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Tödliche Geschwindigkeit
Es war hungrig. Aufgewacht gähnte es und zeigte seine langen Reißzähne, die im Schein der flackernden Tunnelbeleuchtung schimmerten. Es kauerte in einer der kleineren Seitenschächte, die in großen Abständen in die Tunnelwand eingelassen waren. Es wurde wieder Zeit, durch die Höhlen zu streifen und den Hunger zu stillen. Eine Stimme ließ es den Kopf schräg halten und lauschen.
„Mann, ist das finster hier. Aber den dummen Nigger kann man ja da reinschicken!“
Sammy Laurence ging ärgerlich schimpfend mit vorsichtigen Schritten neben den Gleisen in einem Schacht der New Yorker U-Bahn entlang. Er betrachtete die trübe Deckenbeleuchtung und verfluchte Esteban. Der mexikanische Schichtmeister hatte ihn für die heutige Schicht auf die Strecke 27 eingeteilt.
Sammy klangen noch Estebans Worte im Kopf, als er vom Bahnsteig über die Absperrung mit seinem Picker und dem Abfallsack geklettert war. „Du hast 45Minuten Zeit. Reingehen, die Strecke säubern, Beschädigungen am Tunnel feststellen, wie-der rauskommen und melden, comprende Amigo? Also nicht trödeln. Oder wir finden nur noch Stücke von Dir. Du wärst nicht der erste!“
Er war bereits einen Kilometer weit von der Station entfernt, die nur noch als kleiner Lichtfleck am Ende des Tunnels zu sehen war, als er sich umdrehte und zurückblick-te. Sein Müllsack hatte inzwischen beträchtlich an Volumen zugenommen und wurde schwer. Sammy bückte sich und hob mit seinen Arbeitshandschuhen Unrat auf, der irgendwie immer in den Schacht geblasen wurde.
„Oh fuck, ist das gruselig“, rief er in ein aus der Tunnelwand herausragendes Loch. Ein warmer Windhauch blies ihm ins grinsende Gesicht und er ging mit der Titelmelodie vom weißen Hai pfeifend weiter. Seine Schritte hallten auf dem Beton des Un-tergrundes und bildeten die dumpfe Begleitung zum Song. Er blickte kurz auf seine Uhr, deren Ziffernblatt schwach flureszierend leuchtete. „Noch Zeit, Mann. Alles cool“, sagte er zu sich.
In etwa 100 Meter Entfernung sah er, wie die Strecke in eine Kurve überging. Die spärlichen Deckenbirnen waren zum Teil defekt und in der Kurve schienen eine oder mehrere Birnen zu flackern. „Muss gemeldet werden. Yessir. Nigga Sammy meldet kaputte Birnen in Tunnel 27, Kilometer 1,5, Master Esteban“. Sammy kicherte. „Herrgott, flackern die aber auch. Als ob da einer Morsezeichen geben will.“
Sammy ging leise pfeifend weiter auf die Kurve zu. „Na, wenn jetzt schon der 15:30 käme, hätte unser Nigga ein Problem, Master“. Sammy blickte auf die Tunnelwand links und rechts. In diesen alten Röhren war kaum Platz, für eine vorbeifahrende U-Bahn und einem beleibten Farbigen, wie ihn, dachte er. „Müsste mal wieder zum Sport“. Missmutig blickte er auf ein Wasserrinnsaal, welches an der linken Wand herunterlief. Der Boden war bereits mit einem öligen Wasserfilm benetzt und seine Arbeitsschuhe von Woolworth patschten in dem Nass.
„Shit. Das ist die Fuck Strecke nach Upper Manhatten“. Sammy leckte sich nervös über die breiten Lippen und ihm fiel ein, dass er hier schon unter dem Hudson sein musste. Der Müllsack gab ein schlurfendes Geräusch von sich, als er ihn weiter Richtung Kurve durch den Wasserfilm zog. „Mann, das werde ich dem Mex aber sagen. Ich hasse es, unter Wasser zu arbeiten!“ Ungeduldig ging er vorwärts und achtete jetzt darauf, ob noch weitere Risse mit Rinnsalen auftauchten.
Er schaute wieder auf die Uhr. Im schwachen Schein schien es, als ob der Zeiger kaum vorwärts gekrochen war. „Komm, Sammy. Bis zur Kurve. Dann bist du fertig mit dem verdammten Job. Kann Master Esteban selber machen, der blöde Bohnen-fresser“. Sammy kniff die Augen zusammen und ging jetzt schneller auf den flackernden Kurvenbereich zu.
Von vorne drang ein Geräusch an sein Ohr und hörte sich wie ein einsames Miauen an. Sammy blieb stehen. „Ne Katze. Ne gottverdammte Mieze. Hier im Tunnel? Muss sich wohl verlaufen haben“. Sammy kratzte sich an seinem mit kurzen krausem Haar bedeckten Kopf und spähte angestrengt in das diffuse Licht.
„Na, was wird wohl Martha sagen, wenn ich ihr ein Kätzchen mitbringe?“ Er legte den Sack und den Abfallpicker neben das Gleis, bückte sich und ging weiter auf die Kur-ve zu. „Ja wo steckst du denn? Miezi Miezi Miez. Komm, Kitti Kitti. Hier ist Onkel Sammy. Sammy bringt dich hier raus. Zuhause gibt’s lecker Milch. Miezi Miez.“ Sammy bog um die Kurve in das flackernde Licht.
Ein Schatten sprang kreischend auf ihn zu und sein Herz setzte einen Schlag aus, als die Katze in seine Arme sprang. Überrascht war er einen Schritt zurückgewichen und stand mit einem Fuß im Gleis. „Mein Gott, hast du mich aber erschreckt. Ist ja alles Gut. Ist ja gut!“. Sammy streichelte die Katze, die beruhigt schnurrte. Er redete weiter auf das Tier ein, was sowohl die Katze als auch ihn ruhiger werden ließ.
Mit einem satten Schnack veränderte die Weiche, in der er hineingeraten war ihre Stellung und klemmte seinen Schuh ein. Er erstarrte und blickte ungläubig nach un-ten. „Oh shit, no!“ Sammy schrie auf und versuchte verzweifelt seinen eingeklemmten Schuh zu befreien. Er spürte, wie das Gleis anfing zu zittern. Der Wind im Tunnel nahm zu. Der 15:30 kam!
Sammy ließ die Katze neben die Gleise plumpsen und blickte panisch auf seine Uhr. Im flackernden Licht sah er, warum er soviel Zeit gehabt hatte. Die Uhr war irgend-wann einfach stehen geblieben. Die Vibrationen des Gleises nahmen zu. Er sah, wie die Weiche nach der Kurve in einen zweiten Tunnel mündete, aus dem das lauter werdende Zuggeräusch herkam. Er konnte schon die Scheinwerfer ausmachen, die mit jeder Sekunde größer wurden. Die Katze miaute und machte einen Buckel, als sie um seine Beine strich.
„Geh weg, du Flohbeutel“, schrie Sammy ängstlich auf und Schweiß perlte ihm von der Stirn. Er versuchte in aller Eile seine Schnürsenkel aufzubinden. In der Hektik erwischte er das falsche Ende und zog den Riemen zu einem Knoten.
Der Zug kam pfeifend näher und das gleißende Licht füllte den Tunnel aus. Sammy riss wie wild an seinen Schuhriemen und meinte zu hören, wie die Katze aus der kleinen Rettungsbucht in der Tunnelwand belustigt maunzte.