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Suizid
Jede einzelne Muskelfaser in seinem Körper ist angespannt - seit so vielen Jahren, dass es fraglich ist, ob sie ihre Aufgabe noch erfüllen würden, wenn er sie eines Tages brauchen würde. Doch diesen Gedanken denkt er nicht. Stattdessen nur: “Ich bin bereit. Komm.” Immer nur diese vier Wörter. Sein Wortschatz ist mittlerweile sicher schon genauso verkümmert, wie seine Muskeln. Aber er testet es nicht aus. Für solche Spielereien ist kein Platz.
Wenn er versuchen würde zu sprechen, würde er sicher nur ein erbärmliches Krächzen zustande bringen, so lange schon hat er keinen Ton mehr von sich gegeben, denn er befürchtet, dass ein einzelner Laut seine Konzentration stören könnte. Und so schweigt er seit er angefangen hat, zu warten. Schlaf, Nahrung und Wasser hat er aus seinem Repertoire der Bedürfnisse gestrichen, denn er muss bereit sein, wenn es kommt. Alles, was nicht Warten ist, ist Unachtsamkeit und schon eine einzelne Sekunde der physischen oder geistigen Abwesenheit könnte ihn den Sieg kosten - was er sich nie verzeihen würde.
Er wartet. Wenn er diesen geistig angespannten Zustand auch nur kurz verlassen würde, müsste er sich eingestehen, dass er vergessen hat, worauf. Vielleicht ist er sich dessen auch bewusst und hält die Erkenntnis so mit Absicht zurück, um nicht noch das letzte zu verlieren, was er hat. So weiß er nur, dass es kommen wird und das reicht ihm als Grund, nicht von der Stelle zu weichen. Es gilt, sein Leben zu schützen, in einem Kampf, der eine Seite unwiderruflich zerstören wird. Das ist für ihn gewiss.
Da er sich all die Jahre nicht einen Millimeter bewegt hat und sich somit auch nicht umgeblickt hat, besteht seine ganze Wahrnehmung aus dem Geräusch der Stille. Auch wenn um ihn die Welt in gewohnter Weise ihre wahllos aneinander gereihten Klänge von sich gibt, hört er nichts, da seine Ohren nur auf das Kampfgebrüll oder auch die schleichenden Schritte seines Gegners warten. Die Verarbeitung anderer Sinneseindrücke würde ihn Konzentration kosten. So könnte er auch nach all der Zeit, die seine Augen ununterbrochen auf den Asphalt zu seinen Füssen gerichtet sind, nicht bestätigen, dass sich ein feiner schmaler Riss unter ihm entlang schlängelt, der sich Tag für Tag ein fast unsichtbar kleines Stück weiter öffnet.
Hinter ihm, am Ende des noch nicht eingeweihten Schlachtfeldes hat er seinen ganzen Besitz versteckt, für den Fall, dass er fliehen muss. Seine Erinnerungen hat er dort vergraben, neben seinem Lachen, seinen Lastern, seiner Liebe, seinem Tick immer wieder seine Fingerkuppen an seinem Daumen zu reiben, seiner Art das „r“ beim Sprechen anderer Sprachen so übertrieben zu rollen, weil er es nicht besser weiß. Er hat sich selbst begraben am Ende des Schlachtfeldes, damit er nicht sterben kann.
Leise knackt der Asphalt, als der Riss sich weiter öffnet. Für ihn ist alles still.