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Sultana
Endlich spürte ich den ersehnten Ruck. Zwar schien es mir, als bewegte sich der Zug auf dem Gleis nebenan, doch die sanfte Vibration unseres eigenen Waggons ließ diese Illusion bald platzen. Ich saß meinem Großvater gegenüber in der zweiten Klasse und ließ meine kurzen Beine von der mit rotem, plastifiziertem Stoff bezogenen Bank baumeln. Die Dunstschwaden aus Großvaters frisch gestopfter Tabakpfeife breiteten sich langsam in unserem Abteil aus. Schon zum dritten Mal durfte ich mit ihm zur großen Landwirtschaftsmesse fahren.
"Um halb neun wartet er auf dich, bei der großen Uhr", hatte meine Mutter gesagt, und damit war klar, dass sie mich in diesem Jahr nicht mehr auf den Bahnhof begleiten würde. Mein Stolz war unübersehbar. Unser Zug schob sich ächzend und knarrend aus dem Hauptbahnhof, holperte über unzählige Weichen und begann schließlich bedächtig, das große Viadukt zu erklimmen.
"Da, schau", sagte Großvater und zeigte auf ein in die Jahre gekommenes Fabrikgebäude, welches auf der rechten Seite erschien. SULTANA CIGARETTEN stand in altmodisch geschwungenen Buchstaben quer über eine fensterlose Wand des Gebäudes geschrieben.
"Damals im Aktivdienst anno Dreiundvierzig haben wir hier meistens etwas zum Rauchen bekommen, bevor unsere Truppe weiter ins Tessin transportiert wurde", fuhr er mit ernster Miene fort.
"Auf dem Lukmanier war es in jenem Winter besonders kalt. Wochenlang haben wir auf den Feind gewartet. Mehr als einmal haben wir gedacht, jetzt kommen sie. Aber dann...". Großvaters Worte begannen sich in meinem Kopf zu drehen und verloren sich bald darauf im stahlblauen Himmel. Häuser, Masten und kurze Zeit später auch Bäume, Kühe und Bäche, alles reihte sich ein zu einem fließenden Reigen. Die Welt tanzte nur für mich, und unser Zug trommelte den Takt dazu. Ba-bamm ba-bamm, ba-bamm ba-bamm.
"Das war doch vergebens, alles für die Katz", hörte ich mich plötzlich sagen.
"Wenn sie gekommen wären, ihr hättet nichts ausrichten können“. Auf einen Schlag war der Tanz der Welt zu Ende. In meinem Kopf sirrte es wie nach dem letzten Böller eines großen Feuerwerks. Großvaters Nasenflügel zitterten, in seinen Augen flackerten Ärger und Enttäuschung. Ich starrte zu Boden. Heißes Blut schoss mir in den Schädel. Meine Ohren glühten, mein Puls und der Takt des Zugs hämmerten gemeinsam in meinem Kopf. Ba-bamm ba-bamm.
Nach ein paar zäh tropfenden, atemlosen Sekunden wagte ich es vorsichtig, zu Großvater hinaufzuschielen.
"Du hast ja keine Ahnung", murmelte er und machte sich umständlich an seiner erloschenen Tabakpfeife zu schaffen. Ich war fest davon überzeugt, in Großvaters Mundwinkeln ein versöhnliches Schmunzeln wahrgenommen zu haben. Erleichtert blinzelte ich in die Sonne und schwor mir leise, so rasch keine altklugen Kommentare mehr abzugeben.