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Svenjas Lieblingsschriftsteller
"Stell dir vor, wir fahren in den Sommerferien nach Sofia!" Svenja saß aufrecht im Bett, ihre vor Aufregung roten Wangen bildeten einen starken Kontrast zu ihrem blassen Gesicht. Eine Geruchswolke aus Krankheit, Medizin und Vitaminsäften umhüllte sie.
"Sofia? Welche Sofia?" Vivian hängte ihre Jacke über den Schreibtischstuhl und ließ sich aufs Bett fallen.
"Das ist die Hauptstadt von Bulgarien! Aber vor allem wohnt da Milen Milanov!" Svenja verdrehte die Augen.
"Ach der!", sagte Vivian in einem Tonfall, an dem Svenja wieder einmal merkte, dass kein Mensch sie wirklich verstand. Alle ihre Freunde hielten diesen intelligenten Science-Fiction Schriftsteller für einen langweiligen Spinner. Warum war sie selbst nur so anders als andere? Sie schluckte.
"Liegt das wenigstens am Meer?"
"Nein, in den Bergen, mein Vater sagt, die Höhenluft wäre gut für meine Bronchien. Und der Besuch bei Milen Milanov vielleicht auch!"
"Wie geht es dir eigentlich?" Endlich wechselte Vivian das Thema. Wenigstens machte sie keine abfälligen Bemerkungen und Svenja musste zugeben, dass sie sich immer auf Vivians Besuche freute.
"Viel besser, ich bin einfach nur sehr müde. Der Arzt sagt, dass ich erst nach den Osterferien wieder ganz gesund bin."
"Hast du es gut! Aber stirbst du nicht vor Langeweile? Du hast ja noch nicht einmal einen Fernseher." Vivian deutete auf die Stereoanlage, aus der Rockmusik dröhnte.
"Dagegen helfen auch so Dinger aus Papier mit kleinen, schwarzen Buchstaben drin!" Als wenn man ohne Fernseher nicht leben könnte! Die Verfilmung der meisten Bücher waren doch grottenschlecht. Gerade hatte sie noch einmal Milanovs Buch gelesen, in dem die Atmosphäre eines Planeten so intelligent ist, dass sie telepathische Botschaften an die vorbeifliegenden Raumfahrer sendet. Warum sollte Leben nur in Kohlenstoffverbindungen möglich sein? Warum konnten die meisten Menschen nicht über ihren beschränkten Horizont hinaus denken?
"Kannst du wenigstens zu meiner Geburtstagsfete kommen?"
Svenja schüttelte den Kopf. "Das werden meine Eltern kaum erlauben."
"Schade, ich wollte auch Arne einladen!", Vivian lächelte geheimnisvoll.
"Ach ja?", fragte Svenja und versuchte so gleichgültig wie möglich auszusehen. Sie wollte sich selbst nicht eingestehen, dass ihr Herz plötzlich schneller klopfte. Dass ein so gutaussehender Junge sich für sie interessierte, konnte sie einfach nicht glauben. Genauso wenig wie Vivians Bewunderung für ihre Naturlocken und ihre schlanke Figur. Außerdem versuchte sie sich einzureden, dass Arne genau so ein oberflächlicher Junge war wie all die anderen. Klar war er ganz nett, aber außer für Fußball interessierte er sich für kaum etwas. Immerhin wollte er Medizin studieren. So wie Milen Milanov, aber der kannte sich außerdem noch in fast sämtlichen Naturwissenschaften aus. Svenja hatte sich so intensiv mit seinen Gedanken beschäftigt, dass sie glaubte, ihn selber so gut zu kennen wie sich selbst. Insgeheim war sie sicher, dass sie die Einzige war, die ihn wirklich verstand. Deshalb träumte sie davon, ihn persönlich zu treffen, zu erfahren, was für ein Mensch er war.
"Hm, ich glaube, er kann es kaum erwarten, dich wieder zu sehen! Was soll ich ihm denn ausrichten?" Was sagte Vivian da? Ach so, sie redete noch immer von Arne. Das Grinsen auf Vivians Gesicht wurde immer breiter. Warum haben die meisten Mädchen in ihrem Alter bloß nichts anderes im Kopf als Jungs? Warum zerreißen sich alle das Maul darüber, dass sie selber noch keinen Freund hatte? In diesen Augenblicke nahm sie sich vor, niemals zu heiraten.
"Gar nichts!" Svenjas Augen funkelten. "Was gab es denn Neues in der Schule?"
Vivian seufzte, dann wühlte sie in ihrer Tasche. "In Mathe musst du mir helfen. Die quadratischen Funktionen habe ich nicht verstanden."
Aha, von wegen Vivian wollte ihr helfen, damit sie nicht zuviel verpasste. "Ich war nicht in der Schule und soll es dir erklären, was?"
"Ach, du brauchst doch nur einen Blick ins Mathebuch zu werfen und in der Pause widerlegst du mal eben den Beweis, mit dem Herr Winkelmann sich eine Stunde lang abgequält hat!" Vivian schaffte es mit ihrem herzlichem Lächeln immer wieder, Svenjas Reserviertheit zum schmelzen zu bringen. Die Mädchen gemeinsam kicherten bei dieser Erinnerung.
"Na gut, dafür hilfst du mir dann in Englisch!"
"Klar, und hinterher spielen wir Monopoly!"
Eine Woche später hielt Svenja einen kleinen, unscheinbaren Zettel in ihren feuchten Händen. Ihr Vater hatte tatsächlich Milen Milanovs Adresse bekommen! Sie konnte es nicht fassen, ihr Traum war in den Bereich der Möglichkeiten gerückt. Sie mussten nur noch hinfahren und auf die Schelle drücken. Als sie sich das vorstellte, tauchten neue Bedenken auf: Vielleicht wäre er dann auch in Urlaub, oder er schrieb gerade an einem neuen Meisterwerk und wollte nicht gestört werden. Svenja erwog ihm zu schreiben und den Besuch anzukündigen. Aber sollte eine Jugendliche dem großen Meister etwa schreiben: "Lieber Herr Milanov, ihr größter Fan kommt am 14. August um fünf Uhr Nachmittags vorbei, bitte halten sie schon mal den Tee und die Plätzchen bereit?" Schon bei der Idee wäre Svenja am liebsten im Erdboden versunken. Das Einfachste war wirklich, auf gut Glück hinzufahren, anzuschellen und zu hoffen, dass er zu Hause ist, dass er Zeit und Lust hat, mit ihr zu reden. Drei große Vielleicht. Immerhin wohnt er wirklich so abgelegen, dass er wahrscheinlich nur selten Fanbesuch bekommt. Svenja blieb nichts anderes übrig, als noch ein paar Wochen mit der Ungewissheit und ihrer Sehnsucht zu leben. In tausend Varianten malte sie sich aus, dass auch er in ihr eine Seelenverwandte erkennen würde. Das ist das Schöne an Tagträumen!
Eines Tages war Svenja mit ihren Eltern dann endlich in Sofia. Nur aus den Augenwinkeln nahm sie irgendwelche verwitterten Gemäuer war. Sie musste die ganze Zeit daran denken, dass sie nur zwei Tage in der Stadt sein würden, die nächsten zwei Wochen würden sie dann in einem Luftkurort verbringen. Sie hatte also nur eine Chance! Wie im Traum lief sie ihren Eltern hinterher und fieberte dem Nachmittag entgegen. Sie konzentrierte sich darauf, der brennenden Sonne auszuweichen und auf den buckeligen Pflastersteine nicht zu stolpern. Warum musste es ausgerechnet heute so heiß sein, dass das Gehirn fast kochte? Als die Hitze langsam erträglicher wurde, fuhren sie dann endlich die ersehnte Straße entlang. Rechts und links standen anderthalbstöckige, graue Einfamilienhäuser, von akkurat angelegten Gärten und einem Jägerzaun umgeben. Svenja verrenkte sich den Kopf auf der Suche nach der richtigen Hausnummer. Schließlich standen sie dann vor einem dieser langweiligen Häuser. Sollte hier einer der größten Schriftsteller wohnen? Ihr Vater drückte auf den Klingelknopf und während sie warteten bangte Svenja, ob Er zu Hause wäre. Nach endlosen Minuten trat eine Frau an den Gartenzaun, die ebenso unscheinbar war wie das Haus. In gebrochenem Bulgarisch leierte ihr Vater den entscheidenden Satz herunter und Svenja betete, dass er verständlich und erfolgreich sein möge. Sie konnte immer noch nicht recht glauben, dass sie kurz vor ihrem ersehnten Ziel stand. Doch dann öffnete die Frau die Türe und bat sie mit einer eindeutigen Handbewegung herein. Mit klopfendem Herzen stiegen sie eine enge Treppe hoch und betraten Milanovs Arbeitszimmer. Wenigstens das war so, wie sie es sich vorgestellt hatte: Vom Boden bis zur Decke Bücher und Zeitschriften, die fast aus den Regalen quollen, vor dem Fenster die schwarze Schreibmaschine mit den altmodischen, runden Tasten. Auf dieser hatte er seine ersten Bücher geschrieben. Svenja starrte sie ehrfürchtig an. Der Raum war so klein, dass sie stehen mussten. Dann kam der Mann mit der Intellektuellenbrille und den Haaren, die sich rund um seinen Kopf drapierten. Er war Anfang 50, also uralt für Svenjas Begriffe. Er trug seinen Dackel auf dem Arm und setzte sich auf den einzigen Stuhl. Sein etwa siebenjähriger Sohn stand dicht daneben und schaute die fremden Leute mit großen Augen an. Glücklicherweise sprach Milen Milanov neben bulgarisch fließend deutsch, französisch und englisch. Nun ja, mit einem Intelligenzquotienten von 180 soll er das intelligenteste Kind in Bulgarien gewesen sein. Mit seinem Hund und seinem Kind sah er jetzt allerdings wie ein ganz normaler Familienvater aus. Im Fernsehen hatte er irgendwie beeindruckender gewirkt. In Svenjas Aufregung mischte sich Verwirrung.
Ihr Vater stellte sie vor:
"Meine Tochter hat alle ihre Bücher gelesen und wollte ihren Lieblingsschriftsteller gerne einmal besuchen. Ich hoffe, wir stören sie nicht allzu sehr."
Es klang so unglaublich einfach. Svenja stand nur da und nickte stumm. Milanov winkte ab und lächelte freundlich.
"Ach, heute ist es so heiß, da kann man kaum arbeiten. Ich saß gerade mit meiner Familie im Garten."
Wahrscheinlich weil Svenja immer noch dämlich rumstand und den Mund nicht aufbekam, unterhielten ihr Vater und Milanov sich über Politik und die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse. Erstaunt hörte sie heraus, dass er mehrere ausländische Zeitschriften abonnierte und sich nicht nur mit der fernen Zukunft beschäftigt. Irgendwann fiel ihm wohl auf, dass sie immer noch da stand und er wandte sich an sie:
"Hast du eine bestimmte Frage?"
'Eine Frage?', durchschoss es Svenja siedend heiß. Wie sollte sie dem Wesen eines Menschen über banale Fragen näher kommen! Nein, sie war gar nicht auf die Idee gekommen, sich eine Frage auszudenken. Sie wollte einfach nur spüren, was für ein Mensch er sei, ob das Bild, das sie sich zurecht gezimmert hatte, auch stimmt. Seine Worte, seine Gedanken kannte sie ja durch die Bücher und Interviews. Krampfhaft überlegte sie und das einzige, was ihr auf die Schnelle in den Sinn kam, war:
"Wie sind sie dazu gekommen, Science-Fiction zu schreiben?" Nicht gerade originell. Sie wäre am liebsten im Boden versunken.
"Ach, wie kommt man dazu, einen bestimmten Lebensweg einzuschlagen? Wie kommt es, dass man gerade diese Frau heiratet?", sinnierte er. Sie traute ihren Ohren kaum. Statt dass er jetzt bekannte, dass er nur für seine Ideen und Bücher lebte, machte er sich Gedanken über diese graue Maus, die uns herein gebeten hatte. Das also sollte der große Milanov sein?
Sie redeten noch eine Weile, Svenjas Vater machte ein paar Fotos und schließlich saßen sie wieder im Auto. Svenja versank halb auf der Rückbank. Das Wichtigste für ihr Idol waren seine Familie und sein Hund - ausgerechnet ein Dackel! - und er machte sich Gedanken über die aktuelle Weltpolitik. Er war ein ganz normaler Mensch. Noch nie im Leben war sie so enttäuscht gewesen! Fast hätte sie geweint, aber nein, diese Schmach wollte sie auf keine Fall zeigen. Um sich abzulenken und ihre Eltern zu beruhigen , schaute sie aus dem Fenster. Sie fuhren gerade durch eine triste Plattenbausiedlung. Hinter einer Ecke tauchte plötzlich ein Fußballstadion auf. Ob Arne wohl inzwischen eine Freundin hatte?