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Straßenbahn ans Ende der Welt

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22.03.2001
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Straßenbahn ans Ende der Welt

Als ich um die Ecke ging, war vor mir wieder ein Gang, der scheinbar einige hundert Meter lang war. Während auf der rechten Seite eine Reihe von Türen waren, neben denen Ziffern aus Kunststoff an der Wand befestigt waren, erstreckte sich links eine Reihe von Schiebefenstern, die wohl aus natureloxiertem Aluminium bestanden. Man sah auf eine Art Innenhof, der wohl ein mit Kies bedecktes Flachdach war - vor Allem aber auf Hauswände, die sich irgendwo im Nebel und zwischen den Wolken verloren. Nur wenige der Fenster waren beleuchtet.

Vielleicht hätte ich doch wieder ins Erdgeschoß gehen und noch einmal die Orientierungstafel studieren sollen. Dort waren doch auch ein paar Leute, und ein Portier - oder nicht? Vielleicht war ich ja auch viel zu früh dran, oder viel zu spät. Wie spät war es eigentlich?

Ich hatte erst einmal gar nicht probiert, eine der Türen zu öffnen, weil sie wahrscheinlich sowieso verschlossen waren. Auch bemerkte ich, dass die Ziffern anscheinend nicht auf das Stockwerk hindeuteten - in vielen Gebäuden sind ja die Räume im vierten Stockwerk mit 401, 402 und so weiter beschriftet, sondern fast immer irgendwelche langen Zahlenreihen waren.

Neben einem verschlossen Raum zweigte ein kurzer, nur wenige Meter langer Gang ab, an dessen Ende sich die metallisch glänzenden Türen eines Aufzugs befanden. Mir war ja immer noch nicht ganz klar, was ich hier machte. Ich war doch schon längst mit der Schule fertig geworden, vor über einem Jahrzehnt. Seither mussten auch einige Dinge umgebaut worden sein. Trotzdem war ich nervös, weil ich schon längst in meiner Klasse sein sollte. Vielleicht sollte ich erst einmal in die gehen, die ich zuletzt besucht hatte?

Während ich überlegte, was genau ich auf der Bedienungstafel eingeben sollte, war auf einmal ein Geräusch zu hören, das langsam immer lauter wurde. Rasch wurde mir klar, dass ich soeben aufgewacht war.

Ich gähnte und streckte mich, während ich durch das Fenster die morgendlichen Sonnenstrahlen sah.

"Aus!", schrie ich und drückte auf die Taste, welche den Ton beendete. "9 Uhr Kurs" stand in der Anzeige.

***

Ein Zug der Straßenbahnlinie 49 fuhr in die Station, wenige Leute stiegen aus und viele ein. Ich hatte etwas zu wenig Schlaf gehabt, aber ich würde wohl mehr als rechtzeitig dort sein. Ich entwertete meinen Fahrschein, hielt mich an der Griffstange fest und beobachtete etwas das Treiben auf der Straße. An der nächsten Haltestelle wiederholte sich dieser Fahrgastwechsel, so dass jetzt kaum noch Platz war.

Da ich für ein paar Momente geistig abwesend war, bemerkte ich erst jetzt so wirklich, dass die Straßenbahn nun fast leer war. Bei der Umsteigehaltestelle zur U-Bahn stiegen ja immer sehr viele aus, zumindest fast immer, wenn ich hier fahre. Für mich zahlte es sich kaum bis gar nicht aus, da es einfacher war, noch ein paar Haltestellen weiter bis zu meinem Kursinstitut zu fahren.

Plötzlich bog der Zug jedoch über ein Verbindungsgleis, dessen Weiche der Fahrer wohl gerade umgestellt haben musste, auf eine andere Strecke ab. Das musste die Linie 10 sein, über welche die Straßenbahn möglicherweise in die Remise eingezogen wurde. War da nicht auch gerade eben eine Durchsage? Als ich kurz nach hinten sah, sah ich auf den Sitzreihen bei der mittleren Tür noch ein paar Leute sitzen. Jemand las eine Zeitung, jemand telefonierte und jemand sah etwas gelangweilt aus dem Fenster. Es würde also schon seine Richtigkeit haben, und auf dieser Strecke würde ich auch irgendwie und gerade noch rechtzeitig ans Ziel kommen. So stand ich also dann doch nicht auf, um rasch den Druckknopf neben der Tür zu drücken.

Bei der nächsten Haltestelle wurde der Zug nur kurz langsamer, um dann gleich wieder zu beschleunigen und weiter zu fahren. Wahrscheinlich wollte niemand ein- oder aussteigen. Nach einer Fahrt durch fast menschenleere Straßen und dem Überqueren einer Kreuzung bog der Zug über ein abzweigendes Gleis noch einmal in eine Seitengasse ein. Sie wirkte fast eher wie eine Grundstückseinfahrt, die auf einer Seite von einem Holzzaun, auf der anderen von einem typisch vorstädtischen, wohl um 1960 gebauten Wohnhaus begrenzt war. Der Gehsteig verlor sich bald zwischen Sand und Schotter und ein paar Disteln und kleinen Bäumchen, die hier wild wuchsen.

Der Mann blätterte noch immer in seiner Zeitung, die Frau las wohl noch ein paar SMS-Nachrichten, während der dritte Fahrgast, den ich noch in diesem Waggon sehen konnte, mittlerweile aufgestanden war und abwechselnd auf beiden Seiten durch die Fenster schaute.

An der nächsten Haltestelle, wo es außer einigen parkenden Autos, etwas abgewohnten Häusern, einem unscheinbaren Geschäftseingang und diesem unbebauten Grundstück auf der anderen Seite nicht viel zu sehen gab, stiegen schließlich alle drei aus. Es gab keine Ansage, wahrscheinlich funktioniert die nicht, wenn ein Zug außerplanmäßig eingezogen wird. Ich wurde etwas nervös, weil ich mich in dieser Gegend momentan nicht auskannte - in der Nähe des Betriebsbahnhofes, von wo aus ich dann weiter wusste, waren wir jedenfalls noch nicht.

Es ging weiter durch diese Straße mit etwa fünfstöckigen Wohnhäusern. Bei manchen sah die Fassade modern aus, deshalb war wohl kein Straßenname zu lesen, weil das Schild nach der Renovierung nicht mehr montiert worden war, bei manchen schmutzig grau und hässlich. Zusammen mit dem heutigen grauen Himmel und dem leichten Nebel, der sich noch nicht ganz gelichtet hatte, bildete alles eine Einheit.

Die Straßenbahn fuhr weiter und hatte mittlerweile eine Kleingartenanlage und ein paar freistehende zweistöckige Häuser passiert, während sich auf der anderen Seite ein Feld auftat. Hinter einer kleinen Baumreihe an dessen anderem Ende konnte man eine Industrieanlage erahnen. Noch eine Haltestelle tauchte auf, die aus einer Art Bahnsteig aus rissigem Asphalt bestand, welcher von üppigem Hagebutten- und Brombeerstrauchgebüsch umgeben war. Ein schmaler Fußweg am vorderen Ende führte irgendwohin. Der Zug wurde langsamer und schien für eine Sekunde fast anzuhalten, beschleunigte aber gleich wieder mit einem leichten Ruck.

Ich beschloss, an der nächsten Haltestelle auszusteigen, wo auch immer ich jetzt genau war. Ich drückte den Druckknopf, drückte ihn fest und mehrmals, so wie bei diesen Fußgängerampeln, obwohl man ja weiß, dass es dadurch auch nicht schneller geht. Eine Station sah ich erst einmal nicht.

Die Schienen führten weiter, zuerst durch einen leichten Einschnitt im Gelände, dann über einen Bahndamm. Es ging auch ziemlich flott dahin, so dass mich das, obwohl es eben vereinzelt solche Strecken gibt, an eine Fahrt mit dem Regionalzug erinnerte. Wie schnell kann so eine Straßenbahn eigentlich fahren? 70 km/h, 80, 90?

Während durch die linke Fensterreihe noch das Industriegebäude und ein paar Häuser zu erkennen waren, näherten wir uns einem Waldstück. Bald kreuzte ein unbefestigter Waldweg die Strecke, der noch vom letzten Regen stellenweise etwas unter Wasser stand. Rechts neben der Strecke tat sich ein kleiner See auf. Längst war ich aufgestanden und hatte in alle Richtungen durch die Fenster geschaut. Ich hätte doch aussteigen sollen, spätestens, wo die drei anderen ausgestiegen sind. Oder ich hätte nach vorne in den Triebwagen gehen sollen und fragen.

Der Straßenbahnzug wurde wieder etwas langsamer. Der Wald lichtete sich etwas, während sich entlang einer kleinen Straße, über welche die Strecke jetzt führte, einige Häuser aufreihten, fast eher Hütten.

Noch langsamer.

Er hielt an.

Er fuhr nicht weiter. Die Tür, bei der ich den Knopf gedrückt hatte, faltete sich an ihren Gelenken zusammen und öffnete sich. Ich zögerte kurz, doch dann, ich war gerade in der Mitte zwischen einem anderen Ausgang und dieser Tür, stieg ich aus. Fast hätte sie sich wieder geschlossen, doch der Lichtschranken ließ sie wieder aufgehen.

Die Haltestelle war, so wie alle anderen, zwar mit "Straßenbahn Haltestelle" beschildert, aber es war kein Name der Station zu lesen und es gab auch keinen Fahrplan. Es sah so aus, als ob es das alles hier irgendwann einmal gegeben hätte, aber es war schwer zu sagen, ob es erst seit kurzer Zeit oder schon seit Jahren fehlte. Die Gleise führten noch ein kurzes Stück weiter geradeaus und machten dann einen Schwenk nach links, wo sie dann im Gebüsch verschwanden. Es könnte eine Umkehrschleife sein, aber welche? Es war etwas kalt, aber erträglich, und der Himmel war immer noch grau.

Außer mir war scheinbar niemand ausgestiegen. Die rot-weiß lackierte Straßenbahn stand einige Meter neben mir und schien mit der Abfahrt noch etwas zu warten. Ich zögerte noch etwas, ging dann schließlich doch auf den vorderen Waggon zu - doch als ich den Türtaster drücken wollte, erlosch gerade das Licht und der Zug fuhr los. Leicht quietschend bewältigte er die Linkskurve, bis nur noch das Rot zwischen den Ästen und Nadelbäumen hervor blitzte. Jetzt gab es niemand mehr, den ich hätte nach dem Weg fragen können.

Mit einer leichten Anspannung in der Magengegend ging ich schnellen Schrittes weiter geradeaus die Straße entlang, die sich nach einer Kreuzung mit einem anderen, vielleicht 3 Meter breiten, erdigen Weg nun ohne Straßenbahnschienen fortsetzte. Sollte ich vielleicht versuchen, jemand in einem der paar kleinen Häuser zu fragen, statt einfach hier weiter zu gehen? Sie sahen aber ohnehin eher verlassen aus. Die Straße wurde zu einer Sackgasse, die Fahrbahn hörte als rissiger, mit Moos und Löwenzahn bewachsener Asphalt auf und es blieb nur noch der schmalen Gehsteig. Doch zwischen dem niedrigen Bewuchs in der gedachten Fortsetzung der Fahrbahn, vielleicht war es auch einmal eine gewesen, schien ein Stück Metall zu liegen, und parallel dazu noch eines.

Zuvor nur durch einen Baum und dichtes Buschwerk zu erahnen, stand ein Zug auf den Schmalspurgleisen. Eine kleine Lokomotive war an zwei kleine Waggons angekoppelt, die zwar recht gemütlich wirkende Sitzgelegenheiten boten, aber durch die teilweise offene Seitenverkleidung wohl nur notdürftigen Schutz bieten würden, wenn es regnete oder kalt war. Der Zug hatte sich seiner Umgebung angepasst und war sehr leise, es war auch nicht zu erkennen womit er eigentlich fuhr, vielleicht ja mittels durch die Schienen geleiteten Strom, aber man konnte ihm ansehen, dass er jeden Moment abfahren würde.

Als ich vorne bei der Lokomotive jemand von einer Sitzbank aufstehen sah, die etwas zurück versetzt zwischen den Bäumen des Waldes stand, lief ich zu ihm nach vorn. Ich musste weiter, das wusste ich, und außer diesem Gefährt hier schien es keine Möglichkeit dazu zu geben. Auf dem Dach dieses Fahrzeuges glaubte ich eine schwarze Liniensignalscheibe wie vorhin bei der Straßenbahn zu sehen, aber ich hatte erst einmal keine Zeit, noch einmal nachzusehen.

"Kann ich mit dem Fahrschein hier weiterfahren?", fragte ich durch das geöffnete Fenster und zeigte dem Lokomotivführer meinen Fahrschein aus der Straßenbahn.
"Heute schon", sagte er sehr knapp, um dann gleich durch eine Art Trichter, was in den angehängten Waggons durch einen Lautsprecher zu hören war, "Einsteigen bitte, Zug fährt ab!" durchzusagen.

Ich lief ebenso schnell wie zuvor zum nächsten Waggon, öffnete die halbhohe Tür, um dann auf einer schmalen Bank Platz zu nehmen. Nach einem Pfeifton setzte sich der Zug in Bewegung. Hatte ich da im hinteren Waggon jemand gesehen? War das wirklich immer noch die Kernzone? Vielleicht ja nur heute, weil es eine Umleitungsfahrt war?

Nach einer leichten Biegung traf der Gehweg auf einen Damm, um dort abrupt an einer leicht von Moos bewachsenen Betonmauer zu enden. Man konnte nicht sehen, ob da oben eine Straße, eine Bahnstrecke, ein Lagerplatz oder was auch immer war. Nur das Bahngleis, es war eine eingleisige Strecke, setzte er sich in einer längeren Unterführung mit glatten Betonwänden fort. Beleuchtung gab es keine, aber es war nicht wirklich dunkel und man konnte am anderen Ende das Tageslicht sehen.

Am Ende des Tunnels führte die Strecke über eine leichte Biegung ein Stück über einen Bahndamm, um dann auf eine Brückenkonstruktion überzugehen. Man konnte nicht genau sehen, ob sie jetzt aus Holz, Metall oder doch aus Beton- oder Steinteilen war. Wir überquerten ein weites Tal, links und rechts der Strecke war weites Grasland mit ein paar vereinzelten Bäumen zu sehen, am Horizont lag auf den Gipfeln der Berge, die unten dicht mit Nadelbäumen bewachsen waren, etwas Schnee. Trotz des bewölkten Wetters und des Windes, der etwas in den halboffenen Waggon eindrang, war mir nicht wirklich kalt.

Als der Zug fast am Ende des Talübergangs war und nun durch eine felsige Landschaft mit ein paar Birken und Föhrenbäumen fuhr, schaute ich auf die Uhrzeitanzeige auf meinem Telefon. Ich hatte noch 12 Minuten Zeit und konnte es immer noch schaffen. Ob ich es mit der Fahrplanauskunft oder sonst was probieren sollte? Aber was sollte ich sagen, wenn ich mir nicht einmal sicher war, auf welcher Linie ich gerade war?

Nach einer Weile ohne Zwischenhaltestelle, es gab aber auch keine Häuser oder irgendwelche Punkte, wo eine sinnvoll gewesen wäre, schienen wir langsamer zu werden.

Noch langsamer.

Wie hielten an.

"Endstation, bitte alle aussteigen", sagte der Fahrer durch den leicht krächzenden Lautsprecher kurz und knapp durch.

Ich öffnete die Tür und trat auf einen Bahnsteig, der aus verwitterten Holzbrettern bestand. Aus dem hinteren Waggon war tatsächlich auch gerade jemand ausgestiegen und ging hastig an mir vorbei.

"Entschuldigen Sie...", wollte ich ihn sofort fragen, bekam aber nur ein "Leider keine Zeit, ich muss weiter" zu hören, ohne dass er stehen geblieben wäre. Zielstrebig ging er über einen erdigen Weg auf ein Gebäude zu, das vielleicht 50 Meter entfernt war.

Weiße Schriftzeichen auf einem roten Querbalken verkündeten offenbar einen Stationsnamen. Die Klebebuchstaben waren aber halb heruntergerissen und verwittert, nur so etwas wie "Ende" war zu lesen. Neben dem Eingang ging es noch ein paar Meter weiter, bis ich vor einem Abgrund stand. Eine Steilküste trennte mich vom Meer oder zumindest einer sehr großen Wasserfläche, die Morgensonne schien wie gemalt zusammen mit ein paar Wolken am Himmel fest zu hängen, und der Horizont kam mir vor, als ob er in ein paar Kilometern von hier da draußen tatsächlich mit der Wasserfläche zusammenstoßen würde.

Neben dem Eingang war ein Übersichtsplan über die U- und S-Bahn-Linien aufgehängt. Am Ende des Ganges, neben den Fahrkartenautomaten in der Wand, fragte ich einmal beim besetzten Vorverkaufsschalter nach.

"Sie wollen weiter? Da hätten Sie aber heute aussteigen und mit dem nächsten Zug geradeaus weiterfahren müssen, wie es durchgesagt worden ist. Aber wenn Sie dann mit der Linie 50 gefahren sind, können Sie mit der U-Bahn weiterfahren."

Ich bedankte mich kurz für die Auskunft und warf einen Blick zurück. "50" konnte ich auf der Signalscheibe des gerade abfahrenden Zuges lesen, die weiße Beschilderung darunter bewegte sich allerdings gerade um die Ecke.

Dem links im rechten Winkel anschließenden, mit Beton, weißen gelochten Metallpaneelen und Marmorplatten ausgestalteten Gang folgend, sah ich vor dem Abgang zum Bahnsteig einen auf zwei dünnen Ketten montierten Wegweiser von der Decke hängen. "Bildungsinstitut".

Nachdem ich noch ein paar wenige Minuten Zeit hatte, machte ich mit dem rechten Fuß eine Drehung und eilte den abzweigenden Gang weiter. Er mündete im Eingangsbereich eines Gebäudes, das etwas an eine Markthalle oder an ein Einkaufszentrum in Plattenbauweise erinnerte.

Ein paar Leute saßen auf den Bänken am Rand neben den Topfpflanzen, andere gingen kreuz und quer durch die Halle oder studierten die Aushänge.

"Entschuldigen Sie", fragte ich spontan den Herren in dem Bereich, der einer Hotel-Rezeption ähnelte, "wo..."
"Fahren Sie mit dem Aufzug in den 5. Stock, da sollte dann ein Aushang über die neuen Kurse sein."

Ich wollte schon "aber...?" sagen, sagte dann aber lieber doch nur kurz "danke", ging weg und sah mich kurz um. Gerade öffneten sich die Türen des Aufzugs, und ich stieg ein und drückte auf die Taste "5". Wir hielten noch kurz im 3. Stock an, bis ich schließlich im fünften ausstieg.

Ich warf einen Blick auf die Uhrzeit-Anzeige meines Handys, welche gerade auf 8 Uhr 59 gesprungen war, und suchte vergeblich nach einem Aushang, wo etwas über meinen Kurs stehen könnte. Eine Frau mit einer Mappe unter dem Arm schritt gerade den Gang entlang, ich fragte sie, weil ich mich weder mit den Raumnummern zurechtfand, noch irgendwo stand, in welchen Raum ich musste."

"Ach ja", kannte sie meinen Kurs sofort, "das ist auf Zimmer 23223."
"Und was bedeuten die Raumnummern überhaupt?"
"Das hat sich der Institutsleiter so ausgedacht, und außerdem soll es Einbrecher verwirren. Also ich helfe Ihnen, die ersten beiden Ziffern haben immer eine besondere Bedeutung, und die dritte auch. Ich muss dann weiter", sagte sie noch und verschwand.

Wieder mit diesem Gefühl in der Magengegend und einer gewissen Ahnung, ging ich über das Treppenhaus, welches mir gerade neben dem Aufzug aufgefallen war, in das Stockwerk darunter. Die erstbeste Raumnummer, die ich sehen konnte, war 31204.

Ich zappelte etwas mit den Fingern, verzerrte mein Gesicht, überlegte - bis es klar war. 3 plus 1 ist 4, vierter Stock - ich lief die Treppe wieder nach oben - genau, 2 plus 3 ist 5, fünfter Stock, und 200 war wahrscheinlich immer gleich. Vor mir 23211, daneben 23212, in der Mitte durch eine Fensterfront getrennt ein Innenhof, also in der Richtung weiter.

Die besagte Tür stand offen, und drinnen gab es drei ungefähr zur Hälfte gefüllte Sitzreihen. Die Kursleiterin bemerkte mich, ich erwiderte es mit "Guten Morgen!", und nachdem noch jemand bei der Tür hereingehuscht war, meinte sie dann, dass wir dann jetzt komplett wären und anfangen könnten.

***

Nach dem Kurs, es war am frühen Nachmittag, wollte ich mir noch ein bisschen dieses Gebäude anschauen. Etwas schwierig war es schon, sich hier zurecht zu finden. Was machten die hier nur bei einem Feueralarm? Um die Ecke gegangen, lag vor mir wieder ein Gang, der scheinbar einige hundert Meter lang war. Auf der rechten Seite gab es eine Reihe von Türen, während sich links eine Reihe von Schiebefenstern erstreckte. Draußen konnte man in einen Innenhof sehen, an deren gegenüberliegender Seite sich eine schier endlos hoch wirkende Häuserwand erstreckte.

Wo war eigentlich die Treppe, die in den vierten Stock und weiter hinunter führte? Ich ging erst einmal den Gang entlang und entdeckte einen weiteren Aufzug.

"E, EG, P, 0" und noch ein paar andere Zahlen und Beschriftungen standen auf der Bedientafel im Inneren, nachdem sich nach einem Druck auf die Taste mit "Ab" die Türen geöffnet hatten. Vielleicht war ja EG ein Zwischengeschoß, E das wirkliche Erdgeschoß und P ein Hochparterre? Und was ist dann Null, der Keller?

Hmm, also Experimentell, Erdgeschoß, Pince, was im Ungarischen Keller bedeutet, und Null ist nichts. Ich probierte es mit EG, woraufhin sich die Liftkabine Momente später in Bewegung setzte. Als sich die Türen leicht quietschend wieder öffneten, stand ich wieder in der Halle. Ich sah mich etwas um und ging dann wieder zu dem Gang, über den ich gekommen war. Ich würde am besten so wieder zurückfahren, zwar hatten die paar Straßenbahnstationen auf dem Plan recht einfach ausgesehen, aber hier war es wohl doch einfacher.

Es gab ein paar U-Bahn-Stationen, in denen nicht viel los war, aber in dieser war ich sicher noch nie gewesen. Der Beschriftung nach stimmte die Richtung jedenfalls, wenn ich über diesen Abgang weiterging. Ich schob den Fahrschein, den ich noch hatte, in den Entwerter und ging weiter.

"Die Fahrausweise bitte", sagte ein Mann, der zwei Meter nach dem Durchgang mit den Entwertern an einem Geländer am Rand lehnte. Ich zeigte ihm meinen gerade entwerteten Fahrschein, den ich eigentlich gerade in meiner Hosentasche verstauen wollte.

"Danke, aber der gilt hier nur, wenn Sie mindestens drei Stichwörter wissen."
"Was für Stichwörter?", fragte ich verwundert nach.
"Na Sie sollten ja jetzt gebildet sein, da werden Sie ja sicher die Stichwörter wissen."

Mich fragend, was das sein sollte, freundete ich mich schon mit dem Gedanken an, es doch wieder mit dieser Linie 50 zu versuchen, wenn sie noch fuhr, oder nach einem Ausgang zu der Straßenbahn-Haltestelle zu suchen, über die ich eigentlich hier her fahren wollte.

Ich klammerte mich an das Geländer mit dem Entwerter und überlegte etwas.

"Messer, Spitze, Nadel?", sagte ich etwas unsicher.
"Bitte, Ihr Fahrschein", sagte der Kontrolleur und gab mir diesen zurück.

"Danke!", antworte ich zufrieden und folgte der nach unten führenden Treppe.

 

Hallo madmaxx!

Mit diesem Text hast du in mir als Leser einen Verwandten im Geiste gefunden. Ich überlege mir auch oft, wo manche (Wiener) Straßenbahnlinien eigentlich ihre Endstation haben bzw. bin ich schon ein oder zwei Mal versehentlich irgendo am Stadtrand gelandet, weil ich in die falsche Straßenbahn eingestiegen bin.

Erst einmal der Kleinkram:

Ich hatte doch schon alle Schulklassen abgeschlossen, und das vor über einem Jahrzehnt.

Reines Stilempfinden:
Ich war doch schon vor einem Jahrzehnt mit der Schule fertig geworden.

Seither mussten auch einiges Dinge umgebaut worden sein.

einige

Da ich eine Weile etwas geistig abwesend war, …

Wieder Stilempfinden:
eine Weile geistesabwesend war

Ich wurde etwas nervös, weil ich mich in dieser Gegend momentan nicht aus kannte

auskannte

Es sah so aus, als ob es das alles hier irgendwann einmal gegeben hat, aber es war schwer zu sagen, ob es erst seit kurzer Zeit oder schon seit Jahren fehlt.

Zeitensprung

Mit einer leichten Anspannung in der Magengegend ging ich schnellen Schrittes weiter geradeaus die Straße entlang, die nach einer Kreuzung mit einem weiteren, vielleicht 3 Meter breiten, erdigen Weg nun ohne Straßenbahnschienen weiterging. Sollte ich vielleicht versuchen, jemand in einem der paar kleinen Häuser zu fragen, statt einfach weiter zu gehen?

ging … weiter – weiterging – weiter gehen

Ganz allgemein sind mir sehr viele Wortwiederholungen im Text aufgefallen.

Mein Kommentar zur Geschichte selbst:

Hinsichtlich der Länge des Textes muss ich ganz ehrlich sagen, dass er eigentlich seltsamer hätte sein müssen - soll heißen, ich hätte mir mehr Skurriles erwartet als ein paar gesichtslose Mitfahrer und Bahnschaffner. Mehr "Stichwörter"-Szenen tun dem Unterhaltungswert sicher gut. Es passiert lange Zeit wenig bis gar nichts. Das einzige, was den Leser oder die Leserin bei der Stange hält, ist die Frage, wo dein Erzähler-Ich letztlich landen wird. Die meisten werden bis dahin aber schon ausgestiegen sein. (Sorry, aber die Anspielung musste sein.)

grüße,
Markus

 

Hallo Markus,

seit ich irgendwann vor Jahren einmal einen Artikel über das Liniensystem der Wiener Straßenbahn gelesen habe, habe ich mich etwas dafür interessiert. Die Grundidee war zum Teil durch eine Reportage über einen sehr entlegenen Ort in Russland inspiriert, die ich einmal gesehen habe - da ist auf dem letzten Stück nur noch irgendeine Schmalspurbahn gefahren, die aber auch nicht immer funktioniert. Die U-Bahn-Station am Ende der Welt ist eher ein Insiderwitz ;-)

Ich wollte eigentlich noch einen Wechsel zu einem weiteren, noch seltsameren und noch einfacher gehaltenen Fortbewegungsmittel einbauen, von der Länge her war ich dann aber gerade zufrieden. Die Traumszene am Anfang ist an eine tatsächliche, bei mir öfters wiederkehrende angelehnt, da habe ich mir auch überlegt, sie wegzulassen und vielleicht für eine andere Geschichte zu verwenden.

"Immer weiter..." ist eher beabsichtigt (er muss immer weiter und hat zumindest so eine Ahnung, doch richtig zu sein), aber danke für die Hinweise, an sich achte ich auf Wortwiederholungen, nicht angebrachte Wechsel der Zeitform usw.

Schöne Grüße - Markus

 

Hi madmaxx,

Eine recht spannende Geschichte, find ich. Mag allgemein Stories, die den Protagonisten hinter eine Grenze führen und eventuell wieder zurück, meine erstveröffentlichte war auch so eine.

Das Problem solcher Geschichten, bzw. dieser deiner wie der meinen: Sie sind, vor allem weil Antagonisten fehlen, etwas sehr ichbezogen, will sagen das Fürwort "ich" und seine Formen treten sehr oft auf und das nervt irgendwann. Tipp: In den Challenges gibt es einen namens "Bewusstseinsstrom", schau da mal nach Inspiration, wie du den Leser die Geschichte quasi direkter erleben lassen kannst.
Es wird viel erzählt und beschrieben. Das ist der Spannung abträglich. Auch hatte ich stellenweise das Gefühl, dass du den Protagonist künstlich dumm stellst, wo mir als Leser alles klar ist. Das wirkt unprofessionell, und der Protagist teinahmslos, da er seine Situation, wo überhaupt, nur lax (faul) reflektiert. Man kann natürlich darüber streiten, ob jemand, der sowas erlebt, so gar nicht erkennen wollen kann, dass etwas nicht stimmt und stattdessen tut, als wär alles komisch aber schon irgendwie normal. Tipp: Mehr Gefühl in sein Erleben bringen.


-- floritiv.

 

Es war jedenfalls ein Versuch von mir, einmal etwas Seltsames bzw. Surrealistisches ohne sonstige Elemente zu schreiben - die "künstliche Dummeheit" bzw. das Hinnehmen von seltsamen Situationen ist dann eben ein Stilmittel. Leider gibt auch meine Grundidee für die Geschichte (die für meine Verhältnisse bzw. Vorstellungen eher kurz ist) nicht viel mehr her, aber ich wollte eher ohne so etwas wie ein "Portal in eine andere Welt" auskommen. Wahrscheinlich könnte ich mit ein paar Kürzungen auch was verbessern - mir ist im Nachhinein betrachtet schon klar, dass auf der Reise einfach zu wenig passiert bzw. die Beschreibungen doch etwas zu ausführlich geraten sind.

Aber jedenfalls danke für die Hinweise - bei "Bewusstseinsstrom" wird ja auch diskutiert, ob die Ich-Form jetzt angemessen ist oder nicht - ich verwende jedenfalls je nach Geschichte bzw. wie sehr autobiografisch angehaucht sie ist einmal die, einmal die Perspektive.

Schöne Grüße - Markus

 

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