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Striche im Holz
Striche im Holz
Luca sah die Striche im Holz erst auf den dritten Blick. Bis dahin hatte er unbeweglich auf dem Stuhl gesessen und durch das Fenster in die Einöde der Großstadt gesehen. Er hörte Autos und Busse langsam und schnell vorbeifahren und sah vereinzelnd Tauben vorbeifliegen. Eine setzte sich auf das Fensterbrett und blickte Luca mit ihren leeren, schwarzen Augen an. Kreischend flog das Viech weg, als er aufstand und gegen das Glas schlug. Ihre Flügel flatterten im Wind. Er sah ihr noch lange nach, bis sie hinter dem Flachdach des Nachbarhauses verschwand.
Dort konnte Luca eine alte Frau in einem der großen Wohnzimmerfenster im zweiten Stock sehen, die sich auf ihren Krückstock stützte und ohne Erfolg versuchte, etwas vom Küchenboden aufzuheben. Er nahm sein Fernglas vom Boden und sah sie an. Ihr krummer Rücken und das faltige Gesicht brachten ihn zum Lachen. Wie schnell sie wohl sterben würde? Vielleicht brauchte man sie nur umzustoßen und schon würden irgendwelche wichtigen Knochen brechen.
Wie einfach konnte eine ihrer Rippen brechen und sich dann ins schwache Herz bohren.
Luca starrte weiter auf ihr Gesäß und fragte sich, wie diese alte Frau ausgesehen hatte, als sie noch jünger gewesen war. Vielleicht war sie ja eine echte Rose gewesen, die noch nicht verblüht in einer kleinen Mietswohnung am Ende ihres Lebens stand.
Er stellte das Fernglas wieder weg und nahm einen Schluck aus der Rotweinflasche, ohne aber dabei den Blick vom Fenster zu nehmen. Es war dreckig, Luca hasste es, zu putzen. Die Panik, wenn er das Fenster aufmachte und die reißende Luft um sich spürte, machte ihn immer rasend. Das letzte Mal hatte er das Glas vor mehr als einem Jahr geputzt und genauso sah es jetzt aus. Mit Schaudern dachte er daran, wie es gewesen war, den Abdruck des Vogels, der dämlich und mit voller Wucht gegen das Fenster gestoßen war, wieder wegzuwischen.
Man müsste der Frau mal ein Bein stellen, mal sehen was passiert? Ihr Kopf könnte zerplatzen wie ein überreifer Kürbis und die alte Schale, die grün bläulich schimmerte, würde auf dem Boden verteilt liegen.
Dann lehnte sich Luca wieder in seinem Schaukelstuhl zurück und legte die Flasche neben sich auf den Boden. Etwas von der rötlichen Flüssigkeit lief seine Hand herunter. Er ließ es laufen.
Mal sehen, was denn das Früchtchen aus dem dritten Stock so macht.
Gestern hatte er sie beim Ausziehen beobachten können und wenn er ehrlich war, könnte er sich Kraft seiner Erinnerung, noch heute einen runterholen. Wie sie da im Halbdunkel gestanden und sich nach und nach entkleidet hatte, war eine Erfüllung sehnlichster Träume gewesen. Aber leider war sie nicht zu sehen, sie war bestimmt mit ihren kleinen Freundinnen aus.
Vielleicht einen Film sehen, vielleicht aber auch im Konzert.
Er war ihr auch einmal auf dem Hausflur begegnet und hatte erst gedacht, er würde sie kennen. Aber er fing sich im letzten Augenblick und begriff, dass er das hübsche Mädchen nur von seinen heimlichen Beobachtungen kannte und sie ihm gerade das erste Mal gegenübertrat. Er grüßte sie noch nicht einmal, im sicheren Wissen, dass er für sie sicher nicht mehr war als ein Kakerlak. Nicht mehr wert, als das man sie zertreten könnte. Er konnte es schon sehen, wie ihr Blick für wenige Sekunden auf ihm ruhte, als wolle sie ihn fragen, aus welchem Loch er gekrochen war.
Soll sie sich doch nur so fühlen, als wäre sie eine Königin im Vergleich zu mir. Hier oben, hier, in diesem Reich bin ich der König und ich sehe zu dir herunter.
Leider war sie nicht zu sehen. In Gedanken, meistens, wenn er ganz alleine und kein einziges Geräusch hörend in seinem Bett lag, dann dachte er an sie. An ihre weiblichen Wölbungen und er konnte sich für einen Moment kein besseres Leben mehr vorstellen, als für alle Zeiten hier zu bleiben.
Selbst die alte Frau war nicht mehr da. Sie hatte bestimmt noch ein gemütliches Wohnzimmer mit Couch, in die sie sich gerade zurückfallen ließ. Er hasste sie, diese alte Frau.
Den ganzen Tag macht sie nichts, gar nichts. Sie ist nutzlos, niemanden würde es stören, wenn sie sterben würde. Nutzlos, nutzlos.
Doch wie gerne hätte er sie dabei beobachtet, wie sie da stumm in ihrem Zimmer saß. Einen lächerlichen Moment überlegte er, sein Zimmer zu verlassen und bei ihr zu klingeln. Er würde zwar nichts zu sagen haben, aber diese Frau, die einen Großteil seines Lebens bildete, ein einziges Mal zu berühren...
...nutzlos...
Sein Fenster war umgeben von einer einfachen Holzverkleidung, die der Vormieter angebracht haben musste. Es musste so ein, da die anderen Zimmer, die er vor Jahren in dem Wohnblock angesehen hatte, als er hier eingezogen war, diese Verkleidung nicht hatten. Er hatte es als angenehm empfunden, auch wenn er nie richtig beabsichtigt hatte, lange hier zu bleiben. Das Holz war uneben und hatte viele Furchen. Auf der ganzen Fläche gab es ungewollte Muster, die die Verkleidung interessant erscheinen ließen. Manchmal, besonders Abends, wenn es so ruhig war, dass er am liebsten gestorben wäre, sah er sich die Muster stundenlang an oder suchte nach neuen. Er sah Fahnen von Ländern, die es nicht gab und er sah Frauen aus Erinnerungen seiner Jugend wie eine Collage zusammengeschnitten, die er niemals haben würde.
Gegenüber das Haus war jetzt vollkommen ruhig und dunkel. Nur im Treppenhaus brannte noch Licht.
Alle haben sie mich wieder verlassen. Alle... nutzlos... Ich hasse sie... Alle...
Er war zwar nicht müde, dennoch hoffte er, dass ihn der Schlaf schnell finden würde, wenn er nur lange genug daran dachte und laut genug flehte. Neben sich schaltete er seine kleine Nachttischlampe an und kramte in den Taschen des Morgenrocks nach seiner Brille. Er blickte auf das Holz. Auf die Striche im Holz. Überall waren diese kleinen Muster, die alleine die Natur gemacht hatte, in ihrer verzweifelten Angewohnheit, alles einzigartig machen zu wollen.
Aber was er da sah, war viel mehr als ein bloßes und schwach zu erahnendes Muster. Es sah überhaupt nicht zufällig aus.
Es waren nicht nur Striche.
Ein Gesicht.
Er sah ein einfach gestaltetes Gesicht, das aus etwa zwanzig Ritzen bestand. Diese spezielle Ritze waren ihm noch nie aufgefallen, oder, was er viel eher dachte, er hatte das Gesicht zwar schon oft bemerkt, aber immer wieder gleich vergessen. Denn ein König hat sein Reich zu kennen.
Oder waren sie vorher, vor diesem Abend noch gar nicht da gewesen? Der letzte Mensch, der sein Zimmer betreten hatte, war sein Vermieter gewesen, der einmal jährlich alle Zimmer inspizierte. Aber dass das alte Arschloch so etwas tun würde, war eher unwahrscheinlich. Am wahrscheinlichsten war es, dass er das Gesicht noch nie gesehen hatte. Es vielleicht als etwas Größeres gesehen.
Luca stand aus seinem Stuhl auf und ging auf das Gesicht zu. Es war alles da, wo es sein sollte. Zwei Augen, eine Nase und auch ein Mund, der ein leichtes Grinsen offenbarte. Mit einem Mal wurde ihm bewusst, dass es sich bei dem Gesicht nur um eine Frau handeln konnte. Die Nase war viel zu fein für einen Mann und als er genauer hinsah, erkannte er feine und lange Haare. Trotz seines nächtlichen Flehens, seiner ewigen Phantasien war eine Frau in seinem Zimmer das letzte, das Luca sich vorstellen hätte können.
“Wer bist du?”, fragte er und war enttäuscht, als die Striche, die den Mund bildeten, nicht antworteten.
Ihre Augen bestanden jeweils nur aus drei Strichen und waren dennoch so sinnlich und schön, dass es ihm für kurze Zeit den Atem hielt.
Wie wohl der Rest von ihr aussah?
Er kniete sich auf den Boden und sah dem Gesicht in die Augen. Er wusste nicht, ob er sie auch beobachten würde, wenn es sie wirklich geben würde und sie in seinem Nachbarhaus wohnen würde. Er wusste nicht einmal sicher, ob er sich das Gesicht nicht nur einbildete. Er wusste aber ganz genau, dass dies das schönste Gesicht war, dass er je gesehen hatte.
Langsam streichelte er mit seinen verfurchten Händen über das Holz und fühlte sich dabei wie ein junger Liebhaber, der seine Freundin küssen wollte. Der sie ins Schlafzimmer trug und aufs Bett legte. Aber sie wehrte sich nicht und schreckte auch nicht vor seiner Gestalt zurück, die er selber nicht lange im Spiegel ertragen konnte.
Sie widersprach ihm nicht, als er ihr sagte, dass sie schön sei und dass er sie gerne küssen würde. Luca hatte in seinem Leben noch keine Frau geküsst und war sich nicht sicher, ob er überhaupt genau wusste, wie es geht. Mit gespitzten Lippen näherte er sich dem Holz und war gespannt auf den Augenblick, wenn er es berühren würde. Dann berührten die Lippen von Luca das Holz und er stellte fest, dass das Grinsen aus dem Gesicht verschwunden war. Selbst ihr Mund war jetzt so wunderschön und sinnlich, dass Luca sich fragte, ob er nicht träume. Er küsste sie noch einmal und ihm wurde warm ums Herz. Auch sein Gesicht wurde heiß, selbst seine Hände fingen an zu schwitzen. Er blickte in ihre Augen und er sah im ersten Schrecken, dass sie echt waren. Sie schlossen sich für einen kurzen Augenblick und Luca wollte sich wieder losreißen. Aber er begriff, dass das jetzt nicht mehr möglich war.
Sein Körper wurde immer heißer und begann zu schmelzen und verschwamm in einer Masse aus Liebe und Sehnsucht, die sich ihren Weg in das Holz suchte. Luca fühlte sich herrlich und sehnte sich nicht nach seinen gemütlichen Schaukelstuhl, der immer noch etwas wippte.
Die Masse verschwamm weiter und setzte sich neben das Gesicht. Es schien flüssig zu werden, kleine Tropfen versuchten fast wie im Wettstreit das Holz herunter zu fließen. Es rauchte, nicht mehr, als ein abgebranntes Zündholz. Die Flüssigkeit, der letzte Rest von Lucas menschlicher Persönlichkeit, fraß sich in das Holz.
Er sah nie wieder aus dem Fenster, denn dazu war das leicht glücklich lächelnde Gesicht, dass neben dem Frauengesicht Platz im Holz genommen hatte, nicht mehr fähig. Wer heute die Tür zum Zimmer aufschlägt, wird mit etwas Geschick die beiden Gesichter sehen und er wird erkennen, dass eines nur Augen für den anderen hat.
Marburg, 15.10.2005