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Stirnstriche
„Abendbrot“, ruft Mama von unten, aber meinem Legoflugzeug fehlt noch die überlebenswichtige gelbe Bombenabschussvorrichtung. Die anderen Kampfbomber sind schließlich schon einsatzbereit auf meinem Teppich aufgereiht und ohne diese wird der Flieger keine Schlacht mit ihnen überstehen. Schnell suchen meine Finger in dem großen Legosteinhaufen nach den richtigen Teilen, inzwischen tue ich eben so, als wäre ich taub.
Sie muss mich ja auch immer gerade dann rufen, wenn ich überhaupt nicht kann. 'Alexander, komm essen! Alexander, mach jetzt Deine Hausaufgaben! Alexander dies, Alexander das!' Ich bin doch nicht wie mein Roboter, ein Knopfdruck und er tut, was man von ihm will. Jetzt höre ich einfach gar nicht mehr. Die gelbe Düse liegt in meiner Hand, jetzt noch die orangen Rundteile, dann ist die Abschussröhre fertig.
„Alexander, komm jetzt endlich!“, hallt es über die Treppe in mein Zimmer. Ich kann die Runzeln auf Mamas Stirn in den Worten hören und sehe sogar ihr Gesicht vor mir. Manchmal, wenn ich ganz nah an Mamas Gesicht herangehe, kann ich die Striche auf ihrer Stirn sehen, in die dann die Runzeln fallen. Wie die Risse in der ausgetrockneten Lehmkuhle, in der ich immer in Opas Garten spiele, sehen sie aus. Wäre Mama ohne diese Striche geboren worden, wäre sie vielleicht nicht so oft böse auf mich. Wenn ich mal wieder auf der Couch herumspringe, meine Mandarinenschalen auf die Tischdecke lege oder lieber U-Boot spiele, statt mir die Zähne zu putzen. Wütend krame ich in meinem Haufen, mir fehlen immer noch zwei orange Teile.
Wenn ich Mamas Strinstriche mit meinem Laserschwert wegblitzen könnte, dann würde sie vielleicht lächeln. Sie würde die anderen Striche zeigen, die sich neben ihren Mundwinkeln verstecken. Die sind zwar viel kleiner, aber viel stärker und außerdem besitzen sie Zauberkräfte: wenn sie kommen, müssen alle Runzeln verschwinden, dann werden Mamas Augen plötzlich zu blauen Leuchtdüsen, aus denen das Licht strömt, ihre Nasenlöcher werden breiter, wie um mich ganz aufzuriechen, ihre Hände streichen unsichtbar über meinen Kopf und ich fühle mich warm und richtig.
Das Laserschwert wird zwar nicht funktionieren, aber ich habe eine andere Idee. Ich lasse das letzte orange Röhrenteil einfach weg, krame noch schnell in meiner Schultasche nach dem Sonnenbild, das ich heute gemalt habe und stürme die Treppe herunter.