Suche im Schnee
Die hölzerne Kirchentür schiebt eine Wolke abgestandenen Weihrauchs nach draußen, dann schlägt sie eisern ins Schloss. Ich seufze.
Die erste Woche hier hatte ich mir anders vorgestellt. Mein Blick wandert über den menschenleeren Marktplatz. Weiche Schneeflocken wehen mir in die Augen.
Dann ein Schlag ins Gesicht, und mir brennt die Wange vor Kälte und Schmerz. Die beiden Spitzbuben laufen lachend die Dorfgasse hinunter. Ich wische die Reste des zerplatzten Schneeballs weg und wärme mir die Backe mit meiner Hand. Dann marschiere ich los, gebe Acht, dass ich beim Laufen auf dem Kopfsteinpflaster nicht ausrutsche.
Vor dem Rathaus erwartet mich der Bürgermeister schon. Die große Pforte zu seinem Amtssitz steht offen. Er winkt mir ungeduldig zu. In seinem Vollbart ist der Schnee zu Wasser geschmolzen und dann zu feinen Eiszapfen gefroren.
„Er ist…“, rufe ich atemlos, heraneilend.
Der Wartende lässt mich nicht aussprechen: „Ich weiß, ich weiß! Der arme Hans Wagenheber… Nehmt das!“ Er schwenkt einen Briefbogen, der zu einem Kuvert gefaltet ist. „Und beeilt Euch!“
Ich komme heran, nehme den Brief: „Wo sind sie? Wo treffe ich sie?“
„Treffpunkt ist der Berggasthof in Kappishäusern. Es kommen Männer aus Neuffen, Kappishäusern, Metzingen und Dettingen natürlich.“
Ich nicke.
„Worauf wartet Ihr?“, fährt mich der aufgeregte Vollbart an.
Ich hebe kurz die Hand zum Abschied, er hat sich schon umgedreht und geht den kurzen Weg zurück ins Rathaus.
Schon jetzt bereue ich, dass ich mich bereit erklärt habe, den Botendienst zu übernehmen. Der Schnee auf den Dorfstrassen ist zu braunem Schlamm niedergetreten.
Ich nehme die Brücke an der Mühle. Meine Hände suchen nach Halt am Geländer, die Holzplanken der Brücke sind morsch und löchrig. Unter ihnen gähnt der Abgrund, in dem das schwarze Wasser des Flusses Erms ins Tal schießt.
Auf der anderen Seite im Müllerhaus sitzt eine alte Frau am Fenster. Sie bekreuzigt sich, als sie mich sieht, und wendet sich ab.
Der Schneefall wird stärker. In meinen Haaren vereisen die Schneeflocken. Meine Stiefel werden schwer. Durch die Löcher und Spalten zwischen Schuh und Strumpf dringt der Schnee bis zu meinen Füssen.
Wie eine dicke Decke liegt er über den Häusern. Ich fühle geradezu die weiße Last auf den Dächern.
Ein Hund schlägt an, als ich am letzten Bauernhof des Dorfs vorbeigehe. Ein Knecht tritt ihn, er jault auf. Dann ist wieder Stille.
Ich beginne den Aufstieg des Jusibergs.
Die Schneedecke ist knietief. Ich sehe die Abdrücke von großen Männerstiefeln vor mir. Das müssen die Männer sein, von denen der Bürgermeister sprach. Ich trete in ihre Spuren. Das spart Kraft. Der Weg führt quer am Abhang entlang. Schon nach kurzer Zeit liegt das Tal vor mir. Doch meine Sicht wird kürzer. Es ist nicht nur die graue Schneewand. Sondern das Tageslicht nimmt auch ab. Die Nacht fällt herein.
Ich habe immer mehr Schwierigkeiten, die Spuren vor mir im Auge zu behalten.
Der Aufstieg kostet Kraft. Ich atme schwer, fange trotz Kälte an zu schwitzen.
Mein Kopf, mein Nacken, meine Füße werden schneekalt.
Je höher ich komme, desto mehr nimmt der Wind zu.
Und wenn ich ihn jetzt treffe? Ihn. Ich habe soviel Angst, dass ich trotz Kälte noch eine Gänsehaut bekomme. Nur ruhig bleiben. Hat man mir nicht Ruhe angelernt? Berufsvoraussetzung. Aber wenn er jetzt vor mir jetzt stehen würde? Lieber im Schnee einsam verrecken.
Das Dorf Dettingen. Was hatte ich mir Illusionen noch vor einer Woche gemacht. Aber Illusionen entstehen schnell, wenn man die Außenwelt wie durch ein Gefängnisgitter sieht.
Die Fußabdrücke… wo sind sie? Mist. Ich habe sie verloren.
Die Nässe setzt sich in meinen Nacken, lässt meine Füße zu Eiszapfen werden.
Ich hebe den Kopf. Wo ist der Bergrücken? Wo ist Kappishäusern?
Ich folge der Steigung nach oben. Irgendwo muss ich ja rauskommen.
Der Wind fegt mir ins Gesicht. Der Schnee in meinen Haaren wird zur Eiskruste.
Rechts muss es nach Neuffen gehen. Vor mir liegt der Bergkamm. Ist da nicht eine Hütte?
Ich stöhne, der Aufstieg wird zur Qual. Doch die schwarzen Umrisse formen sich wirklich zu einer kleinen, fast quadratischen Hütte. Von Almhirten gebaut. Aus grobem Stein. Zum Schutz vor Regen und Wind. Keine Tür, nur ein großer Eingang mit Holzrahmen. Ich atme auf, ich brauche eine Pause.
Doch wenn er… Ich zucke zurück. Blödsinn. Ich steige weiter nach oben.
Schon im Windschatten der Hütte wird mir etwas wärmer. Doch dann zögere ich, einzutreten.
Wenn er neben dem Eingang in der Dunkelheit steht? Quatsch.
Ich setze vorsichtig einen Schritt vor den anderen und stoße an etwas.
Ich schrecke zurück.
Ich neige mich hinab, um den Gegenstand im Eingangsbereich zu erkennen.
Es ist ein Ziegel. Daneben ein zweiter. Ich schaue in der Hütte hoch. Ein Holzgiebel gibt dem Ziegeldach Halt. Der Wind pfeift durch die schmalen Spalten. Ich kann aber kein großes Loch im Ziegeldach ausmachen.
Es ist jedoch verflucht dunkel hier. Ich trete ein. Zwei Löcher bilden Fensterrahmen in zwei der vier Wände, die Schnee und Kälte hereinlassen. Doch ist es deutlich wärmer hier drinnen.
Ich atme beruhigt durch.
Eine Bank an der Wand, an der weder Fensterloch noch Türdurchgang sich befindet, lädt zum Sitzen ein.
Seufzend setze ich mich.
Das tut gut.
Doch…
Mein Unbehagen wächst.
Menschen haben einen Rest an animalischem Instinkt bewahrt.
Und dieser Instinkt sagt mir… es ist zu warm hier! Ich bin nicht allein!
Plötzlich ertönt eine schwache Frauenstimme aus dem Dachgebälk: „Wer bist du, Mönch?“
Ich fahre zusammen. Bleib ruhig, red ich mir ein.
„Ich bin der neue Pfarrer von Dettingen.“, antworte ich wahrheitsgemäss.
Stille.
„Und wer bist du?“, frage ich daraufhin.
Heiseres Lachen aus dem Gebälk: „Willst du wissen, wer ich bin, oder was die Leute sagen, wer ich bin.“
„Ich will natürlich…
„Ich bin das Kräuterweiblein…“
Tatsächlich? denke ich. Im Gespräch mit den Dorfbewohnern ist von ihr schon die Rede gewesen.
„Was machst du hier draußen? Im Schnee und in der Kälte!“
„Pfarrer, Ihr werdet zugeben, dass sich meine Kräuter nicht in den Stuben der Bürger finden lassen…“
Schweigen.
„Hast du nicht Angst vor ihm?“, frage ich in die Dunkelheit.
Sie schweigt.
Dann sagt sie langsam:„Ich weiß, was passiert ist. Ich habe keine Angst vor ihm. Meine Cousine ist die Magda Wagenheber, die Frau vom Hans…“
Ich schaue in das graue Unwetter vor der Hütte und fühle den Brief in meinem Mantel.
„Ich muss weiter.“
„Einen Moment noch, Pfarrer.“, fragt sie. Ihre Stimme hat sich geändert. So als wäre es nicht mehr die Stimme einer heiseren, frierenden Frau, sondern die weiche, verletzliche Stimme eines Mädchens.
„Ihr kennt euch doch aus, Vater… Gibt es das? … Die Liebe?“
„Da fragst du den Falschen, Kräuterweiblein, ich muss daran glauben, schon von Amts wegen. Komm zu meiner Predigt nächsten Sonntag!“
Sie kichert: „Das kann ich wohl kaum tun.“
„Warum nicht?“
„Ach, das versteht Ihr nicht.- Aber ich habe Euch gefragt, Euch den Mann vor mir und nicht den Prediger.“
„Ich?“ Ich verhalte einen Moment. Der Wind pfeift. Ich friere. Ist dies der richtige Ort, einer Fremden etwas Persönliches sagen? Meine Überzeugung, mein tiefstes Geheimnis…
„Nun?“, will sie wissen.
Ich schlucke: „Doch… ich glaube an die Liebe. Vor einigen Jahren liebte ich eine Frau innig, sie zog alle meine Sinne auf sich zusammen. Sie war aus dem Nachbardorf Ölbronn. Die Klostermauern wurden mir eng. Ich lebte nur für die Momente, in denen ich sie draußen wieder treffen konnte. Sie war schön wie… ein Engel. So fein. So gütig.“
Ich setze einen Moment ab. Das ist nicht alles. „Doch ich war schon zum Priester geweiht. Und ich wollte… meine Liebe zu Gott… ich konnte nicht…“
Ich verheddere mich. Was will ich eigentlich sagen? Schließlich sprudeln die Worte aus mir heraus wie ein reißender Fluss: „Sie hat mir gezeigt, was Gott uns allen wünscht. Sie war da. Immer da. Mein Schutzengel. Sie hat mich beflügelt. Ich habe alles neu entdeckt. Die Natur. Die Menschen. Unsere Gefühle. Wie eine warme unendlich tiefe Quelle. Damals habe ich verstanden, was es heißt: Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie bläht sich nicht auf; sie verhält sich nicht ungehörig, sie sucht nicht das Ihre, sie lässt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu; sie freut sich nicht über Ungerechtigkeit, sie freut sich aber an der Wahrheit; sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles. Die Liebe hört niemals auf…“
Ich breche ab, atemlos, mir ist unerträglich heiß im Kopf, ich schwitze. Ich habe es gesagt. Niemals wollte ich mein Geheimnis preisgeben, und doch, ich habe es getan. Ich hechle, sauge die eiskalte Luft ein. Möchte mich beruhigen, abkühlen. Fasse mir mit der kalten Hand auf die heiße Stirn.
Das Kräuterweiblein sagt nichts. Ist es überhaupt noch da? Ich muss über ihren Kopf hinweg geredet haben, wie es mir so oft bei der Sonntagspredigt passiert.
„Nun denn“, ich wende mich ab, zum Abschied bereit. Der Schnee fällt unablässig.
„Wartet“, klingt ihre Stimme matt aus der Dunkelheit.
Aus dem Dachgebälk hangelt sich die Frau herab, kaum als Mensch erkennbar. Sie ist in Lumpen gehüllt, man kann es nicht Kleider nennen. Ihre langen Haare hängen wirr und ungekämmt ins Gesicht. Ihr Gesicht ist bleich und abgemergelt. Ihre Augen sind rot. Über ihre Backen sind Tränen gelaufen. Sie streckt den Arm aus, hält mir etwas entgegen. Es ist ein kleines Fläschchen.
„Danke Vater. Aber ich kann nicht glauben, was Ihr sagt. Das sind Märchen für Kinder“, sagt sie mit gebrochener Stimme. „Nehmt das. Nur ein Tropfen, das genügt. Das hilft gegen Kälte und Krankheit.“
„Ich weiß nicht, ob ich…“
„Nehmt es und geht…“
Ich nehme ihr das Fläschchen aus der Hand, halte einen Moment ihren Arm zurück. Sie zuckt nicht, sie zieht den Arm nicht zurück.
„Meine Tochter, gehet hin im Frieden des Herrn.“ Ich löse meinen Griff und mache ein segnendes Kreuzzeichen vor ihrem Gesicht.
Zuerst lächelt sie überrascht. Amüsiert. Und glücklich. Doch dann entweicht das Lächeln ihren Lippen. Ihr Gesicht wird kraftlos. Ihre Wangen fallen zusammen. Eine Träne löst sich aus dem linken Auge. Sie beginnt lautlos zu weinen. Sie hebt mechanisch die rechte Hand und bekreuzigt sich rasch als Antwort zu meiner Segnung.
„Geht“, schluchzt sie und verschwindet im Dunkel.
Unschlüssig bleibe ich einen Moment stehen. Der Brief des Bürgermeisters. Ich muss los.
Kaum aus der Hütte heraus, spüre ich den scharfen Wind wieder. Doch etwas hat sich geändert. Ich habe es gesagt. Ich habe es gesagt! Ein warmes Glücksgefühl durchläuft mich, ich fühle die Kälte des Schnees nicht. Das Kräuterweiblein hat mir zugehört. Ich weiß jetzt, dass es richtig war, das Kloster zu verlassen. Ich muss wieder an den schönen Kreuzgang im Kloster Maulbronn denken. So schön und doch so eng. Ich konnte nicht bleiben. Ich fühlte mich wie in einem Gefängnis. Ich wollte das wirkliche Leben kennen lernen. Ich ging also zum Abt und fragte ihn, ob ich Gemeindepfarrer werden könnte.
Ich stapfe bergan. Doch mit der Kälte, dem Wind und den schweren Schritten im Schnee kehren die Erinnerungen an den letzten Tag zurück. Der furchtbare Tod von Hans Wagenheber. Der Mörder hatte ihn mit gebrochenem Genick einfach in seiner Wohnstube zurückgelassen. Seine arme Frau hatte ich so gefunden.
Mein Gott, musste so etwas passieren? In meiner ersten Woche in Dettingen.
Noch in der Dorfkirche war der Bürgermeister zu mir an die Bahre getreten.
„Ich brauche Eure Hilfe, Pfarrer“, flüsterte er, so als ob er den Toten aufwecken könnte.
„Ja, sprecht!“, wandte ich mich an den Dorfbürgermeister.
„Ihr müsst einen offiziellen Brief überbringen. Ich kann jetzt aus dem Dorf nicht weg. Tut mir den Gefallen.“
Ich hatte genickt, nicht wissend, dass er mich nach Kappishäusern schicken wollte. Dann hatte ich dem Toten die letzte Salbung gegeben, bevor ich den Brief beim Bürgermeister abholte.
Die Kälte beißt im Gesicht. Liegt Kappishäusern nach der nächsten Wegbiegung, oder ist es noch eine Stunde Weg? Ich weiß es nicht mehr.
Ich habe immer mehr Mühe, die Beine aus dem Schnee zu heben, um dann wieder darin einzusinken. Ich stöhne vor Anstrengung.
Und wenn jetzt der Mörder meinen Weg kreuzt? Er hätte leichtes Spiel. Ich erschaudere.
In meiner Manteltasche fühle ich das Fläschlein.
Gegen Kälte und Krankheit? Ich hole es rasch hervor, nehme den Pfropfen heraus, benetze den Zeigefinger, lecke ihn ab. Im selben Moment durchfährt mich eine Hitzewelle, das ich husten muss. Meine tauben Füße wachen auf, meine Hände schmerzen wieder vor Kälte. Ich fühle neue Kraft, setze den Stopfen wieder auf den Flaschenhals. Verstaue die Flasche.
Ich wandere gestärkt durch die weiße Wüste. Am Bergrücken entlang. Müsste ich nicht längst da sein? Ich erreiche nächste Wegbiegung.
Da liegen die schwarzen Schatten der Häuser.
Das Bergdorf Kappishäusern umfasst nur drei Höfe, eine Kapelle und einen Berggasthof. Alle Gebäude liegen im Dunklen. Ich überquere müde aber glücklich die schlammige Dorfstrasse.
Ich bin angekommen.
Kein Mörder.
Ich habe meinen Auftrag erfüllt.
Auf der Stiege der Gaststätte stapfe ich auf, um den Schnee von meinen Stiefeln zu schütteln. Ich drücke die Klinke, die schwere Tür gibt nur unwillig den Weg nach innen frei.
Es stinkt nach Rauch, Schweiß, Dreck. Im Kamin ist das Feuer heruntergebrannt. Aber es ist warm in der Stube. Meine durchfrorenen Glieder tauen auf. An der Theke sind die Bierhumpen geleert. Das Kerzenlicht bescheint flackernd die Gesichter der sieben Männer, die am Tresen stehen. Sie haben sich Mut angetrunken. Starrer Blick. Langsame Bewegungen.
Der Wirt hat mich bemerkt und ist über meinen Besuch nicht erfreut, scheint es. Ich kenne die Gesichter der sieben Männer. Drei Bauern aus Dettingen. Ein anderer aus Neuffen. Ein weiterer aus Kappishäusern. Ein Knecht. Ein Kutscher. Samt und sonders einfache Männer. Verschwitzte Haare. Zerfurchte Gesichter. Ungestutzte Bärte. Am Gürtel tragen sie Messer und Knüppel.
Meine Hand unter dem Mantel sucht den Brief des Bürgermeisters.
„Grüss Gott, der Herr Pfarrer“, meint einer der Dettinger Bauern, es ist der Meier.
„Trinken Sie eine Halbe mit?“, fragt ein anderer.
Ich schüttle den Kopf und lege stumm den gefalteten Briefbogen auf den Tresen neben die Bierkrüge.
Der dicke Bauer neben mir dreht sich jetzt zu mir. Es ist der Gerhard Wagenheber, der Bruder vom Hans.
„Was soll das, Pfaffe?“, fragt er und reißt das Kuvert auf. Er beginnt zu lesen, seine Lippen formen die mühsam entzifferte Schrift, schließlich verziehen sich seine Mundwinkel zu einem Grinsen: „Der Richter des Grafen erteilt uns den Auftrag, den Mörder zu suchen und zu fangen. Und der Bürgermeister hat auch seinen Siegel druntergesetzt!“
„Ihr sollt den Mörder von Hans Wagenheber suchen?“, frage ich verdutzt.
„Ei, Mönchlein, hättest du dir deine Zeit als Dorfpfarrer so vorgestellt, als du noch im Maulbronner Kloster warst?“, höhnt einer.
Die Bauern lachen.
Gerhard packt mich hart am Arm: „Segnen Sie uns, Pfarrer!“
„Wie? Ich…“, daran hatte ich nicht gedacht, als der Bürgermeister mir den Botendienst aufgetragen hatte.
Die Männer stellen sich in einem Halbkreis um mich herum. Ich nehme das Holzkreuz, das ich um den Hals trage, ab, hebe es und spreche betont und laut: „Gesegnet seid ihr. Gehet hin und bringt Frieden und Gerechtigkeit im Namen des Vaters und…“
Alle bekreuzigen sich mechanisch.
„Wohin geht ihr jetzt?“ rutscht mir die Frage heraus: „Wo hat sich der Mörder versteckt?“
„Der kommt nicht weit“, meint der Neuffener, „wir wissen, dass er sich im Wald am Jusiberg versteckt hat.“
Sie nehmen ihre Mäntel vom Haken.
Der Gerhard kommt auf mich zu, sein glasiger Blick fixiert mein Gesicht, sein Schritt ist schwer und unbeholfen. Vor meinem Gesicht hält er inne.
„Die Hure finden wir!“
„Hure?“ Ich versteh gar nichts mehr.
„Die Hure, Hexe, Mörderin meines Bruders, hat sich immer an ihn rangeworfen, jetzt hat sie ihn umgebracht, meinen armen Bruder.“
Ich erstarre. Habe ich richtig verstanden? „Warte, Wagenheber, ich verstehe nicht…“
„Und das Kräuterweiblein weiß, dass ich sie suche. Sie entgeht mir nicht, die Mörderin.“
Und er schiebt mich wie ein unverständiges Kind beiseite, drückt mich gegen die Wand. Dabei fällt aus meiner Manteltasche das Glasfläschchen, es rutscht über die Holzbohlen und knallt gegen die Theke.
„Aber das ist doch…“, der dicke Gerhard beugt sich nieder, erkennt es scheinbar, „die Flasche von meiner Frau… das Elixier.“
Ich weiß nicht, wie ich dieses Missverständnis aufklären soll.
„Hat sie es Euch gegeben, Pfarrer?“, fragt er überrascht.
„Nein! Es ist eine ganz andere Mischung…“
„Nein?“ Er hat mir gar nicht zugehört, sondern zieht den Pfropfen heraus und riecht an der Flüssigkeit. „Und doch, das ist es, besser als alles andere, Herr Pfarrer, das hilft immer… besonders wenn, … ach, das kann ich Euch nicht sagen… har… har…“ Er wiehert schwerfällig. „Das Elixier… wenn Ihr wüsstet… selbst wenn die Frau nicht will… das ist gut.. das bringt mich immer in Stimmung…“ Der Mann packt sich zwischen die Beine, ich schrecke zurück. Seine Kumpanen am Tresen grölen. Gerhard hebt den Kopf nach hinten und kippt den Inhalt der kleinen Flasche in einem Zug in sich hinein.
„Nein!“
Ich stürze auf ihn zu, versuche die Flasche zu ergreifen. Zu spät. Die Flasche fällt aus seinen Händen. Gerhard sackt in sich zusammen; sein mächtiger Körper kracht auf die Bohlen. Ich eile herbei. Seine Augen weiten sich. Er röchelt in Todesnot.