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Strangeland

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09.12.2001
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Strangeland

Jake zündete sich eine Zigarette an. Seit dem er Gefängniswärter war, hatte er wieder mit dem Rauchen, dem Laster seiner Jugend, begonnen. Nein, er konnte wirklich nicht sagen, dass er diesen Job liebte. Er sagte sich zwar immer wieder : „Jake, sei froh, dass du Arbeit hast und deine Familie ernähren kannst“, aber dennoch konnte er sich nicht mit dem Gedanken, die ganze Nacht die Gefangenen in der Untersuchungshaft über den Videomonitor zu überwachen, anfreunden. Flüchtig warf er einen Blick auf Bildschirm drei, die Gefängniszelle dieser jungen Frau, die gestern erst reingekommen war. Das Bild, das sich ihm bot, hielt seinen Blick auf dem Monitor fest. Er erschauderte, die Zigarette fiel aus seinem Mundwinkel und glühte auf dem kalten Holztisch weiter, bis ein großer, brauner Brandfleck entstand und die Zigarette ausging. Melanie Berghof, die junge Frau, die gestern Nacht in einem äußerst bedenklichen Zustand eingeliefert worden war, trank Blut, welches aus ihrem linken Unterarm schoss. Ihr Gesicht war über und über mit der roten Flüssigkeit beschmiert, auch ihre Kleidung hatte ziemlich viel abbekommen. Jake drückte den Alarmknopf und eilte zur Einzelzelle der Frau.


**


Melanie stand im Badezimmer vor dem großen Spiegel. Sie hielt eine Schere in der Hand und war gerade im Begriff, sich eine neue, etwas coolere Frisur zu verpassen. Schließlich war sie inzwischen dreizehn, die richtige Zeit um nicht mehr wie ein Kind auszusehen, sondern sich einen etwas verruchten Tatsch zu geben. Langsam setzte sie die Schere an und versuchte, sich zu konzentrieren. Doch das war gar nicht so einfach, denn immer wieder hörte sie ihre Eltern im Schlafzimmer. Sie hatten gerade Sex, beziehungsweise Melanies Vater hatte Sex mit ihrer Mutter, die sich zwar lautstark gegen den brutalen Übergriff ihres Mannes wehrte, jedoch offensichtlich keine Chance hatte. Als Melanie das erste Mal Zeugin dieses sehr seltsamen Sexuallebens geworden war, vor ca. 3 Jahren, hatte sie sich noch Sorgen gemacht. Mehrmals war sie auf ihre Mutter zugegangen und hatte versucht, mit ihr zu sprechen, doch Diese hatte immer abgeblockt. Irgendwann war es Melanie dann egal gewesen, wie sich ihre Mutter von dem Alten ficken lies. Mehr als ihre Hilfe anbieten konnte sie schließlich nicht. Sie spürte die kalte Schere an ihrer Schläfe. Langsam begann, sie ihre blonden Haare etwas zu stutzen, als sie plötzlich ein besonders lauter Schrei ihrer Mutter zum Zusammenzucken brachte. Die Spitze der silbernen Schere rutschte ab und bohrte sich leicht in ihren Kopf. „Autsch“ fluchte Melanie und schmiss die Schere zu Boden. Besorgt betrachtete sie die Wunde an ihrer Stirn. Die ersten Tröpfchen Blut flossen ganz schnell aus der Wunde, doch recht schnell heilte Diese etwas zu, so dass die Abstände, in denen dicke dunkelrote Tropfen ins Waschbecken fielen, immer kleiner wurden. Fasziniert beobachtete Melanie diesen Vorgang. Als die Wunde soweit verheilt war, dass das Blut aufhörte zu tropfen, führte Melanie ihre linke Hand zu der entsprechenden Stelle und drückte ihren Zeigefinger so in die Wunde, dass die dünne Schutzhaut wieder aufplatzte und erneut das Blut zu fließen begann. Hektisch begann Melanie, sich vor dem Spiegel zu drehen und zu wenden, damit sie möglichst genau sah, was da mit ihrem Körper passierte. Sie war wie gefangen von dem Anblick ihrer blutenden Stirn.


**


Das grelle Licht blendete Melanie, automatisch verlangsamte sich ihr Schritt, doch die Männer an ihrer Seite ließen keine Verzögerungen zu. Sie zogen sie weiter in den kalten, steril aussehenden Raum und stießen sie auf einen Stuhl. Melanie schloss die Augen und ließ ihren Kopf auf ihre schmerzenden Arme sinken. An ihrer Wange spürte sie den Verband, der um ihren linken Unterarm gewickelt war. Komischerweise schmerzte die große, noch recht frische Wunde an dieser Stelle nicht so sehr, wie die schon fast verheilten Schnittwunden an ihrem anderen Arm und an ihren Beinen. Nach etwa fünf Minuten spürte sie, wie jemand eine Hand auf ihren Arm legte. Sie hob ihren Kopf leicht an und blickte in das Gesicht einer älteren Frau, irgendwo zwischen 40 und 50. „Wirst du wach, Melanie ?“ fragte Diese sie. „Ich würde mich gerne etwas mit dir unterhalten“. Melanie setzte sich auf. Es kostete sie zwar einige Mühe, doch sie schaffte es. „Gut so“ kommentierte die Frau ihre Bemühungen. Sie zeigte energisch auf Melanies frisch verbundenen Arm. „Also gut, reden wir über das da. Wie hast du das gemacht ?“ „Ich hab mit meinen Fingernägeln so lange an einer bereits vorhandenen Wunde rumgekratzt, bis sie wieder aufgerissen ist“ erklärte Melanie betonungslos. „Irgendwann, als schon wieder etwas Blut herauskam, habe ich dann mit meinen Zähnen nachgeholfen und auf allem rumgekaut, was mir so unterkam, bis es richtig geblutet hat.“ Die Frau war offensichtlich geschockt. „Mensch Mädchen...“ stammelte sie, „warum hast du das getan ? Das müssen doch höllische Schmerzen gewesen sein.“ Melanie schüttelte den Kopf. „Nee, jetzt tut’s weh. Gestern Nacht hat’s nicht wehgetan.“ Die Frau stützte ihren Kopf auf ihren Händen ab. „Ich begreif das nicht. Du hast auch sonst viele kleinere Wunden. Das ist mir vorgestern, als sie dich gebracht haben, schon aufgefallen. Seit wann verletzt du dich selbst ?“ Melanie blickte zu Boden. „Haben sie Schweigepflicht ?“ Die Frau bejate. Nun sah Melanie auf, ihr Blick traf genau den der ihr gegenübersitzenden Frau. Melanies Augen funkelten neckisch. „Trotzdem sag ich’s ihnen nicht.“ Schweigen. „Nun gut, dann musst du eben sehen, wie du zurecht kommst. Wenn du reden willst, ich bin jederzeit für dich da.“ Die Frau stand auf und verließ den Raum. Melanie blieb sitzen, bis die zwei Männer wieder kamen und sie herausbrachten.


**


„Aber Mami, ich bin vierzehn. Ich habe keine Lust, mich um diesen zehnjährigen Wurm zu kümmern. Kannst du sie nicht mit Thomas zusammen setzen ? Der ist immerhin sechs, passt also altersmäßig besser zu ihr.“ „Keine Diskussion, junge Dame. Du weißt genau, dass Thomas die Grippe hat und seine Ruhe braucht. Nimm deine Cousine mit in dein Zimmer und spiel mit ihr, bis ihre Eltern sie heute Abend abholen.“ Leise vor sich hin fluchend ging Melanie in ihr Zimmer. Ihre Cousine Mércedes trottete hinter ihr her. Als beide in dem kleinen Raum angekommen waren, schlug Melanie geräuschvoll die Tür zu. „Setz dich hin und nimm dir irgendwelche von meinen alten Comics, ich hab zu tun“ sagte sie. „Du sollst dich um mich kümmern“ erwiederte Mércedes energisch. „Ich hab aber was besseres vor“ sagte Melanie genervt. „Wenn du dich nicht um mich kümmerst, dann sag ich’s Mami“, nörgelte Mércedes weiter. „Dann sag’s ihr doch“, fuhr Melanie sie an. „Was ist das da ?“ fragte Mércedes und deutete auf Melanies Regal. „Das ist ein Discman“ erklärte Melanie ungeduldig, „damit spielt man Musik ab.“ „Und was ist das ?“ fragte Mércedes weiter. Diesmal deutete sie auf Melanies Taschenmesser. „Das ist ein Taschenmesser“ erwiederte Melanie. „Wozu braucht man das ?“ Melanie überlegte. Sie dachte an die Schnittwunden an ihren Armen, die sie möglichst vor ihren Eltern und ihren Lehrern verbergen wollte, um sich keinen Ärger einzuhandeln. Die würden sowieso nicht verstehen, wie faszinierend es war, sein eigenes Blut aus dem Körper treten zu sehen. Doch warum eigentlich immer nur das Eigene ? Melanie kam ins Grübeln. Die Gelegenheit war mehr als günstig, das erste Mal fremdes Blut vor den Augen zu haben. Sie sah ihre Cousine an, wie sie verträumt auf dem Bett saß und ihre Beine baumeln ließ. Melanies Augen begannen zu glänzen. „Wenn du willst, dann zeige ich es dir“, bot sie also ihrer Cousine mit einer gespielt freundlichen Stimme an. „Au ja“ ließ diese sogleich von sich hören. „Okay, dazu musst du aber die Augen zumachen, ja ?“ Mércedes schloss die Augen. Ihre Beine begannen, noch mehr zu zappeln. Schnell klappte Melanie ihr Taschenmesser auf und hielt die Klinge an den Arm von Mércedes. Als die kalte Klinge die Haut des Mädchens berührte, zuckte Dies leicht zusammen, sagte jedoch nichts. Fest drückte Melanie das Messer in den Arm des Kindes. Sofort trat Blut aus der Wunde aus. Mércedes riss ihre Augen auf. Entsetzt starrte sie Melanie an, die ebenfalls mit weit geöffneten Augen das Messer betrachtete, das noch immer in der Wunde steckte. Endlich sprang Mércedes auf und rannte schreiend aus dem Zimmer. Melanie blieb sitzen und erwartete das Donnerwetter.


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„In ihrer Akte steht, sie waren mit 14 drei Monate in der Jugendpsychiatrie des Göttinger Klinikums. Weswegen ?“ Melanie schwieg. Schweigen, das hatte sie in den wenigen Tagen, die sie bereits in Untersuchungshaft saß, wirklich gut gelernt. „Wenn sie mir nicht sagen, weswegen, dann werde ich es selber in Erfahrung bringen. Erfahren werde ich es sowieso. Sie beschleunigen den Vorganng nur, wenn sie sich dafür entscheiden, es mir mitzuteilen.“ Melanie sah den Mann an, der sich vor ihr aufgebaut hatte. „Steck dir nen Finger hinten rein“ sagte sie schließlich. Der Mann verließ den Raum.


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„Mum, glaub mir, diese kleine Ratte hat sich selbst das Messer in den Arm gerammt.“ „Sei still“ schrie Melanies Vater. „Erstens glaube ich dir kein Wort, du kleines verlogenes Biest. Schau dich doch mal an, überall diese Schnittverletzungen.“ Schwungvoll riss er an Melanies Ärmel herum, bis ihr langärmliges T-Shirt einriss. „Zweitens wäre es sowieso egal, denn du solltest auf sie aufpassen.“ In Melanies Augen schimmerten Tränen. Tränen, die aus Wut und Enttäuschung flossen. „Verzieh dich, ich will dich nicht mehr sehen. Soll das Jugendamt entscheiden, wie es mit dir weitergeht.“ „Du bist ein Monster.“ Melanie riss sich los und stürmte ins Badezimmer. Schnell schloss sie hinter sich ab. „Komm sofort da raus“. Ihr Vater trommelte mit beiden Fäusten an die Tür. „Oder ich trete die Tür ein.“ Mit zittrigen Fingern nahm Melanie ein Messer aus dem Badezimmerschrank. Blind vor Tränen setzte sie es an irgend eine Stelle ihres rechten Armes an und schnitt. Die Schmerzen fühlte sie nicht. Ganz weit entfernt hörte sie, wie ihr Vater tatsächlich angefangen hatte, gegen die Tür zu treten. Ruckartig drehte sie ihren Arm um, legte das Messer an die Pulsadern. Sollte sie oder sollte sie nicht ? Die Überlegung dauerte nicht lange. Das Messer drang durch die dünne Haut, große Mengen Blut färbten das grüne Waschbecken langsam rot und Melanie sackte zusammen.


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„Frau Berghof, ich wollte sie nur nochmal daran erinnern, dass sie morgen früh ihren Gerichtstermin haben. Dort wird über ihre Zukunft entschieden. Bitte seien sie so gegen acht Uhr bereit.“ Melanie blinzelte, doch sie stellte fest, dass der Gefängniswärter bereits wieder verschwunden war. Ihre schweren Augenlider fielen ihr wieder zu und nach wenigen Minuten fiel sie erneut in einen schweren Schlaf.


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„Melanie, bin ich eigentlich der erste Junge, der dich...?“ „Max, ich bin sechzehn.“ „Bin ich’s oder bin ich ich’s nicht ?“ „Nun..., ja.“ Max grinste. „Ich werde ganz vorsichtig sein.“ Behutsam streifte er Melanies Slip nach unten. „Wieviele Mädchen hast du schon...?“ „Weiß nicht, ich hab sie nicht gezählt. Aber du bist die schönste von allen.“ „Komm her, ich will dich küssen.“ Max setzte sich auf. Melanie vergrub ihr Gesicht in seinem Hals. „Mach die Augen zu.“ Max schloss die Augen und stöhnte leicht. Während Melanie darauf achtete, dass Max auch wirklich voll und ganz abgelenkt war, tastete sie mit der linken Hand nach dem kleinen Tisch neben ihrem Bett. In der Ablage unter der Tischplatte lag eine leere Einwegspritze. Diese nahm Melanie in die Hand und führte sie langsam zu Max. „Kann ich die Augen jetzt wieder aufmachen oder hast du noch was besonderes vor ?“ „Und ob.“ Melanie lachte. „Warte einen kleinen Moment, dann spürst du’s.“ Sie hob die Spritze an, suchte mit den Augen die Halsschlagader von Max und stieß die Spritze ganz schnell ohne Vorwarnung in Diese. Max öffnete die Augen und schrie auf. Er sah Melanie an und ihre Blicke trafen sich. „Faszinierend“ flüsterte Melanie. „Du bist ja irre“ fluchte Max. Er sprang vom Bett auf und riss sich die Spritze aus dem Hals. Dünne, kleine Tropfen sickerten aus der Wunde und liefen an seinem Hals herab. Er schlüpfte in seine Hose, streifte sich sein T-Shirt über, fuhr ohne vorher seine Socken anzuziehen in seine Stiefel und verließ fluchtartig das Haus. Melanie lag noch immer nackt auf ihrem Bett. Ihre linke Hand fuhr langsam in ihren Schambereich. Sie schloss die Augen und begann, sich zu streicheln, zuerst zaghaft, dann immer schneller und kräftiger.


**


In der Nacht vor der Verhandlung war Melanie unruhig. Vorbei war die Ruhe, mit der sie die letzten Tage über sich hatte ergehen lassen. Die Unruhe war überraschend wie ein Schlag ins Gesicht gekommen und Melanie hatte keine Chance gehabt, sich gegen sie zu wehren. Inzwischen war es eine halbe Stunde nach Mitternacht und Melanie war immer noch wach. Sie schaltete das Licht nicht an, nach 24 Uhr durfte in ihrem Zimmer kein Licht mehr brennen, das wusste sie. Sie verfluchte diese Vorschrift. Ein bisschen Licht hätte ihr so sehr geholfen. Verstört stand sie auf. Warme Tränen liefen ihr über die Wangen, sie hatte gar nicht bemerkt wie sie gekommen waren. Als sie nah bei der Wand stand, knickten ihre Beine weg. Ihr Rücken fiel gegen die harte Wand, sie rutschte hinunter bis sie wie ein Häufchen Elend am Boden lag. Die Tränen liefen nun in Strömen. Was war, wenn man sie ins Gefängnis steckte ? Wie sollte sie hier klarkommen ? Sie warf ihren Kopf zurück, er stieß leicht gegen die Wand. Als sie merkte, das es keinen Krach machte, begann sie, ihren Kopf immer weiter gegen die Wand knallen zu lassen, so lange, bis sie endlich spürte, wie sich eine warme Flüssigkeit um ihren Hinterkopf ausbreitete.


**


Melanie hörte die Tür ins Schloss fallen. Jetzt waren ihre Eltern also weg. Sie war zitterig. Als sie mit dreizehn – vor sechs Jahren – mit dem Schneiden angefangen hatte, hätte sie nie gedacht, dass ihre Blutlust dermaßen zur Abhängigkeit werden könnte. Ein Blick auf ihre Arme – sie waren mehr mit Schnittwunden bedeckt als jemals zuvor. Kaum eine andere Stelle an ihrem Körper sah besser aus. Es gab ihr zu wenig, wenn sie sich selbst schnitt, innerhalb ihrer Studien hatte sie sich an ihrem eigenen Blut einfach satt gesehen. Sie schnüffelte. Noch immer roch es in ihrem Zimmer etwas nach dem Vogel, den sie sich neulich in dieser kleinen Tierhandlung gekauft hatte und ihn danach so lange mit Nadeln gefoltert hatte, bis er jeden letzten Rest seines Lebens verloren hatte. Sie holte ihre Geldbörse aus der Hosentasche und sah hinein. Das Geld reichte einfach nicht für ein weiteres Haustier. „Scheiße“ fluchte Melanie und pfefferte die Geldbörse in die Ecke. Auf einmal hörte sie das zaghafte Klopfen an ihrer Tür. Das konnte nur Thomas sein, ihr kleiner Bruder, inzwischen elf. Die Türklinke wurde langsam hinuntergedrückt und Thomas’ Gesicht kam zum Vorschein. „Geh weg“ rief Melanie, doch Thomas trat nun vollständig in das Zimmer. „Ih, hier stinkt’s“ meckerte er. Melanie verdrehte ihre Augen. „Ich hab gesagt, du sollst dich verpissen. Ich bin schlecht drauf.“ „Mama hat gesagt, du kochst mir was“. Melanies Blick fiel auf das große Messer, das sie sich vor einem Jahr im Kaufhaus gekauft hatte. An seiner Klinge klebte noch etwas vertrocknetes Blut. In ihr wuchs der Wunsch, das Messer wieder zu benutzen. Seit dem Vorfall mit Mércedes vor fünf Jahren hatte Melanie sich von Verwandten ferngehalten, die drei Monate Psychiatrie in einer völlig fremden Stadt hatten ihr gereicht. Doch genau die Tatsache, seit Ewigkeiten kein Blut mehr gesehen zu haben, das ihrem durch die Verwandtschaft recht ähnlich sein musste, machte sie heiß darauf, ihr Messer an Thomas zu benutzen. „Komm her“ sagte sie langsam und gedehnt, während sie zu ihrem Messer griff. Doch Thomas hatte gemerkt, dass etwas mit seiner Schwester nicht stimmte. Er drehte sich um und knallte ihre Tür zu. Doch jetzt kannte Melanie kein Halten mehr. So schnell sie eben konnte war sie aus ihrem Zimmer gerannt. Sie hörte ihren kleinen Bruder in der Küche. Die Küchentür war verschlossen. Als Melanie Diese aufriss, stand ihr kleiner Bruder auf einem Stuhl und wühlte in dem hoch oben angebrachten Besteckschrank. In seinen Augen blitzte die Angst, als er seine Schwester mit dem Messer in der Hand sah. Mit einem Satz war sie bei ihm und zerrte ihn von dem Stuhl hinunter. Thomas’ Schreien ging in schrilles Heulen über, als er sich nicht mehr halten konnte und mit dem Kopf auf den Boden aufschlug. „So ist’s richtig, Kleiner“ murmelte Melanie. Sie setzte sich vor ihren Bruder, der angefangen hatte, mit seinen Armen und Beinen zu fuchteln. Sie nahm seinen Kopf und legte ihn in ihren Schoß. „Nein“ stammelte Thomas. „Oh doch“ entgegnete Melanie. Sie nahm das Messer, das Blut hatte sie nicht abgewaschen, und setzte es an Thomas’ Hals. Der Junge versuchte noch immer, sich zu wehren, doch Melanie hielt ihn mit ihrem linken Arm so fest am Boden, dass er keine Chance hatte. Ihre rechte Hand umklammerte fest das Messer, als die Klinge in seinen Hals eindrang. Melanie staunte, sie hatte nicht gedacht, dass soviel Blut fließen würde. Thomas verlor langsam die Kraft, Melanie merkte das. Im Prinzip ein wichtiges Signal, dass sie handeln musste. Sie wollte aufstehen und einen Krankenwagen rufen, doch sie konnte sich einfach nicht von dem Bild des noch immer schnell fließenden Blut losreißen. Vorsichtig führte sie das Messer nochmal in die Wunde und vergrößerte sie etwas. Thomas’ Wimmern wurde eine Tonart höher. Melanie blieb sitzen. Aus ihrem Mundwinkel begann, etwas dünne Spucke zu tropfen. Thomas verstummte. Auch sein Zappeln hatte aufgehört. Zärtlich streichelte Melanie über sein kurzes, glattes Haar. Das Blut floss noch immer, jetzt jedoch etwas schwächer. Plötzlich stand Melanies Mutter in der Tür. Ihr Gesicht war erstarrt. Der Autoschlüssel, den sie in der rechten Hand hielt, fiel geräuschvoll zu Boden. Nach einer Schreckensminute drehte sie sich um und übergab sich.


**


Der Richter kehrte zurück. Alle erhoben sich, nur Melanie blieb sitzen, bis sie von ihrem Anwalt angestoßen wurde. „...zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt.“ Melanie schaltete ab. Gestern Nacht noch war der Gedanke, jahrelang in den Knast zu müssen, für sie Grund genug gewesen, stundenlang zu heulen. Nun waren ihre schlimmsten Befürchtungen bittere Gewissheit geworden. Doch das Trauergefühl, das sie erwartet hatte, wollte sich einfach nicht einstellen. Sie starrte auf den Richter. Er war ziemlich alt, sicherlich kurz vor der Rente. Melanie fragte sich, wie es wohl aussehen würde, wenn jemand seiner bleichen, faltigen Haut eine blutige Wunde zufügen würde. Würde sein Blut hell und ausgeblichen aussehen, oder war es dunkel und kraftvoll ? Melanie musste lächeln. Sie freute sich jetzt schon auf den Zeitpunkt ihrer Entlassung. Es gab noch so viel zu probieren.

 

Hallo X,

ich habe mich bisher nicht so viel im Horror-Forum umgesehen, vielleicht 2-3 Geschichten gelesen, aber ich muss sagen, diese hier hat mir ganz gut gefallen! Überraschend für ein "Erstlingswerk". ;)

Ein Argument dafür ist sicherlich, dass die Geschichte es geschafft hat, dass ich am Ball bleibe. Geschichten am PC zu lesen finde ich doch sehr anstrengend und Druckertinte ist zu teuer (...), also: Pluspunkt!

Die Entwicklung (oder sollte man sagen: der Verfall) von Melanie ist trefflich beschrieben, für mein Gefühl hast du immer die richtigen Worte gefunden. Spannung baut sich langsam, aber stetig auf. Der Höhepunkt ist sicherlich das "Experiment" mit ihrem Bruder zum Schluss.
Leider (!) muss ich sagen, dass ich für Horror- oder Schocker-Effekte nicht ganz so empfänglich bin wie andere Menschen, also hat sich wahrscheinlich die gesamte Wirkung nicht wie beabsichtigt entfaltet. Oder das Thema ist eigentlich schon ausgelutscht. Oder ich bin einfach naiv... :shy:

Gut fand ich die Stelle beschrieben, wo Melanie mit Max zusammen ist. Gott sei Dank rutscht du hier nicht ins Klischeehafte ab.
Auch der Rest ist gut nachvollziehbar.

Das Ende (das sicherlich mit dem Anfang eine Einheit bilden soll?) ist dafür im Vergleich relativ flach: Ööööh, noch ne Wunde! Hätte hier jetzt noch ein überraschender Knaller gestanden, wäre die Geschichte wirklich gut. So (noch) nicht. :p

Und mit dem Titel kann ich nichts anfangen. Änder das. Sofort. Okay?

Viel Spaß noch hier
Sternenfluter

 

Tja, was soll ich sagen, die Geschichte hat mir schon sehr gefallen, aber nicht so sehr, wie sie hätte können. Denn ich finde zur Mitte hin wird sie unglaubwürdig, ab der Szene, in der Melanie ihren Vogel masakriert.

Auch wenn einige stilistische Ungereimtheiten den Lesefluss unterbrechen (niemand redet ernsthaft so:

Ich hab mit meinen Fingernägeln so lange an einer bereits vorhandenen Wunde rumgekratzt, bis sie wieder aufgerissen ist

schon gar nicht in der Verfassung von Melanie), liest sich der erste Teil recht spannend, auch wenn er in diesem Horrorforum etwas deplaziert wirkt. Er wäre vielleicht eher ein Drama oder eine Tragödie. Aber spannend, wie gesagt, und recht raffiniert gemacht im Aufbau.

Aber wenn Melanie beginnt, statt sich selbst, andere zu verletzen, komme ich nicht mehr recht mit. Meines Wissens richtete sich die Gewalt dieser Leute ausschliesslich gegen sich selbst; die Leute, die in ihrer Kindheit Tiere quälen, fallen in eine andere Kategorie.
Die Geschichte flacht dann mit dem letzten Satz zu einer simplen Horrorstory ab (wobei sie ja wieder genau richtig ist in diesem Forum) ;)

Fazit: Gute, spannende Geschichte, die bei mehr Realismus weitaus spannender hätte sein können.

Grüße!

[Beitrag editiert von: Hanniball am 09.12.2001 um 22:31]

 

:) Eine ganz fabelhafte Geschichte! Flüssig erzählt, nicht dermaßen übertrieben, dass sie lächerlich wirkt, guter Spannungsaufbau.
Auch stilistisch fand ich sie ganz gut.

Hannibals Einwurf ist sicher berechtigt: Menschen die am "selbstverletztenden Verhalten" leiden, fangen nicht an, andere Menschen zu verletzen, da all ihre Ohnmacht sich ausschließlich gegen den eigenen Körper wendet.

Natürlich gäbe es noch hie und Stellen verbesserungswürdige Passagen bzw. den Schluss könnte man schärfer, sarkastischer heraus arbeiten, aber alles in allem gehört diese Story zu den besten, die ich in diesem Forum bislang gelesen habe.

 

Danke an alle für die geschriebenen Kritiken ! Auch wenn diese Story mein erstes Posting war, so war dies doch nicht die erste Geschichte, die ich verfasst habe :)

Also wie gesagt, tausend dank an alle, die sich die Mühe gemacht haben, mein Werk mal durchzulesen und mir auch noch was darüber zu schreiben :)

 

Heyho,

dann muss ich wohl mal die Positionen des Kritikers einnehmen, dem die Story nicht gefallen hat. Begründen werde ich das natürlich auch:

- Inhalt: Ich mag keine Rückblenden. Rückblenden sind langweilig. Klar, es gibt ein paar Leute, denen gefallen sie ganz gut (und das sei ihnen auch zugestanden), aber eine Geschichte, die nur von Rückblenden lebt, schreckt viele Leser ab. Wie soll denn Spannung aufkommen, wenn ich weiss, dass der Protagonistin nichts passieren kann? Und warum kann man eine Geschichte nicht einfach von Anfang an erzählen? Manchmal sind Rückblenden ja wirklich nötig, aber hier wird leider übertrieben. Die gesamte "Action" spielt in der Vergangenheit - boooring.

2. Stilistisch: Finde Deinen Stil leider viel zu aufgesetzt und umständlich. Grundsätzlich hast Du ja durchaus Talent, aber du kommst einfach nicht zum Punkt und neigst zum - klingt jetzt schlimmer als es gemeint ist - schwafeln. Beispiel gefällig? Bitte sehr:

"Das grelle Licht blendete Melanie, automatisch verlangsamte sich ihr Schritt, doch die Männer an ihrer Seite ließen keine Verzögerungen zu."

Erst einmal gehört hinter Melanie ein Punkt. Und dann sind da noch die Männer (Du meinst doch sicher Wachen oder Polizisten, oder?), die keine Verzögerungen zulassen - schreckliche Formulierung. Außerdem verlangsamt sich ein Schritt nicht von selbst. Besser:

"Das grelle Lind blendete Melanie. Automatisch blieb sie stehen, aber die beiden Wachen zogen sie weiter."

Immer noch keine literarische Meisterleistung, aber lange nicht so umständlich und mit wesentlich mehr Pepp, weil die handelnden Personen aktiv in das Geschehen eingreifen.

- Form: Bitte (mit viel Zucker obendrauf) spendiere jedem Dialog eine eigene Zeile. In dieser Form kann das ja kein Mensch vernünftig lesen. Grundsätzlich ist es am Besten, man hält sich an die aus Büchern bekannten Standards.

Das mag jetzt hart klingen, aber lass Dich bitte nicht entmutigen. Für einen ersten Versuch ist die Story wirklich in Ordnung. Aber Du hast noch einiges an Arbeit vor Dir - also, auf geht's, nächste Story.

Cheers

 

Hi Wendigo !

Auch dir danke ich für die Kritik. Aber :

Stilistisch: Finde Deinen Stil leider viel zu aufgesetzt und umständlich. Grundsätzlich hast Du ja durchaus Talent, aber du kommst einfach nicht zum Punkt und neigst zum - klingt jetzt schlimmer als es gemeint ist - schwafeln.

Das ist, wie vieles andere auch, Geschmackssache :D :D :D

Mir gefällt eben ein bisschen umständlicher Schreibstil besser.

Wobei du allerdings absolut recht hast, sind die eigenen Absätze für die Dialoge. Das müsste ich mir endlich mal angewöhnen...

 

Heyho,

freut mich, dass Du Dir die Kritik zumindest ein bischen zu Herzen nimmst.

Natürlich ist der Stil immer Geschmackssache - und umständlich muss nicht gleich schlecht sein, wie schon Lovecraft vorzüglich bewiesen hat. Ich bin aber dennoch der Meinung, dass absichtliches Nicht-Zum-Punkt-Kommen wirklich nicht sein muss. Nehmen wir doch mal den von mir zitierten Satz - findest Du Deine Version denn wirklich besser, als meinen (zugegebenermaßen auch nicht meisterlichen) Gegenvorschlag?

Cheers

 

Hallo!

Was soll ich sagen?

Respekt!

Die Geschichte, ließ mich im Gegensatz zu einigen anderen die ich gelesen hab, gleich nichtmehr los.
Ich musste sie einfach zuende lesen.

Mir gefällt auch besonders diese Rückblendengeschichte.
Ist ein bisschen wie in Pulp Fiction.... ein bisschen.

Klingt ja schon fast nach einem Drehbuch.

 

Auch ich muss sagen, dass mir gerade die Form, die X gewählt hat, nämlich die der Rückblenden, einigermaßen überzeugt hat. Ich kann Wendigo nicht verstehen, dem dies ja wohl nicht gefallen hat.
Warum?

Grüße!

 

Heyho,

habe doch eigentlich begründet, warum mir diese Form der Erzählung nicht zusagt: Rückblenden sind - wenn zu oft verwendet - in meinen Augen langweilig. Seit Fight Club, Pulp Fiction und Co. erlebt diese Erzählweise einen regelrechten Boom; was ja schön und gut ist, aber in diesem speziellen Fall macht die Form für mich keinen Sinn - d.h. die Geschichte könnte eigentlich genauso gut von Anfang an erzählt werden und es würde weder Spannung noch Plot schaden - im Gegenteil: Ich bin der Meinung, das würde die Story um ein ganzes Stück rasanter machen. Aber das ist natürlich nur meine Meinung - muss man ja nicht teilen; ich möchte nur ein paar Anregungen geben.

Cheers

 

Wenn der Autor seinem Leser die Fakten seiner Geschichte nur immer stückchenweise beibringt, indem er die Vergangenheit in Rückblenden enthüllt, dann kann das ganz schön spannend sein. Ich pflichte dir bei, dass dies schon einiges Können erfordert. Aber wenn es gut gemacht ist, kann so etwas höllisch spannend sein. Hast du schon mal den Film „Schatten der Vergangenheit“ gesehen? Das ist ein Top-Beispiel dafür, wie es gelingen kann.

Aber du hast Recht – Ansichtssache.

Grüße

 

Heyho,

gutes Beispiel! Betrachten wir uns doch mal die Gewichtung der Rückblenden in beiden Fällen:

Strangeland: 90% Rückblenden 10% Tatsächliche "Action"

Schatten der Vergangenheit: Können wir uns da auf ein 30/70-Verhältnis einigen?

Merkst Du jetzt was ich meine?

Cheers

 

Halli-Hallo!

Du hast also nicht grundsätzlich etwas gegen Rückblenden, dann habe ich dich missverstanden.

Dass X es vielleicht ein ganz klein wenig übertreibt, da kommen wir eventuell zusammen, trotzdem bleibe ich dabei, dass diese Geschichte durch ihre Form gewinnt.

Grüße!

 

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