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Styropor
„Der Weihnachtsmann ist da“, sagte Vater.
Tiefes Sirenenpfeifen drang aus dem Kamin. Ein Mal, zwei Mal, drei Mal, dann Stille.
Atmen.
Ein Knacken im Kamin.
Blicke.
Ein helles Klicken.
Fußscharren.
Das Rauschen eines Lautsprechers.
Räuspern.
Ein blechernes Ho Ho Ho.
Ein leisen Summen, dann dröhnte Dieselqualm in dem Raum, Vibrationen ließen Ruß auf die Holzscheite regnen, den Schmuck am Plastikweihnachtsbaum erzittern.
„Mach das Fenster auf“, sagte Mutter.
Der Sohn nickte und erhob sich von seinem Stuhl.
Stampfen setze ein. Die Bilder auf dem Kaminsims tanzten im Takt der rhythmischen Schläge, stürzten, brachen klirrend. Metallisches Hämmern und Rattern, erst langsam, dann schneller, schneller, schneller, bis alles nur noch Dröhnen und Brummen war. Die Glühbirne schaukelte an der Decke, Bilder fielen von den Wänden, in den Schränken klapperte, klirrte und schepperte es.
Plötzlich Stille.
Dann wieder die Sirene – Pfeifen, ein großes Paket plumpste auf die Scheite, Pfeifen, ein Kleineres folgte, Pfeifen, ein Röhrenförmiges fiel herunter und rollte aus dem Kamin, Pfeifen, dann nichts mehr.
Vater trommelte mit einem Stift auf dem Klemmbrett, setzte ihn auf das Papier, hakte ab.
„So“, sagte er.
„Fenster zu?“ Mutter beugte sich zur Seite, sah am Weihnachtsbaum vorbei zu Vater.
Dieser trommelte wieder, zog die Brauen hoch und pfiff leise.
„Ja“, sagte er schließlich.
Der Sohn stand auf und ging zum Fenster. Styroporflocken wehten im sanft surrenden Ventilatorenwind, bedeckten den Vorgarten, die Straße und die Dächer der Reihenhäuser.
Kinder schlurften durch das knirschende Weiß, kippten Leim aus kleinen Eimern auf den Boden, griffen in die verklebte Styropormasse, formten Kugeln und warfen, ohne zu zielen. Ein Mädchen bepinselte einen Klumpen mit Klebstoff, rollte ihn durch die Flocken, bepinselte ihn wieder, fasste darunter, ließ ihn weiter kullern.
Der Sohn schloss das Fenster. Irgendwo dröhnte eine Sirene.
Mutter hatte derweil die Geschenke vor die drei Stühle gelegt und Rußreste vom roten Glanzpapier gewischt.
Vater sah auf seine Liste, hakte ab und setzte sich. Alle setzten sich.
Der Sohn betrachtete das große Paket, das vor ihm stand. Es wackelte und bebte, beulte sich aus und kippelte. Er stupste den Karton mit der Schuhspitze an. Im Inneren raschelte es, etwas schlug dumpf gegen die Pappe.
„Gedicht“, sagte Vater.
Der Sohn beugte sich zum Paket herunter und berührte es mit seinem Zeigefinger.
„Gedicht“, wiederholte er.
„Ja.“ Der Sohn stand auf, ging auf den Baum zu und blieb an einer gelben Markierung auf dem Boden stehen.
Er griff in die Hosentasche, zog einen Zettel heraus und las ab: „Weihnachten: rot/weiß Schuhe grün Zimt Kamin schleifen Rauch Baum Papier – Schere Pakete Nadeln/nadeln schneeweiß Pracht Sterne Stall/Holzlatten Mistelzweig und Dornen Kuchenteig drei gelb Kreuz Krone Schlitten Glocke heilig/Geist.“ Dann setzte er sich wieder.
„Sehr schön“, sagte Vater.
„Sehr schön“, sagte Mutter.
Ein Stift kritzelte, das Paket raschelte; draußen war das Surren der Gebläse in einen jaulenden Sturm übergegangen. Der Weihnachtbaum schaukelte; etwas schlug von unten gegen die Falltür, auf der er stand. Schreie drangen gedämpft durch das Holz; Brüllen,Wimmern und Geheul, raues Gelächter und leiser Gesang.
Vater kratzte sich am Kopf, Mutter rückte ihren Stuhl nach hinten, weg vom Baum.
„Hält die Tür“, fragte sie.
Vater nickte: „Der Baum ist schwer genug.“
Der Sohn hob kurz den Blick und starrte dann wieder sein Geschenk an. Das Papier hatte bereits Risse bekommen.
Vater sah auf seine Liste. „Auspacken“, sagte er.
Mutter fing an; sie löste die Klebestreifen und zog das Papier ab, dann steckte sie zwei Finger in die Pappröhre und zog ein Bündel Besteck heraus: Messer und Gabeln, von einem Gummiband zusammen gehalten.
Sie lächelte, während sie das Papier faltete, vor ihre Füße legte und mit dem Besteckbündel beschwerte.
„Schön“, sagte der Sohn. Sein Geschenk kippelte vor und zurück, von links nach rechts. Er stellte seinen Fuß darauf, hielt es am Boden.
„Schön“, sagte Vater, legte sein Paket auf den Schoß, löste das Papier und öffnete die Schachtel. Dann griff er hinein, holte einen Stapel Teller heraus, stellte ihn auf den Boden, faltete das Papier, legte es in die Schachtel, ließ sie von seinem Schoß rutschen und schob sie mit dem Fuß neben die Teller.
„Schön“, sagte Mutter.
„Schön“, sagte der Sohn und griff nach seinem Paket.
Gesang vor der Tür, helle Kinderstimmen und leise Glockenschläge.
Er löste die Finger vom Papier und sah zu Vater, dann zu Mutter. Beide nickten, also stand er auf und ging zur Tür. Die Straße war leer, Flocken trieben fast waagerecht vorbei. Der Henkel eines Leimreimers ragte aus einer Verwehung, daneben zerrte der Wind an aufeinander gestapelten Styroporbrocken.
Der Sohn senkte seinen Blick. Auf der Fußmatte stand ein schwarzes Kofferradio und schepperte ein Weihnachtslied. Die Lautsprecher knackten und rauschten, der Kinderchor quietschte und schraulte, kämpfte gegen den Wind.
Der Sohn kramte ein paar Münzen aus seiner Hosentasche und warf sie auf das Radio, dann schloss er die Tür und ging zurück zu seinem Stuhl.
„Weihnachtssänger“, sagte er.
Die Musik wurde leiser, während der Sohn das Papier von seinem Geschenk löste, verstummte, als er den Klebestreifen vom Deckel der Pappschachtel zog.
Vater setzte seinen Stift auf die Liste, Mutter sah zum Paket, dann zum Weihnachtsbaum, dessen Schmuck klimperte, bei starken Schlägen gegen die Falltür abfiel und zerbrach, dann wieder zum Paket.
Die Deckelhälften der Pappschachtel hüpften, eine kleine Hand schob sich durch den Spalt und griff in die Luft.
Der Sohn beugte sich herunter und klappte den Deckel zurück. Ein Säugling lag in dem Karton, auf Stroh gebettet, das rote Gesicht verzerrt. Der Mund war mit einem Tuch verstopft, das Tuch mit Klebeband befestigt.
„Schön“, sagte Mutter.
„Schön“, sagte Vater, hakte ab und klopfte mit seinem Stift auf den letzten Punkt der Liste. „Essen.“
Mutter nickte, stand auf, ging in die Küche und heizte den Backofen vor.
Anmerkung wegen Titeländerung: Diese Geschichte gehört zum TdM Dezember: Besondere Geschenke.