- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 8
Surfen mit Goethe
Die großen Magier unserer Zeit sind die EDV-Spezialisten. Wie durch ein Wunder zentrieren sich unsere Texte, geben wir das magische Wort richtig ein. Schon eine kleine Leertaste zuviel, der Zauber verfliegt ins Nichts, und wir sitzen vor dem, was einmal unser Text gewesen ist, halb offenen Mundes wie ein Idiot. Darüber sollten wir uns nicht grämen, denn auch unsere großen Vorgänger im literarischen Schaffen hatten so manches Mal ihre liebe Not im Umgang mit der Technik.
Viele Autoren der Goethezeit schrieben noch mit der Hand, so wie Schiller, der uns, wenn wir uns sein Bildnis vor unser geistiges Auge rufen, nicht allein an die Schillerlocke erinnert, sondern auch an die Schreibfeder.
Im nahegelegenen Haus am Frauenplan hingegen war man weitaus moderner eingerichtet, denn der Kosmopolit war auch technisch seiner Zeit weit voraus. Erst heute, zu Zeiten des Personal Computers, konnte es einer sehr kleinen Gruppe von Germanistinnen gelingen, durch stringente Anwendung der Hermeneutik die Entstehungsgeschichte des Gedichtes "Der Zauberlehrling" nahezu lückenlos zu rekonstruieren:
„Hat der alte Hexenmeister sich doch einmal wegbegeben“, murmelte Goethe zufrieden vor sich hin, als Eckermann am Samstagnachmittag fort ging, seine Mutter besuchen. „Und nun sollen seine Geister auch nach meinem Willen leben.“
Goethe schrieb nicht mit der Hand, der wohlhabende Geheimrat hatte einen Sekretär. Darauf stand sein Computer, und davor saß nicht Goethe in persona, sondern besagter Eckermann, und der ließ sich schon lange nicht mehr in die Feder, sondern in die Tastatur diktieren. Das durfte natürlich niemand wissen, denn das hätte dem Image des Olympiers bei seinen weiblichen Fans durchaus geschadet. Alle dachten, der große dunkelhaarige Dichter mit den schönen braunen Augen säße zu nächtlicher Stunde allein hinter seinem Fenster, blickte versonnen zum Mond, eine Schreibfeder in seiner kraftvoll-männlichen Hand drehend, und wartete auf den zärtlich-inspirierenden Kuss einer Muse. Jede stellte sich dabei vor, wie es wohl wäre, diese Muse zu sein, war es aber nicht und verdächtigte heimlich eine andere, und so sollte es auch bleiben. Folglich fuhr Eckermann jedes Mal nach getaner Arbeit den Computer ordentlich herunter und verwahrte ihn hinter verschließbaren Klappen.
[Exkurs:]Die Romantiker waren, wie wir alle wissen, schon eine Generation weiter. Eichendorff, der oft und gerne den Mond besang, setzte sich beherzt selbst an seinen PC, dessen Initialen sich ausgeschrieben als "personal computer" entmystifizierten, also etwas ähnliches wie ein Tagebuch, nur seinem Besitzer zugänglich. „Und die Welt hebt an zu singen, triffst du nur das Zauberwort!“, soll er ausgerufen haben, als er nach vielen vergeblichen Versuchen endlich beim Surfen auf „Youtube“ landete. Und ist das nicht so viel romantischer als „Bin ich schon drin?“ (sic!)
Aber schon Goethe ließ es an jenem Samstagnachmittag nicht an Selbstvertrauen fehlen. „Seine Wort und Werke merkt ich, und den Brauch, und mit Geistesstärke tu ich Wunder auch“. Entschlossen drehte er den Schlüssel im Schloss seines Sekretärs.
Draußen ging Christiane vorbei. Sie sollte natürlich nicht merken, was er vorhatte, denn sonst hätte sie sich womöglich dazugesellt und zuschauen wollen. Kein Mann, der auf sich hält, will eine Frau bei seinem Computer-Waterloo dabei haben. „Und nun komm, du alter Besen“, täuschte er geistesgegenwärtig anderweitige Verpflichtungen vor, solche, die seine Lebensgefährtin möglicherweise hätten erfreuen können. Und richtig, beim Fegen seiner Stube wollte sie ihn nicht stören und ging ohne ihn zu Mainz05.
Endlich allein. Er drückte den Power-Knopf, und der Rechner fuhr hoch.
Statt jedoch das erwartete weiße Blatt auszubreiten, das Goethe immer sah, wenn Eckermann sich anschickte, ein neues Kapitel von „Dichtung und Wahrheit“ zu Monitor zu bringen, wollte der Computer zuerst etwas von ihm wissen. Goethe überlegte angespannt, musste sich aber letztlich der bitteren Erkenntnis stellen: „Doch ich merk es, wehe, wehe, hab ich doch das Wort vergessen!“ Zorn übermannte ihn, doch nichts half, kein Fluchen, kein Rütteln, kein Dagegentreten - „Oh, du Ausgeburt der Hölle!“ - kein Aus- und wieder Einschalten, kein Suchen nach dem Wort unter der Tastatur, nichts.
„Ach, nun wird mir immer bänger…“, flüsterte Goethe da und suchte anderenorts nach Weisheit: “Helft mir, ach, ihr hohen Mächte! Herr, die Not ist groß!“
Da ging knarrend die Haustüre auf, Schritte tappten durch den Hausflur, langsam kam jemand die enge Stiege herauf: „Seht, da kommt er schleppend wieder“, Es war Eckermann, vorzeitig zurück, denn seine Mutter war ebenfalls allein zu Mainz05 gegangen, „Und nun kann ich hoffen, und ich atme frei.“, seufzte Goethe, versperrte rasch den Sekretär, griff hastig nach Besen und Feudel.
„Nass und immer nässer wird´s im Saal und auf den Stufen“, bemerkte Eckermann indigniert und trat, als habe er nichts bemerkt, an den Sekretär, öffnete die Klappen. Er fuhr den Rechner hoch, tippte das Passwort in die Tastatur, und ein aufmerksamer Beobachter hätte hören können, wie er leise in sich hineinlachte: “Denn als Geister ruft euch nur zu seinem Zwecke erst hervor der alte Meister.“
Und der Dichter, ganz erfüllt von den aufregenden Geschehnissen dieses Samstagachmittags, hub an, sein neuestes Werk zu diktieren: "Hat der alte Hexenmeister..."