin kein Kind mehr, solch dumme Fehler mach ich nicht mehr. Außerdem kann ich jetzt große Schritte machen und diese Stufe einfach aussparen.
Es ist, als wäre ich nie weg gewesen. Waren es tatsächlich zwanzig Jahre? Wie altmodisch alles wirkt. Oder ist es nur der Schein der Taschenlampe? Die Wohnzimmercouch war damals der allerletzte Schrei. Ich weiß noch, wie wir sie gekauft haben. Es gab lange Diskussionen darüber. Meinem Vater war der Stoff zu gewagt, zu modisch, aber sie hat sich schließlich durchgesetzt. Wenigstens den grottigen Bezug hätten sie mal erneuern können, aber wie sagte der Verkäufer damals? Das ist Spitzenware, daran haben Sie bis ins hohe Alter noch Freude. Na schönen Dank auch. Darin hat er also die letzten Jahre sitzen müssen. Abend für Abend. Selbst Schuld, kann ich da nur sagen. Alter Schlappschwanz.
Aber jetzt hoch, an die Arbeit. Ich bin nicht hier, um in Erinnerungen zu schwelgen. Ganz im Gegenteil. Ich will sie endlich auslöschen. All das, was mich Nacht für Nacht immer wieder einholt, egal wie weit ich mich auch entferne. Ich habe versucht, nicht mehr dran zu denken. Ich hab auf die Zeit vertraut, die alle Wunden heilen soll. Doch bei mir hat sie versagt. Schlimmer noch - je älter ich wurde, desto mehr Wunden kamen zum Vorschein. Und der Mensch, der mir das alles angetan hat, lebte sein Leben weiter, sich keiner Schuld bewusst, verbohrt und mit sich im Reinen.
Ihre Schlafzimmertür steht offen. Ich höre sie atmen, ruhig und friedlich. Sie ist ahnungslos, sie wird nicht wissen, warum, und ich werde es ihr auch nicht erklären. Nicht noch einmal, ich hab es oft genug versucht. Es erreicht sie nicht. Ich werde es jetzt einfach tun, denn das bin ich mir schuldig. Ich muss mich befreien, versuchen, meine Geister los zu werden. Auch wenn sie mich danach noch schlimmer quälen werden. Es ist ein Versuch, mein letzter, ich weiß keinen anderen Weg.
Ich schalte das Zimmerlicht an, sehe ihren Kopf auf dem Kissen. Das Bett neben ihr ist leer. Er schläft schon seit Jahren in meinem alten Zimmer, das weiß ich. Sie hat noch immer kein graues Haar, obwohl sie fast sechzig ist. Eitel bis ins Alter. So wie ihre Haare, hat sie ihr ganzes Leben schön gefärbt. "Was hat der Junge nur? Ich war immer eine gute Mutter, nicht wahr Erwin, das war ich doch?"
Ein Scheißdreck warst du, alte Schlange.
Für den Schalldämpfer hab ich noch mal zweihundert Euro extra zahlen müssen. Erst wollte ich nicht, doch jetzt bin ich froh, dass ich ihn habe. Das Licht hat sie aufgeweckt. Sie bewegt sich und hebt eine Hand, um sich die Augen zu reiben. Jetzt muss es schnell gehen. Ich will keine lange Diskussion, kein Pathos, kein letztes Wort. Es soll schnell gehen. Aus der Bettdecke stieben die Federn, der Rückschlag der Waffe ist heftig, aber man hört fast nichts. Ich feuer fünf Mal auf den Oberkörper und lösche dann das Licht.
Ich spüre nichts, keine Befriedigung, keine Angst keine Verzweiflung. Ich bin leer, eine menschliche Maschine, die ihren Job erledigt hat. Auf der Treppe nach unten trete ich auf die knarrende, dritte Stufe. Sie ächzt noch lauter als früher, vielleicht weil ich jetzt schwerer bin als damals. Und wie immer bleibt auch jetzt dieses Geräusch nicht unbemerkt. Die Tür meines alten Zimmers öffnet sich und ein schwaches Licht dringt heraus.
"Junge, bist du es?" Die Stimme meines Vater dringt schwach und verängstigt aus dem Raum. Er bleibt hinter der Tür, zeigt sich nicht. Ganz schön mutig der alte Herr, geht mir durch den Kopf, es könnte ja auch jemand anderes sein. "Ja ich bin es," sage ich leise. Sein Gesicht erscheint im Türrahmen. Zerknittert, die Augen noch schlaftrunken, die Haare wirr. "Hast du es getan?" fragt er. "Ja, hab ich", antworte ich leise.
"Gut" sagt er und schließt die Tür.