Susanne in Rot
"Durch die Ritzen meines Rollladens sehe ich sie unter der Woche auf der gegenüberliegenden Straßenseite an der Bushaltestelle stehen. Meistens legt sie ihre Tasche kurz bei Seite und versucht einige zu Sehnen verklebte Haarpartien zu entwirren, ohne dabei ihre Ehrlichkeit auch nur im Geringsten zu entwürdigen.
Sie trägt fast ausschließlich zu ihrer Haut kontrastreiche Farben, meistens schwarz oder dunkle Rot-Töne. Nicht blutrot - darunter wird fälschlicherweise ein ganz bestimmter, eher heller, Farbton verstanden. Hell wird es jedoch nur, wenn man es verreibt. Tritt es stoßartig hervor, reicht seine farbliche Nuance bis annähernd Schwarz. Eben dieser Ton ziert ab und wann ihre Haut.
Manchmal stehe ich, wenn ich Zeit finde die Schere niederzulegen, am Spion und inspiziere den Hausflur. Geht sie vorbei, warte ich kurz, koste dann ihren zurückgelassenen Duft im Gang. Passiert dies morgens schmecke ich hellblau, kommt sie von der Arbeit erscheint sie mir eher süßlich steril.
Montags gegen Mittag sitze ich vor meinem Schreibtisch, die Halogenlampe, wie immer angeschaltet, und suche nach dem Muster in dieser Seuchensache. Es ist nur ein Teilaspekt - das weiß ich. Die Wahrheit ist in der Summe ihrer Lügen, nicht die einzelne.
Anfangs versuchten sie noch den Grad der Gefährdung zu vertuschen - das ist die Natur der Hierarchie - mehr nicht. Es lenkt ab. Die Wahrheit ist irgendwo anders zu suchen - irgendwo in oder zwischen den Zeitungsausschnitten an meinen Wänden.
Meine Forschungen haben inzwischen unüberschaubare Dimensionen angenommen. Die Hinweise sind zu vielfältig, als dass ich ihr Geflecht noch deuten könnte.
Ich fahre über die Artikel, suche nach Verbindungen. Doch es ist unmöglich einen Anfang oder ein Ende zu finden. Vielmehr verstricke ich mich immer tiefer in ihre verschiedenen Sprachen. Sie nutzen unterschiedliche Dialekte, die Inhalte bleiben die gleichen. Man denkt, es sind andere.
Ein Anzug widerspricht dem anderen.
Sie wollen verfilzen.
Sie treiben einen in die Enge. So überbelasten sie unsere Gehirne.
Ich glaube, ich schreie – nehme den Hammer, schleudere ihn gegen die Wand, stoße es von mir und kann wieder denken.
Eine Delle bleibt zurück. In ihr zwei der Zeitungsausschnitte - ich versuche sie heraus zupulen. Kalk bröselt auf meine Schuhe und dann stoße ich gegen ihre Tapete – nur Millimeter trennten mich die ganzen Monate von ihrer Wohnung.
Mit dem Schraubenzieher stoße ich behutsam einen winzigen Spion in ihr Wohnzimmer. Um diese Zeit ist sie arbeiten – die Wohnung ist annähernd leer. Auf dem Parkettboden steht eine verlassene Couch mitten im Raum, davor zwei überquirlende Kartons. Dann nur noch ein Schreibtisch, vollgestellt mit Gläsern und gebündelten Papieren.
Am nächsten Morgen stehe ich eine halbe Stunde früher auf und positioniere meinen Schreibtisch so, dass sie mir während der Arbeit nicht entgeht.
Erst höre ich ihre Stimme, wie sie leise Töne in eine Melodie fasst. Sie wandelt nur in Badeschuhen durch das Zimmer, auf das Sofa. Ihr Körper ist knabenhaft, geradezu zerbrechlich. Streckt sie sich, flachen sich ihre Brüste zu einer Ebene. Ihre Vagina ist von dichtem Haar umgeben. Nichts an ihr ist künstlich. Sie ist war - wahrhaft vor meinen Augen. Ihren Duft kann ich dennoch nur auf dem Gang einfangen.
Sie geht morgens aus dem Haus, kommt abends zurück und verbringt den Rest der Zeit an ihrem Schreibtisch. Manchmal summt sie dabei. Sie benutzt die Gläser, dann macht sie Notizen und wieder. Es scheint bedeutend zu sein. Das beobachte ich eine Woche lang. Meine Arbeit leidet sehr darunter.
Mittwoch lasse ich sie sogar den ganzen Tag ruhen. Um sieben bin ich bereits unterwegs zur Haltestelle, eine Station vor der gegenüber meines Fenster.
Die Stadt hat sich verändert, wirkt merkwürdigerweise organischer. Vielleicht hat sich eine Bewegung formiert. Möglicherweise gibt es mehr von mir.
Oberste Priorität bleibt Vorsicht zu wahren. Manchmal bemerke ich nicht, dass ich sage, was nur für das Denken bestimmt ist. Ein falsches Wort an ein falsches Ohr kann mich gefährden. Lese nicht! Nur nicht auffallen.
Vor dem Haus steigt sie ein, setzt sich zwei Reihen vor mir allein auf einen Zweisitzer. Sie hat die Haare diesmal belassen, trägt das schwarze Kleid. Das ist alles.
Wir fahren an den Stadtrand. Vor einem Industriekomplex verlässt sie den Bus. Ich warte noch eine Station, renne dann wieder zurück. Sie arbeitet in dem Labor. Mehr erfahre ich nicht. Ich kann unmöglich den Pförtner befragen.
Als sie donnerstags nach Hause kommt, bin ich noch in den Zeitungen vertieft. Sie ist nicht allein. Mit ihr ist ein Anzug, sportlich, mindestens zwei Mal in der Woche beim Frisör. Erst das Labor, dann dieser Anzug! Möglicherweise hat sie mich getäuscht. Sie werden ständig perfektioniert. Vielleicht ist sie Teil einer neue Reihe. Sie setzen sich auf das Sofa und scheinen zu reden. Ich kann nicht hören über was! Gerüche und Worte sind zu groß für den Spion. Es ist mir unmöglich die Lügen filtern.
Einmal geht sie fort, holt etwas zu trinken und setzt sich wieder. Er berührt sie kurz, nur den Oberarm, lässt gleich wieder los. Sie ist verärgert.
Gegen Mitternacht gehe ich zu Bett. Sie sitzen immer noch auf dem Sofa – aber es passiert nichts.
Eine halbe Stunde später reißt mich Geschrei aus dem Schlaf. Ich höre, wie eine Tür zu schlägt. Der Spion verrät mir, er ist auf dem Flur. Irgendetwas muss passiert sein. Keine Zeit um in ihrem Spion nachzuforschen. Ich springe in eine Hose, stülpe mir ein Hemd über, stecke den Schraubenzieher hinten in die Hose und hetze zum Fahrstuhl. Davor steht wartend der Anzug, schaut nur kurz wer, wie kommt und starrt dann wieder auf die Pforte.
Es ist genau diese Art von Anzug, die Haare frisch frisiert, glatte Haut, wahrscheinlich Sonnenstudio - alles an ihnen ist makellos.
Sie kommen und gehen. Man weiß nicht genau, ob sie da waren. Doch sie hinterlassen etwas in einem, in den Gedanken.
Sie benutzen Vertrauen. Man merkt es gar nicht. Man kann es nicht fassen. Ihre Worte sind wie Formaldehyd. Doch manchmal machen sie Fehler.
Er sagt, er wisse gar nicht, dass sie morgen früh zur Arbeit muss. Und er leugnet, die Bedeutung ihrer Arbeit. Er dementiert.
Vier Stunden lang Gespräch auf dem Sofa und das ihr so wichtige Werk kommt nicht zur Sprache?
Ich greife in meinen Rücken und stoße in sein Zentralorgan.
Ist der Kehlkopf erst mal durchstochen, klingt er metallen. Die biologische Hülle wird abrupt fehlerhaft. Er ist angreifbar. Nur noch die Maschine in ihm funktioniert aber nur kurz - die Ölzirkulation ist gestört.
Der Schraubenzieher blockiert, sein überschüssige Öl kann nicht austreten und einen Druckausgleich bewirken. Er versucht durch schlucken den Fehler zu beheben. Nur die Flüssigkeit im Schädel kann durch den Mund austreten, dann sackt er zusammen. Die zentrale Steuerungseinheit versagt, die Apparatur versagt. Die Hülle gibt eine uringelbe Flüssigkeiten ab, erst dadurch erreichen sie den Druckausgleich. Die Perfektion wird von einer auf die andere Sekunde entlarvt. Am Ende stinken sie erbärmlich nach Mensch.
Freitags bin ich fast den ganzen Tag damit beschäftigt seinen Behälter in den umliegenden Wäldern zu entsorgen. Nur seine Krawatte hänge ich zu den anderen in den Schrank. Sie ist seiden, marineblau mit goldenen Querstreifen, ähnelt sehr zwei der anderen, ist aber wesentlich geschmeidiger.
Ich versuche die rückständige Arbeit aufzuholen, als es abends klingelt. Natürlich erwarte ich niemanden, weswegen ich das Geräusch auch erst ignoriere. Beim vierten Mal lege ich die Schere doch bei Seite.
Sie ist es. Durch den Spion kann ich fast ihr Gesicht fühlen. Meine Hände werden warm, feucht.
Besonders hoch entwickelte haben Sensoren für so etwas. Nach gestern bin ich mir jedoch sicher, sie ist keine – die feuchten Hände sind mir eher unangenehm. Kann sie mich täuschen? Ich wische meine Hände an der Hose ab, schreie dann ‚Moment' und bin im Arbeitszimmer, um mit einem Zeitungsartikel den Spion zu überdecken.
"Hallo," sie sucht mich im Türspalt. Ihr Gesicht ist so nah, dass ich es berühren könnte. Ich antworte irgendwie. Unter ihrem linken Auge hat sich eine schmale Narbe eingefräst. Das beruhigt mich, ich kann aber noch nicht reden.
"Susanne. Ich wohne nebenan." Wenn sie spricht klingt es, als sei sie unendlich weit weg und riefe mir etwas zu.
"Ich," ihr Blick ist auf den Boden gerichtet, "ich wollte fragen, ob Sie mir Kleber ausleihen könnten. Die Geschäfte haben schon zu."
Vielleicht ist sie gekommen um meine Arbeit zu blockieren. Manche von uns arbeiten mit ihnen zusammen. Sie versprechen sich Vorteile, wenn es vollbracht ist. Vielleicht hat sie das gestern mit den Anzug besprochen.
Ich hake nach, für was und sie erzählt etwas und ich entscheide mich ihr den Plastikkleber zu geben, nicht aber die Tesa-Strips oder den Klebstift - so kann ich weiterarbeiten.
Ich mache die Tür auf. Sie wandelt mit mir durch den Gang in mein Arbeitszimmer. Während ich den Plastikkleber suche, steht sie im Raum und infiltriert die Zeitungsausschnitte.
"Sind Sie Journalist?"
"Sowas in der Art."
"Was recherchieren Sie?"
"Ich suche ein Muster." Warum erzähle ich das überhaupt? Wenn sie zuviel weiß, muss sie sterben. Auch wenn sie eine von uns ist. Ich halte mein Mund, sage nur noch "Fass nichts an – das ist wichtig!" Sie geht rüber zur Vatikanwand. Ich beeile mich, bevor sie etwas entdeckt.
Doch es passiert. Ihr Kleid bleibt irgendwo hängen, ich sehe nicht wo, reißt eines der Zettel runter. Er segelt auf den Boden.
Sie sabotiert mich.
Die haben mich wieder in der Enge.
Ich greife nach dem Schraubenzieher, will ihn ihr in die Vorderstirn rammen.
Da reicht sie mir den Artikel, entschuldigt sich und ich fühle, dass sie meint, was ich höre und bin wieder klar. Ihr Blick weiß etwas!?
Sonntags versuche ich den Ausschnitt zuzuordnen. Ich lese diese Todesanzeige von Arthur Schmidt, ehemaliger Vorstand dieses Chemie-Konzerns, verstorben bei einem Autounfall im Januar 2002, den Artikel über den Chesna-Absturz im Frühling, der Raub im Forschungszentrum am Stadtrand, die Toten in Hong-Kong, die Epidemie im Kongo und Tansania im Winter.
Ich fahre die Wände mit schwarzbedruckter grauer Tapete entlang, Lüge über Lüge, Wort für Wort, Zahl für Zahl - auf einmal kenne ich die Wahrheit: Wir werden sterben.
Ich ziehe seine Krawatte aus dem Schrank, reiße die belangreichen Artikel von der Wand, überprüfe meine Denke noch mal auf Fehler, finde keinen.
Sie wird es verstehen.
Ich muss sie warnen.
Wir müssen handeln.
Noch auf der Schwelle fragt sie, ob ich den Kleber wieder bräuchte. Keine Ahnung, wo ich anfangen soll, sage "Ja!", obwohl ich um die Unaufrichtigkeit weiß. Sie meint sie sei fertig.
Ohne ein Wort, die Tür weit geöffnet, dreht sie sich um und wandelt gen Wohnzimmer. Wir sitzen irgendetwas Kaffee-ähnliches trinkend auf ihrem Sofa und ich versuche Worte zu finden, als sie meinen Verstand unterbricht.
"Haben Sie schon etwas gefunden?" Sie spricht, als wüsste sie.
"Ja, ich habe etwas gefunden. Sie haben mir geholfen! Und Sie können mir helfen."
"Ich?" Sie zweifeln nie an sich. Zweifel ist eine rein menschliche Fähigkeit.
Es fällt mir schwer zu atmen. "Sie lügen!", sage ich und sie fragt: "Wer?"
Ihre Augen fassen seine, sich in meiner Hand entfaltende, Krawatte. "S I E!”
Die Zeit vergeht nicht mehr. Ich höre nichts mehr. Ich spüre nichts mehr. Sehe nur noch. Der Moment müsste Stunden sein.
"Ich weiß!", sie legt ihre Hand auf meine Wange. "Sie werden sterben!"
Im Schlafzimmer verwachsen unsere Körper. Unsere Brustkörbe öffnen sich, umschlingen den jeweils anderen, nähren sich vom Blut des jeweils anderen. Für Sekunden habe ich Angst, dass wir daran zugrunde gehen - doch wir schlafen nur ein.
Ich wache auf. Sie liegt neben mir, schläft nicht wirklich, spricht. Ich ersticke. Ihre Hände drücken meinem Hals. Ich wehre mich, versuche in ihr Gesicht zu blicken, kann aber in dem Gewirr der Haare nichts erkennen.
"Warum jetzt? Sollst du es verhindern?" Ich kann sie beiseite stoßen. Bereue mein grobes Handeln im gleichen Moment.
"Ich bin nicht einer von ihnen. Du musst das wissen. Ich dachte Du wärst einer von ihnen. Ich dachte Du wärst Teil ihres Plans. Ich habe mich getäuscht." Sie beruhigt sich, zieht sich in Embryonalstellung zurück.
Ich glaube zu hören: "Sie sind alle!", doch ihre Worte sterben in Tränen.
Vorsichtig berühre ich ihre Haare. Sanft streichle ich über ihren Kopf. Doch kommt es mir vor, als wollte ich mich beschwichtigen, mehr als sie trösten.
"Verstehst du nicht?", atmet sie aus.
"Wir sind Teil von ihnen. Wir nähren sie." In mir suche ich nach Worten, werde nicht fündig.
"Wenn wir bleiben, bestehen sie fort." Was aus mir dringt ist Kohlendioxid. Das ist alles, was ich der Menschheit anzubieten habe.
Sie blickt auf: "Mein Virus wird die Welt reinigen!"- dann schweigen.
Ich verstehe, ich habe noch nie einen Mensch getötet. Noch nie war es nötig. Immer konnte ich es verhindern. Doch jetzt greife ich zur Tischlampe, ramme sie mit der Kante in ihren Schädel – er spaltet sich, ein Stoß dunkelroter Saft ertränkt das Bettlaken, färbt ihr weißes Nachthemd zu dem Kleid von der Bushaltestelle. Im Schock versuche ich ihren Schädel wieder zusammen zupressen. Doch sie stirbt, wie wir sterben.
Ich habe den Prozess nur verlangsamt – mehr konnte ich nicht tun. Die Seuche verbreitet sich, ausgehend von Hong-Kong in Monaten, über Asien. Sie wird mit ihren Flugzeugen, Zügen, Autos über die Kontinente getragen. Wir sterben.
Nur die Anzüge überleben. Sie verstecken sich in Bunkern und können sich mit Medizin versorgen, deren Produktion sie kontrollieren.
Susanne hatte unrecht! Sie können ohne uns existieren."