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Täter und Opfer
„Du wirst es mögen. Deine Mutter, deine Oma, dein Opa; alle waren hier. Und seh' nur, was aus uns allen geworden ist. Deine Großeltern lernten sich sogar dort kennen und gründeten ein paar Jahre später ihre eigene Firma. Nichts besonderes damals. Es gab viele, die ihre eigene Firma gründeten damals.“ Übereinstimmend nickte der Junge, der dem Mann im Sitz gegenüber saß. Der Mann war ordentlich angezogen. Er trug einen schwarzen Anzug mit passender Hose und einem weißen Hemd. Er schien so, als würde es ihn aneckeln, in einem solchen Zug zu sitzen. Und nebenbei würde er auch meine Meinung vertreten, wenn er sagen würde, dass er nicht hier rein passe. Nachdem er das Nicken des Jungen zögernd als Antwort akzeptierte, redete er deutlich weiter: „Deine Mutter führte das Unternehmen dann weiter und lernte schließlich mich kennen. Wie du weißt, wuchs ich im Waisenhaus auf und deine Mutter war somit das beste was mir bis dahin passiert ist. Ich war damals nichts besonderes, aber durch deine Mutter habe ich gelernt und jetzt bin ich in der Lage das Unternehmen alleine weiterzuführen. Ich habe in meinem Leben alles erreicht, was ich erreichen wollte.“ Wie es schien redete der Vater an dem Jungen vorbei. Ich schätze in ungefähr 15 oder 16 Jahre. Er war ähnlich gekleidet wie sein Vater, allerdings hing sein Hemd aus der Hose raus und er zupfte sich immer wieder am Kragen. Er hing in dem Sitz und drohte einzuschlafen. „Hey! Bist du noch da?“, fragte der Mann, woraufhin der Junge ein leises „Mhm“ verlauten ließ. „Jedenfalls musst du jetzt auch auf dieses Internat. Ob du willst oder nicht. Manchmal müssen Eltern die Entscheidung für ihre Kinder treffen. Und da Mama tot ist, treffe ich sie alleine. Das mag sich vielleicht machtsüchtig anhören oder wie man auch immer in deinem Alter sagt, aber es ist gut für dich. Glaub mir. Ich will wirklich nur das beste für dich.“ Eine kurze Pause. „Und jetzt guck nicht so böse. Ich will jetzt nicht mit dir diskutieren. Du gehst da hin. Ob du willst oder nicht.“
Durch das Fenster sah ich die Häuser vorbeirasen. Anscheinend waren wir schon in Köln. Ich versuchte mich an ein Internat zu erinnern. Wenn mich nicht alles täuscht, dann liegt hinter Köln ein Elite-Internat. Wahrscheinlich war es das. Plötzlich wurde ich aus meinen Gedanken gerissen. Ein Klatschen verhüllte den Waggon mit einem Mantel aus Ruhe. Eine Ruhe, wie ich sie nur selten erlebt habe. Ich gucke zum Vater und dem Sohn. Langsam errötet sich die Wange des Jungen. Ich wusste nicht was ich tun sollte. Sollte ich aufstehen und den Jungen schützen? Sollte ich so tun, als ob nichts gewesen wäre? Ich war mir unsicher und so tröstete ich mein Gewissen mit dem Gedanken, dass ich es gar nicht gesehen habe, wie der Mann zuschlug. Außerdem ist doch eine kleine Ohrfeige durchaus legitim, oder etwa nicht? Jedenfalls wuchs mein Schuldgefühl, als der Junge sich hinter seinem Jackett versteckte und sich an das Fenster legte.
Es war einige Häuserblocks, an denen der Zug vorbei rannte, später, als ich eine neue Bewegung wahrnahm. Als der Zug sich zum Bahnhof hin verlangsamte, packte der Sohn seinen Koffer fest in die Hand und stand auf. Er begab sich zur Tür und wartete dort, bis der Zug gehalten hatte. Trottend ging der Vater ihm hinterher. Und gab ihm die Hand und umarmte ihn. Eine innige Umarmung, wie sie für ein Vater-Sohn-Verhältnis völlig normal ist. Doch dann schubste der Junge ihn weg. Sein Blick dabei war unbeschreiblich. Zuerst wirkte er irgendwie unsicher und dann entschlossen. Dann wirkte er fast schon böse und von Hass erfüllt. „Weißt du? Eigentlich bin ich froh, dass ich endlich auf ein Internat komme!“ Das war das einzige, was der Junge während der gesamten Fahrt gesagt hatte. Und das so klar und deutlich, dass es jeder im ganzen Waggon gehört haben musste. Dann starrte der Junge wieder heraus und wartete, bis der Zug hielt.
Die Türen öffneten sich und der Junge sprang hinaus auf den Bahnsteig. „Auf Wiedersehen.“ sagte der Mann leise, aber doch so, dass es für den Jungen durchaus hörbar war. Der drehte sich nicht einmal um, sondern ging geradewegs auf die Treppen zu. Als der Junge schon fast nicht mehr zu sehen war, schob der Mann noch ein „Es tut mir Leid“ nach. Diesmal aber so leise, dass es der Junge nicht mehr hören konnte, wenn nicht sogar so leise, dass nur er selber es hören könnte.
Als der Zug wieder losfuhr, begab sich der Vater wieder auf seinen Sitz zurück. Vorbei an den Büschen, welche die Gleise in den Bahnhof hinein umgaben. Vorbei an den Rest der Stadt. Plötzlich versteckte sich der Vater hinter seinem Jackett und ich hörte ein stummes Schluchzen. Sollte ich ihn trösten? Sollte ich ihn ignorieren? - Ich ignorierte ihn.