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- 30.06.2004
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Strandgut
Für Axel
Das Wasser ist so grau wie die Wolken. Windböen wehen Schaumflocken zwischen die vereinzelten Möwen. Deren heiseren Schreie gehen beinahe im Rauschen unter.
Sie lässt die Dünen hinter sich, läuft barfuß über den flach abfallenden Strand, hinaus in das Watt. Schlick kriecht zwischen ihre Zehen, bedeckt ihre Füße mit einer graubraunen Schicht, hält bei jedem Schritt ihren Fuß eine Sekunde länger zurück, als sie es möchte. Zwei Strandläufer flüchten, als sie sich ihnen nähert, ein Taschenkrebs schiebt sich schwerfällig zur Seite.
Sie lässt sich auf die Knie fallen, Schlamm und Salzwasser spritzen hoch, übersäen ihre Haut mit Sprenkeln. Sie fährt mit der Zunge über ihre Lippen, schmeckt das Meer und den Wind, breitet die Arme aus, um die Böen einzufangen. Die Morgenkälte stellt die Härchen auf ihrer Haut auf.
Die Flut hatte sie an Land gespült wie ein Stück Treibgut. Zwischen Algen und Coladosen, verheddert in den Überresten eines Fischernetzes, Blasentang auf ihrer Haut und Sand in ihren Haaren lag sie da. Das Meer schwappte um ihre Füße und eine freche Möwe pickte an ihrem Handgelenk herum.
Warum, dachte sie, warum ich?
Sie überlegte, ob sie einfach liegen bleiben sollte und warten, bis entweder etwas passierte, oder sie sterben würde. Das Rauschen der Wellen lullte sie ein, machte ihre Gedanken träge und die Augen schwer. Das Meer sang für sie, wie es das schon immer getan hatte. Die See, ihre einzige verbliebene Freundin.
Eine große Welle überspülte sie, drückte ihr Gesicht in den Sand und zog sich wieder zurück. Als sie wieder aufblickte, sah sie, dass das Wasser ein Stück weiter vorne etwas abgelegt hatte. Einen unförmigen graubraunen Klumpen, der nach nassem Pelz roch. Sie seufzte. Ein Zeichen. Das Meer wollte sie nicht sterben lassen.
Mühselig stemmte sie sich hoch, befreite sich von dem grünen Kunststoffgeflecht und kam schließlich auf die Füße. Mit einem empörten Schrei flog die Möwe auf und setzte sich einige Schritte entfernt wieder auf den Strand, einen vorwurfsvollen Blick in ihren hellen Augen.
Ihre Beine fühlten sich müde an, als sie zu dem Bündel hinüberging und es hochhob. Es hatte sich mit Wasser vollgesogen und erschien ihr unglaublich schwer. Gleichzeitig spürte sie die beruhigende Vertrautheit, die es ausstrahlte, als sie ihr Gesicht darin vergrub. Salz, Wasser, Wind, Freiheit. Sie schloss die Augen und gestattete es, dass sich warme Tränen mit dem kalten Meerwasser in dem Fell mischten. Der Strand, der Dreck, die Einsamkeit verschwanden für einen kostbaren Moment, bis sie das Gesicht wieder aus dem Pelz hob und sich die Tränen abwischte. Genug getrauert. Sie sollte mit ihrer Suche fortfahren.
Sie ließ ihren Blick über den Strand schweifen, suchte nach einem geeigneten Ort für den Pelz. Einige große Felsen nahe den Dünen fielen ihr ins Auge. Sie schleppte das Fell hinüber, suchte zwischen den rauen Steinen nach einer Lücke, die groß genug war, das Bündel aufzunehmen. Schließlich fand sie eine, zwischen Möwendreck und vertrocknetem Tang, eine schmale Spalte, die sich nach hinten erweiterte, etwa auf Augenhöhe. Mit der ganzen Kraft, die sie noch aufbringen konnte, zwängte sie das Fell in die Spalte, drückte so lange dagegen, bis es nach hinten rutschte und aus ihrem Blickfeld verschwand. Flüchtig fragte sie sich, ob sie es dort jemals wieder herausbekommen würde, doch sie wischte den Gedanken beiseite. Selbst wenn, was macht es schon aus?
Wieder sah sie sich um. Suchte nach einem Zeichen, einem Wegweiser, etwas, das ihr sagte, wo sie als nächstes suchen sollte. Etwas weiter hinten in den Dünen gleißte ein Licht auf, bildete einen glühenden Finger, der träge durch die anbrechenden Dämmerung wanderte. Ist das mein Zeichen? Sie wusste es nicht.
Sie seufzte. Immer suchte sie nach Symbolen, Signalen, Dingen, die ihr sagten, was sie tun sollte. Dann lag die Schuld nicht bei ihr, wenn etwas schief ging. Tatsächlich war sie sich nicht sicher, ob sie jemals wirklich ein Zeichen erhalten hatte. Vielleicht redete das Schicksal gar nicht mit ihr. Vielleicht gab es auch gar kein Schicksal.
Sie schüttelte den Kopf. Unsinnige Gedanken! Dann machte sie sich auf dem Weg zu dem Lichtfinger. Hartes Dünengras stach in ihre Fußsohlen, dann erreichte sie einen Bohlenweg, der sich zwischen den Hügeln dahinschlängelte, geradewegs auf das Licht zu. Die Bretter waren abgenutzt, glattgeschliffen von Sand und Wind. Es fühlte sich an, als liefe sie über Samt.
Am Fuß eines Turms blieb sie stehen, legte den Kopf in den Nacken und sah zu dem Lichtfinger hinauf, der um die Turmspitze kreiste. Sie konnte sich erinnern, dass es früher richtige Feuer auf diesen Türmen gegeben hatte, später dann Petroleumlampen oder Gaslichter. Sie wusste nur nicht, ob das vielleicht in früheren Leben gewesen war, es kam ihr so weit entfernt vor. Dieses Licht war kalt und hellweiß und stach in ihren Augen. Dennoch war es ein Wegweiser, ein Ruf, etwas Bekanntes. Sie holte tief Luft und schlug ihre Hand gegen die Metalltür in der Turmwand. Erst, als ihre Hand zu schmerzen begann, bemerkte sie den Klingelknopf neben der Tür.
Zeit verstrich. Ziellos wanderte das Licht viermal um den Turm. Dann wurde die Tür aufgeschoben. Warme Helligkeit fiel auf den Strandweg und badete ihre Füße. Eine dunkle Silhouette in der hellen Öffnung, groß, etwas hager. Schweigen.
„Hallo?“, die Stimme kratzte in ihrem Hals und schmeckte nach Meerwasser. „Ich ... ich wollte fragen ... nun ja, ich suche einen Platz, wo ich bleiben kann, für ein paar Nächte.“ Es war falsch, das zu sagen, viel zu dreist.
Die Silhouette schwieg lange. Sie konnte die Augen nicht sehen, aber sie wusste, dass sie gemustert wurde, geprüft.
„Du bist nackt“, stellte eine raue Stimme schließlich fest. Eine Männerstimme.
Sie sah an sich herunter und nickte verlegen.
„Was ist passiert?“, wollte die Stimme wissen. „Wer bist du?“
Sie zuckte mit den Schultern. „Nichts. Ich bin einfach nur ... Strandgut. Ich ...“, sie brach ab, wusste nicht mehr weiter. Sie hatte sich keine Geschichte überlegt. Sie hätte sich Worte zurechtlegen sollen, statt über das Schicksal nachzudenken.
„Strandgut“, wiederholte er leise. Dann nickte er. „Komm rein!“ Er wandte sich ab und ließ sich vom Licht verschlucken.
Sie folgte ihm in die Helligkeit und Wärme des Turmes. Ihre nackten Füße klatschten leise auf den Steinstufen der Wendeltreppe, als sie hinter ihm hinauf stieg. „Bist du ... bist du der Leuchtturmwächter?“, fragte sie, als die Stille der Schritte zu drückend wurde. Er schüttelte den Kopf, ohne sich umzusehen.
„Eigentlich nicht. Der Leuchtturm wird normalerweise komplett automatisch betrieben. Ich wohne hier nur. Sie haben oben ein paar Zimmer eingebaut, eigentlich als Ferienwohnung. Aber den meisten Urlaubern sind die Treppen einfach zu hoch. Mir hat die Wohnung gefallen. Da habe ich sie gemietet.“
„Dann bist du hier in Urlaub?“ Sie geriet etwas außer Atem.
Er schüttelte den Kopf. „Nein, nicht direkt.“
Sie erreichten einen Treppenabsatz, von dem eine Tür abging. Der Mann wies mit dem Daumen weiter die Treppe hinauf. „Da gehts zur Lichtanlage.“ Noch während sie die Stufen hinauf blickte, und nach einem Ende suchte, zog er einen Schlüssel aus der Hosentasche und öffnete die Tür. „Komm schon rein!“
Der Wohnraum, den sie betrat, war gemütlich in seiner Kargheit. Er hatte den Grundriss eines Halbkreises mit einer kleinen Aussparung in der Mitte der geraden Seite, wo die Tür von der Wendeltreppe mündete. Eine Front von gardinenlosen Fenstern an der gerundeten Seite brachten den Nachthimmel ganz nahe heran. Außer langen, gefüllten Bücherregalen, einer Matratze auf dem Boden und einem Lehnstuhl vor den Fenstern entbehrte das Zimmer jeglicher Einrichtung. In dem warmen Licht der Deckenlampe konnte sie ihren Gastgeber zum ersten Mal richtig betrachten. Er war nichts Besonderes. Ein Mensch wie andere auch, es fiel ihr immer schwer, sie auseinander zu halten. Mittelgroß, nicht besonders kräftig, dunkle, lange Haare, Dreitagebart, dunkle Kleidung.
„Setz dich!“ Er vermied es, sie anzusehen, als schäme er sich ihrer Nacktheit. Rasch wandte er sich von ihr ab und verschwand durch eine weitere Tür. Folgsam ließ sie sich in dem Sessel nieder und blickte in die Nacht hinaus. Kurz darauf war er wieder da und reichte ihr einen schwarzen Wollpullover. Schweigend streifte sie ihn über. Er war viel zu groß und reichte ihr bis zu den Knien. Sie schlug die Ärmel so weit zurück, bis wenigstens ihre Hände heraus lugten. Sie zog ihre Beine in den Sessel und schlang die Arme darum. Das Kinn auf den Knien betrachtete sie den Mann, der neben ihr stehen geblieben war. Unverwandt blickte er zurück, dann, als wäre es ungewohnt, zeigte sich ein kleines Lächeln auf seinem Gesicht.
„Möchtest du mir deinen Namen nicht sagen?“
Sie zögerte etwas. Suchte in ihrem Gedächtnis nach den Namen, die ihr schon gegeben worden waren. „Malina“, antwortete sie schließlich.
„Leonard“, entgegnete er.
Sie lächelte ebenfalls, auch wenn sie nicht genau wusste, warum. Sie mochte die Wärme, die sich weit hinter seinen Augen verbarg. Minuten vergingen, in denen sie sich nur gegenseitig musterten. Über ihren Köpfen vibrierte die Lichtanlage.
„Was machst du hier?“, fragte er leise.
Ihr Lächeln verging. „Ich suche ... jemanden.“
„Und wen suchst du?“
„Andere.“
„Andere?“
„Leute wie mich. Strandgut.“
Er nickte, auch wenn er es nicht verstanden haben konnte. Wieder schwiegen sie lange. Schließlich wandte Malina ihren Blick ab und starrte wieder hinaus in die Sterne. Suchte nach einem Zeichen, dass ihre Suche nicht vergebens war. Dass es die anderen noch gab, die sie suchte. Wie aus weiter Ferne drangen Leonards Worte zu ihr vor. „Du kannst hierbleiben, wenn du magst. Du musst aber nicht. Ich werde dich nicht festhalten.“ Sie nickte, sah weiter in den Himmel und versuchte, nicht traurig zu werden. Leise Schritte entfernten sich von ihr, kamen dann wieder zurück. Raue Hände legten eine Wolldecke vor ihrem Sessel ab. „Du kannst auf der Matratze schlafen.“ Schweigen. „Gute Nacht.“
Endlich wandte sie wieder den Kopf. Tastete nach dem Lächeln auf ihrem Gesicht. Es fühlte sich fremd an. „Gute Nacht“, erwiderte sie leise, nachdem er den Raum schon verlassen hatte.
Er war nicht da, als sie am nächsten Morgen aufstand. Sie hatte lange geschlafen. Neben ihrer Schlafstätte fand sie ein Holzbrettchen mit belegten Broten und eine Kanne voll Tee, auf dem Sessel einen sorgsam gefalteten Jogginganzug. Sie musste lächeln. Kleidung, für Menschen so wichtig.
Malina schlang das Essen herunter, goss eine Tasse Tee hinterher und zog sich dann an. Der Anzug war etwas groß, aber es würde gehen. In einer Tasche ertastete sie einen Schlüssel. Schuhe gab es nicht, aber sie brauchte auch keine. Sie wollte die Welt unter ihren Sohlen spüren können. Blasses Sonnenlicht sickerte durch die Wolken durchs Fenster hinein und wärmte Malinas Seele. Vielleicht hatte sie das Schicksal doch her geführt. Sie fühlte sich stark genug, um auf die Suche zu gehen.
Sie zog die Tür hinter sich zu und sprang die Stufen hinunter. Als sie ins Freie trat, zauste der Seewind ihre Haare und trug die Ahnung von Salz mit sich. Malina machte sich auf den Weg zum Strand. Sie wollte mit den Seehunden reden.
„Hast du gefunden, was du gesucht hast?“ Leonard hatte Tee gekocht. Er war noch heiß, als hätte er genau gewusst, wann Malina zurückkehren würde. Sie ließ sich neben ihm auf der Matratze nieder und schüttelte nur den Kopf, während er ihr eine Tasse voll dampfender Flüssigkeit goss. Vorsichtig umfasste sie den Becher mit beiden Händen und führte ihn an die Lippen. Die Wärme tat gut.
„Die Seehunde haben nicht mit mir gesprochen.“ Sie wusste nicht, warum sie ihm das erzählte, wahrscheinlich würde er sie jetzt für verrückt halten. Bestenfalls für verträumt. Schließlich sprachen Seehunde normalerweise nie mit Menschen. Sie hatte schon so oft irritierte Blicke geerntet, dass sie es eigentlich besser wissen musste, als den Menschen von ihrer Welt zu erzählen. Und doch konnte sie nicht anders. Immer und immer wieder tat sie es. Es gehörte schon zu ihrer Suche.
Leonard goss eine zweite Tasse voll und nahm ebenfalls einen Schluck. „Nein, hier sind die Seehunde schweigsam. Aber vielleicht hast du morgen mehr Glück.“
„Ja, vielleicht.“ Sie nippte an ihrem Tee und sah zu den Sternen hinaus.
Am nächsten Tag ging sie in das kleine Dorf unweit des Leuchtturms. Wanderte ziellos zwischen Schnellimbissbuden umher, ging in Souvenirläden ein und aus und suchte nach dem alten Zauber, der früher in den kleinen Meereshäfen so präsent gewesen war.
„Wie war dein Tag?“, fragte er und goss ihre Tasse voll. Sie lächelte und zuckte mit den Schultern.
„Es gibt keine Magie mehr im Dorf.“ Es war ihr gleich geworden, ob er sie wirklich verstand, oder nur so tat.
„Schon lange nicht mehr“, antwortete er schlicht. Dann sprang er ungewöhnlich lebhaft auf. „Hast du Lust auf einen Spaziergang?“
Malina überlegte, zögerte, nickte dann. Sie folgte ihm die Stufen hinunter und gemeinsam liefen sie auf den mondlichtsilbernen Strand hinaus. Das Wasser war bereits am Ablaufen und ein heller Streifen aus Muschelschalen markierte seinen Höchststand. Sie schlenderten über die knirschenden Kalkschalen und ab und zu bückte sich einer von ihnen, um ein besonders schönes Exemplar aufzuheben.
Sie erreichten schließlich das Ende des Strandes und blieben stehen, um auf die schwarzweißen Wellen hinasuzusehen. Der Lichtstreifen des Leuchtturms wanderte hinter ihnen durch die Nacht und warf Dünenschatten auf das Wasser.
„Ich kann mich noch an die Seeschlangen erinnern“, sagte sie. „An Meeresdrachen, Wassermänner. Und an Nixen. Sie hatten schöne Stimmen. Aber sie sind schon lange fort. Alle sind fort.“
„Du nicht.“
„Nein, ich nicht.“ Zum ersten Mal war die Trauer, die sie bei diesem Gedanken verspürte, erträglich.
Sie brach auf, als die Sonne aufging, wanderte weit ins Landesinnere, bis sie plötzlich wieder das Meer erreichte und verstand, dass sie sich auf einer Insel befand. Sie folgte den Spuren von gespaltenen Hufen durch die Dünen und fand doch keine Satyre, nur Schafe, die sie nachdenklich musterten. Sie entdeckte ein Kiefernwäldchen und suchte zwischen den Wurzeln nach Gnomen, wo nur Kaninchen waren. Sie harrte lange ein einem kleinen Weiher aus, doch statt Nymphen zeigte sich nur ein einzelnes Reh.
Der Tee schmeckte schal an diesen Abend. Malina konnte die Tränen kaum zurückhalten, und wollte doch nicht, dass Leonard sie weinen sah. Sie stellte sich vor, dass er enttäuscht wäre, wenn sie so schnell aufgäbe.
„Lass uns rausgehen“, gelang es ihr, hervorzustoßen. „Ich brauche etwas Luft.“
„Wir könnten schwimmen gehen.“
Sie schüttelte den Kopf. „Lieber nicht, ich wäre viel zu schnell für dich.“
Das Mondlicht trocknete ihre Augen, und Leonards Gesellschaft ließ sie ihre Suche vergessen. Sie liefen um die Wette, Dünen hinauf und hinunter, bis sie beide außer Atem waren. Auf einem alten flachen Felsen ließen sie sich nieder und betrachteten den Himmel. Er nannte ihr den Namen der Sternbilder und für einige Zeit war ihre Welt wieder zurück bei ihr. Pegasus, Zentaur, Drache, Einhorn und Phönix. Sie wusste, dass man nicht alle dieser Sternbilder sehen konnte, nicht jetzt, und nicht in diesem Teil der Welt. Sie spürte, dass er die Namen nur nannte, damit sie sich besser fühlte, und lächelte in die Dunkelheit. Dort oben wenigstens lebten sie weiter.
Den nächsten Morgen verbrachte sie auf dem Leuchtturm. Sie stieg zur Lichtanlage hinauf und spähte in alle Richtungen hinaus. Sie staunte, wie weit man von dort sehen konnte, über die ganze Insel und hinaus aufs Meer. Wenn es noch Seeschlangen gegeben hätte, dann hätte sie sie bemerkt.
Ein Fernglas hing an einem Haken neben der Tür. Sie nahm es herunter und hing es sich um den Hals. Das Glas vor den Augen suchte sie den Horizont ab, ließ ihren Blick über Wellen, Land und Seehundsbänke wandern. Es waren nur Tiere, sie konnten ihren Pelz nicht ablegen und als Frauen umher wandern. Lange starrte sie zu den Sandstreifen zwischen den Wellen hinüber, bis sie endlich verstand. Auf einmal wusste sie, warum sie hier war.
Sie hängte das Fernglas wieder auf und kehrte in die Wohnung zurück.
Dieses Mal war sie es, die mit dem Tee auf ihn wartete.
„Was machst du hier?“, fragte sie leise, als er den ersten Schluck aus seiner Tasse nahm. Er lächelte. Wärme strahlte aus seinen Augen, erleuchtete sein Gesicht und machte es schön.
„Ich warte, bis ich gefunden werde.“
„Von wem gefunden?“ Sie wusste es, aber sie fragte trotzdem. Es war ein Spiel.
„Von anderen.“
„Anderen?“
„Leuten wie mir.“ Er lächelte noch wärmer. „Strandgut.“
Sie lachte leise. „ Was bist du?“
Er stand auf und zog auch sie auf die Füße. Dann führte er sie durch eine Tür in einen kleinen Abstellraum. Auf einem hölzernen Gestell ruhte eine glänzende, weißmetallene Rüstung. Sie schimmerte im Sternenlicht, das durch die offene Tür hereinfiel. Malina strich mit einem Finger über den kühlen Stahl. Er fühle sich beinahe geschmeidig an.
„Ich dachte, es gibt keine Ritter mehr. Und auch keine Drachen. Warum hast du sie aufgehoben?“
Er zuckte mit den Schultern. „Vielleicht brauche ich sie ja eines Tages wieder. Wenn es wieder Ritter gibt.“
Sie trinkt den Geruch des Meeres und die Schreie der Möwen. Sie schreit in den Wind hinaus. Nimmt Abschied. Von dem Meer, von der Vergangenheit. Sie wird ihnen nahe bleiben, aber ihre Suche ist zu Ende. Sie weiß nun, wo sie bleiben kann, wer ihr Leben teilen soll.
Sie schließt sie Augen und fühlt die Bewegung der Wellen. Etwas Zeit noch möchte sie verstreichen lassen, bevor sie zurückgeht, um das Fell aus seinem Versteck zu holen. Das Fell, ohne das sie nicht schwimmen kann. Das sie draußen im Meer abgelegt hatte, um zu sterben, und das das Meer treu zu ihr zurück getragen hatte. Sie wird es zum Turm bringen und in die Kammer neben die Rüstung hängen. Eines Tages wird sie es vielleicht wieder anlegen und zum Seehund werden. Doch nicht heute. Nicht in diesem Leben.