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- 07.02.2004
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Tödliche Liebe
Düsternis. Wie ein Schleier hing sie über dem Tal, verdunkelte die Nacht und färbte den Nachthimmel in ihr dunkelstes Rot. Schatten tanzten im Rhythmus des ewigen Pulses des Lebens – und buhlten um die Gunst der Dunkelheit. Träge hallten die tiefen, vollen Glockenschläge durch den kleinen Ort. Mitternacht.
Carlos lag wach mit weitaufgerissenen Augen in seinem Bett und lauschte den Schreien, die durchs Haus hallten. Jede Nacht aufs Neue; niemals endend, niemals vergehend, immerzu und ohne Unterlass.
Immer wenn sich die Schatten zusammenzogen, sich im Kreise windend und drehend, sich die Finsternis verdichtete und ruhelos um sein Haus tanzte; immer dann, wenn die Glocken Mitternacht schlugen, kam das Böse ins Haus; das Schreien begann. Manchmal schlich Carlos sich zur Tür des Zimmers, in dem sein Vater schlief. Er konnte den Schmerz und die Qual spüren, sie dröhnte in jeder Faser seines Herzens und schnürte ihm die Luft ab. Atemloses Lauschen in der Stille der Nacht. Finsternis, nun durchdrungen vom Bösen, von Schmerz und Leid; Schreie des Schmerzes zerrissen den Schleier der Dunkelheit und entblößten ihren Ursprung. In der Stille und Abgeschiedenheit des Tales; versunken in tiefen Tälern, umrahmt von schneebedeckten Wipfeln, tanzte das Böse seinen blutigen Tanz. Einen endlosen Tanz, so alt wie das Leben selbst, doch vom Tod durchdrungen wiegte und wand es sich durch die Nacht und drang durch jede Ritze. Die Tiere spürten es und schwiegen, kein Laut war dann zu hören, selbst die Stille schrie in den Ohren.
Dunkle Ströme der Macht flossen mit dem Tanz und Carlos wagte es nie, die Klinke zu fassen, sie niederzudrücken und das zu sehen, was hinter der verschlossenen Tür war. Nie fand er den Mut, zu ergründen, warum in manchen Nächten dünne Rinnsale heißen, roten Blutes unter der Tür durchflossen.
Wenn dann die Sonne aufging, ihre Strahlen die Düsternis vertrieb, das Böse sich zurückzog, dann schien es nie passiert zu sein, waren die Schreie nur noch Erinnerung aus den Tiefen der Nacht. Niemand sprach darüber, niemand sagte etwas zu Carlos – und er wagte nie zu fragen. Das Geheimnis der Nacht ging vom Vater auf den Sohn, so war es, ist es und würde es immer sein in seiner Familie.
Dann der Tag, an dem sie Vater fanden, in seinem Zimmer. Die Zunge hing aus seinem Mund, die Augen starrten blicklos ins Nichts, Fliegen umschwirrten ihn und tranken von seinen Lippen; krochen über sein Gesicht und erfüllten den Raum mit ihrem Summen. Carlos hörte seine Mutter weinen, sein älterer Bruder stand erstarrt neben ihm und beide sahen nur ihren erhängten Vater an, dessen Körper sacht in der kalten Morgenbrise baumelte. Sein Körper mit Wunden übersät, seine Kleider mit Blut getränkt hatte er dem nächtlichen Alb ein Ende bereitet.
Als die Männer aus dem Dorf kamen, um ihn herunter zu schneiden, fiel Carlos auf, dass etwas in der geballten Faust steckte. Sein Bruder und er mühten sich ab, die von der Totenstarre erfassten Finger auseinander zu biegen. Dann war die Hand offen und enthüllte ihr Geheimnis: Ein schlichtes Kreuz aus Silber, vom Halse gerissen.
*
Es war ein Tag wie jeder andere. Für die einheimischen Arbeiter, die für einen Hungerlohn in den Tiefen der dunklen Stollen nach dem wenigen Gold schürfen mussten, sollte sich der langsame, mühselige Takt jedoch nur zu bald in das donnernde Stakkato des Grauens verwandeln.
Wie die Ameisen strömten sie mit vollen Körben heraus und mit leeren Körben wieder hinein in die klammen Stollen. Stetig wie im Takt zu einer lautlosen Musik. Tagein, tagaus, ohne Hoffnung auf ein Entkommen.
Unter der heißen Sonne Perus schufteten sie, gruben sich Meter für Meter tiefer in die dunkle, kühle Erde. Es war schon später Nachmittag, die Sonne senkte sich dem Horizont entgegen und färbte den Himmel in ihr herrlichstes Rot. Die Vögel und Insekten pfiffen und zirpten um die Wette und machten zusammen einen Höllenlärm. Unter sie mischte sich das schwatzen der Indios und das grölende Lachen der spanischen Aufseher, die mit geladenen Revolvern aufpassten. Julio, einer der Aufseher, zog einen Zigarrenstummel aus einer seiner dreckigen Taschen und versuchte geduldig, ihn zum brennen zu bringen. Obwohl sich der Tag schon zu seinem Ende neigte, lief ihm der Schweiß in Strömen ins Gesicht und tränkte seine Kleider. Moskitos bissen sich in seinem Genick fest und immer wieder schlug er fluchend nach ihnen. „Miese kleine Biester“ fauchte er missmutig, „der Teufel soll euch holen!“
Da ihm nichts weiter übrig blieb, sich die Langeweile zu vertreiben, fing er an, die völlig erschöpften Arbeiter mit der Peitsche anzutreiben. Es machte ihm Spaß, sie zu quälen.
Im Stollen 3 gruben vier Männer stoisch mit Schaufeln und Piken voran. Kleine Ölfunzeln warfen ein unruhiges Licht an die schwarzen Wände. Niedrig und eng war er, der Stollen, doch die Indios hatten keine Angst. Immer zwei gruben und die beiden anderen kratzten die losgebrochene Erde zusammen und brachten sie in ihren Körben hinaus. So kamen sie langsam aber stetig voran. Der ältere der beiden Grabenden wunderte sich und zog die Augenbrauen misstrauisch zusammen, als seine Pike unvermittelt einen Hohlraum freilegte. Beide Indios zögerten, sahen einander an, doch keiner von ihnen hatte hierfür eine Erklärung. Hier sollte es keine natürlichen Höhlen geben.
Leise flüsternd diskutierten sie miteinander über diese unvermutete Entdeckung. Sie arbeiteten schon viele Jahre miteinander hier und eine krisenfeste, stille Freundschaft hatte sich entwickelt.
„Was meinst du“, flüsterte der Ältere. „Sollen wir es den spanischen Hunden melden?“ Sein Freund überlegte bedächtig.
„Besser wäre es“, antwortete dieser schließlich. „Sollen sie sich mit dem auseinandersetzen, was dahinter auf uns wartet.“ Ein fester, stummer Blick besiegelte die Abmachung. Dann ging der Jüngere los und benachrichtigte die Spanier.
Wenig später kamen zwei der Aufseher murrend in den Stollen gerannt. In ihren braunen Augen brannte der Hass, und es lag das Versprechen in ihnen, das die beiden Indios mit Blut dafür bezahlen würden, wenn es keinen Grund für die Aufregung gab. Die Beiden hatten inzwischen vorsichtig das Loch vergrößert. Es war jetzt Fußballgroß und man hatte einen guten Blick hinunter in einen langen Gang. Die Spanier quetschten sich, ihre Platzangst mit Aggression verdeckend, in den engen Stollen, leuchteten mit ihren Lampen in den Gang.
Dann stieß Julio den neben ihm knienden Indio an und brüllte laut: “Los du Faulpelz, mach das Loch größer, ich will da runter. Vamos!“ Er unterstrich dies mit eindeutigen Gesten. Der Indio sah ihn stumm an und tat wie ihm geheißen.
Julio und Juan, die beiden Spanier warteten unruhig, und als das Loch endlich groß genug war, ließen sie sich einer nach dem Anderen hinunter ins Dunkle.
Die beiden Männer schritten vorsichtig voran. Ihre Lampen erhellten den Gang, der über und über mit Spinnenweben verhängt war. Ihre schweren Stiefel knirschten auf den zahllosen Knochen und Panzern kleiner Tiere und Insekten. Nach etwa 30 Metern kamen sie an eine offenstehende Tür. Sie sahen einander an, schoben diese langsam auf und was sie dort sahen, ließ ihnen vor Erstaunen die Gesichtszüge entgleisen.
Draußen ging hinter den Bergen die Sonne unter.
Aufgeregt lief Julio zurück zu dem Loch. Dort waren die ernsten Gesichter der Indios auf ihn gerichtet.
„Hey vosotros, kommt alle herunter“, brüllte er aufgeregt. „Bringt alle Körbe mit, die ihr finden könnt. Beeilt euch.“ Einer nach dem Anderen kletterten sie hinunter, fast alle Aufseher kamen ebenfalls. Nur einer blieb oben, um dort aufzupassen. Schließlich waren alle 20 Arbeiter im Gang versammelt und warteten. Juan rief sie in den großen Raum, den sie hinter der Tür entdeckt hatten. Der Glanz des dort angehäuften Goldes leuchtete stärker und heller als jedes Feuer. „Hierher! Jeder füllt seinen Korb! Wir nehmen alles mit.“
„Señor“, murmelte einer der Arbeiter furchtsam. „Das geht nicht mit rechten Dingen zu. Esto es oro del Diablo. Das ist das Gold des Teufels.“ Juan schrie auf vor Zorn und schlug den wehrlosen Mann mit seinem Revolver nieder. Der Indio sackte zusammen und blieb ohnmächtig in einer Ecke liegen. Aus seinem Kopf sickerte dunkelrotes Blut. Der Duft des frischen Blutes vermischte sich mit dem stinkendem Atem und dem Schweiß der Männer in der kühlen Luft, zog durch den langen Gang und in eine versteckte Kammer. Er zog weiter durch den Raum und kroch durch alle Ritzen. Etwas schlug die Augen auf, schnüffelte ungläubig und stieß einen schrillen Wutschrei aus.
Draußen vor der Mine hörte der letzte der Spanier den Wutschrei, der sich mit den panischen Angstschreien der Arbeiter vermischte. Wildes Scharren und Kratzen mischte sich unter die Schreie, als die Indios verzweifelt versuchten, dem blutrünstigen Wesen zu entrinnen. Mit Entsetzen konnte er einen panischen Indio erkennen, der verzweifelt versuchte, durch die kleine Öffnung in der Decke zu entkommen. Schrille Schmerzensschreie mischten sich unter das hektische Kratzen von Fingernägeln auf Stein, dem Platschen nackter Füße auf Stein.
Der Mann hielt den Atem an und lauschte. Ein Teil von ihm wollte wegrennen, sich in Sicherheit bringen; doch ein anderer Teil wollte sehen, konnte sich nicht abwenden. Er sah im Dunklen die vor Todesangst geweiteten Augen des Indios; kurz trafen sich ihre Blicke, dann wurde der Mann mit unglaublicher Wucht erst an die Decke geschleudert und dann mit einem Ruck zurück ins Dunkle gezogen. In überirdischem Licht glühende Augen waren für einen winzigen Moment zu erkennen, fixierten ihn und brannten sich in seine Seele.
Wenige Augenblicke später wurde es still und der ganze Stollen brach ein. Kein Einziger kam je wieder ans Tageslicht. Der Aufseher schüttelte seine Starre ab, kehrte auf dem Absatz um und rannte wie von allen Teufeln gehetzt in den Dschungel. Einige Tage später kamen andere Arbeiter und nagelten die Mine zu. Danach geriet die Angelegenheit schnell in Vergessenheit.
Der Aufseher machte sich an die Rückreise in sein Heimatdorf, gründete eine Familie und lebte viele Jahre ungestört. Fast schon hatte er das Grauen in der Mine vergessen. Seine beiden Söhne gediehen prächtig und seine Frau verstand es, ihn abzulenken. Doch des Nachts kamen die Bilder, Erinnerungen, Gefühle der Angst und der Hilflosigkeit; glühende Augen, die ihn aus den Tiefen des Schachtes heraus fixierten. Dann wachte er schreiend auf, in Schweiß gebadet und blickte wild um sich, als erwarte er, diese Augen wiederzusehen. Doch das war unmöglich; so lange her, so weit weg.
Dann eines Nachts begannen die Schreie; kam das Böse zu ihnen ins Dorf und tanzte seinen verderbten Reigen. Vom Vater auf den Sohn sprang es, verflucht war ihre Familie.
Als der Vater sich das Leben nahm, kam das Böse zu seinem Sohn und zu dessen Sohn – und so zog es weiter und hielt sie in seinem festen Griff. Die Söhne verließen das Dorf, zogen umher, doch das Böse fand sie immer. Seit 100 Jahren nun hallten die Schreie durch die Nacht und niemand wusste, ob es je ein Ende geben würde.
Tödliche Liebe
Es regnete in strömen. Wie ein dichter grauer Schleier hingen die dicken Regenwolken in den Bergen fest und luden eine nicht enden wollende Flut eiskalten Regens auf den wackligen Dächern des kleinen, namenlosen Ortes , einer kleinen Siedlung am Oberlauf des Ucayali in Peru ab. Niemand schickte bei diesem Wetter auch nur einen Hund auf die Straße, und so war der 23 jährige Carlos Rodriguez ziemlich überrascht, als es plötzlich an seiner Tür pochte. Verwundert und neugierig öffnete er die armselige Holztür und betrachtete erstaunt den schmächtigen, kleinen Mann, der dort stand. 1,60 war er, höchstens, kalkulierte Carlos. Ziemlich mickrig und schon recht alt, den Falten und den weißen Haaren nach zu urteilen. Der Fremde ließ die Musterung geduldig über sich ergehen, auch wenn es in seinen regengrauen Augen spöttisch blitzte.
„Kann ich reinkommen, wenn Sie fertig sind?“ kam es plötzlich. „Sie sind doch Carlos Rodriguez, der Spanier, oder irre ich mich?“ Der Fremde legte den Kopf schief und sah seinem Gegenüber spöttisch in die dunkelbraunen Augen, unter denen sich tiefe schwarze Schatten eingenistet hatten. Sein Blick verweilte kurz auf einem einfachen Silberkreuz, das der Spanier mit einem Lederriemen am Halse trug.
„Ja, sicher. Perdone.“ stammelte Carlos verlegen. „Kommen Sie herein.“ Der Fremde trat ein, sah sich ruhig um und schien die ärmliche Einrichtung mit einem zufriedenen Lächeln zur Kenntnis zu nehmen. Bevor Carlos die Tür schloss, warf er noch einen kurzen Blick auf seine geliebten Anden. Kein einziger der schneebedeckten Bergspitzen war zu sehen. Es war kalt, ihn fröstelte und er ließ die Tür ins Schloss fallen. Mit einem tiefen Seufzer wandte er sich seinem Besucher zu.
„Nun, Señor. Sie haben mich also gefunden. Was kann ich für Sie tun?“ Der Fremde lächelte.
*
Zwei Stunden später brüteten die beiden Männer über der Karte, die eine der verlassenen Goldminen der Gegend zeigte. Carlos kannte sie gut, er hatte schon einige Fremde dorthin geführt. Es verwunderte ihn jedes Mal, dass sich immer noch Leute für die alte Mine interessierten. Viel abgeworfen hatte sie nie, und nach dem großen Unglück in einem der Stollen, bei dem alle Arbeiter ums Leben gekommen waren, hatte sie niemand mehr betreten wollen. Der Eingang wurde mit Brettern vernagelt, die Mine vergessen.
„Was wollen Sie dort, Señor?“ fragte Carlos den Alten verwundert. „Die Mine ist schon seit Ewigkeiten stillgelegt. Dort gibt es kein Gold mehr.“
„Ich suche nicht nach Gold“ antwortete der Fremde, der sich einfach nur Walt nannte. „Ich suche etwas anderes, etwas ganz anderes.“ fügte er leise hinzu. Versonnen sah er auf die Karte. Dann verhärteten sich seine Züge und er starrte den Jüngeren hart in die Augen. „Bringen Sie mich dorthin und helfen Sie mir beim Graben. Ich bin zu alt, um es alleine zu schaffen.“ Dann legte er einen dicken Batzen Geldscheine auf den wackligen Tisch. „Das, und noch mal so viel, wenn Sie mit mir kommen.“ Carlos schluckte. Es war viel Geld, sehr viel sogar. Und er konnte es gut gebrauchen. Seine Gläubiger saßen ihm schon im Genick. Er seufzte tief. Er hatte keine Wahl.
„Bueno, ich werde Ihnen helfen.“ Der alte Mann entspannte sich sichtlich. „Wir werden einiges an Ausrüstung brauchen, wenn Sie in der Mine graben wollen. Doch ich sage Ihnen gleich, die Stollen sind nicht sicher.“
„Sie machen das schon. Besorgen Sie alles Nötige. In 3 Tagen bin ich wieder hier. Dann ziehen wir los.“ Er schob den Batzen Geld zu Carlos hinüber, der es mit zitternden Händen griff und einsteckte. Walts Mundwinkel verzogen sich verächtlich. Für Geld ist wirklich jeder zu haben, dachte er und warf ein kleineres Bündel Scheine auf den Tisch. „Das ist für die Ausrüstung und den Proviant. Kümmern Sie sich darum!“ rief er Carlos über die Schulter zu, als er die Tür öffnete und gemächlich hinaustrat. Der Regen hatte aufgehört und die schweren Regenwolken rissen langsam auf. Blauer Himmel blitzte zwischen ihnen hindurch.
*
Der alte Mann, dessen schlohweiße Haare säuberlich geordnet am Schädel klebten, blinzelte ins Licht und drehte sich noch einmal zu Carlos um. Er zündete sich in aller Seelenruhe eine Zigarette an, tat einen tiefen Zug und ließ den Rauch genussvoll in Kringeln durch den Mund entweichen. Ein eiskalter Blick traf den Jüngeren. „Ach ja, und zu niemandem ein Wort.“
Carlos schluckte und nickte. Die Tür fiel mit einem Krachen zu.
Carlos zählte rasch die Scheine durch, pfiff leise und steckte sie in die Hosentasche seiner alten, verwaschenen Levis-Jeans. Er trat ans Fenster, schob die gammelige Gardine zur Seite und beobachtete den seltsamen Fremden, der gelassen und mit ausgreifenden Schritten die kleine Straße hinunter ging. Er starrte ihm lange und sehr nachdenklich nach. Carlos hatte ein ganz mieses Gefühl bei der Sache. Auf dem Kaminsims stand eine kleine, steinerne Statue des aztekischen Jaguargottes. Ratsuchend sah er ihn an, doch der starrte nur gleichgültig zurück. Oder blitzte da etwa ein höhnisches Lächeln aus den steinernen Augen? Er war sich nicht sicher.
*
Es war ein mühseliger, mehrtägiger Aufstieg zum Eingang der Mine, die verborgen an einer der Wände des höchsten Tepuis der Gegend lag, und obwohl Walt schwächlich wirkte, hielt er sich so aufrecht wie eine Eiche. Nicht einmal die dünne Luft schien ihm was auszumachen. Dann, am späten Nachmittag waren sie tief im Regenwald auf die Mine gestoßen. Völlig mit Ranken und Palmen überwuchert war der Eingang kaum noch zu erkennen. Seltene Orchideen hatten sich an den jungen Bäumen festgesetzt doch der Spanier hackte die Pflanzen ohne mit der Wimper zu zucken klein. Später hatte er mit einem Brecheisen die morschen Bretter vom Eingang gerissen, und nach einer dürftigen Mahlzeit aus Bohnen, Speck und Kaffee, der wie Hühnerpisse schmeckte, war Walt sofort an die Erkundung der einzelnen Stollen gegangen.
Die Stollen hatten sich als dunkle Brutstätten für Fledermäuse, Vogelspinnen und allerlei Krabbeltiere herausgestellt und sie hatten ihre Mittel gegen Insektenstiche schon nach der ersten Woche beinah aufgebraucht. Wie ein von einer übernatürlichen Macht aufrecht gehaltenen Marionette war der Alte den ganzen ersten Tag rastlos durch die Stollen marschiert, bis er nach zähem Brüten über der Karte und endlosen Tobsuchtsanfällen endlich den Richtigen gefunden zu haben schien. Carlos hatte es sich grade mit einer Zigarette gemütlich gemacht, als Walt wie ein Irrer aus dem Dunkel geschossen kam und ihn zum Aufbruch drängte.
„Ich hab’s gefunden! Was sitzen Sie da noch so faul herum? Auf auf!“ fauchte Walt seinen verdutzten Begleiter an und fuchtelte herrisch mit den Armen herum.
Carlos hatte schon sehr früh aufgegeben, sich über seinen komischen, kleinen Auftraggeber zu wundern. Er schien zäher, als man aufgrund seiner schmächtigen Statur annehmen konnte, kalt, zielstrebig und zerbrechlich in einem. Er hätte auch nie angenommen, das der alte Mann auch nur einen Tag im Dschungel überleben würde, doch es schien fast so, als hätte der Dschungel keinerlei Auswirkungen auf ihn; als ob sich seine Umgebung an ihn anpassen würde. Irgendwie hatte er was Unheimliches an sich. Seit über zwei Wochen waren sie nun in dem eingebrochenen, alten Stollen 3 der Miene am Wühlen und er war so aufgeregt und rastlos wie am ersten Tag. Wie besessen hatte Walt die einzelnen Stollen erkundet und war dabei auf die Überreste des Stollens gestoßen, in dem sich vor so langer Zeit die Tragödie abgespielt hatte.
*
„Grab schon! Mach weiter, nur noch ein kleines Stück!“ zischte der alte Mann seinem jungen, bulligem Begleiter zu, als sie sich vorsichtig durch die tiefschwarze Erde wühlten. Seit Stunden hörten sie nur noch das rhythmische Geklopfe, mit dem die schwere Spitzhacke die harte Erde aufriss. Carlos führte die Spitzhacke mit geübter Hand und sie kamen trotz der Enge und ihrer beginnenden Klaustrophobie gut voran.
Immer wieder hielt Walt inne, griff seinen Kompass, überprüfte ihre Richtung und verglich sie mit den Aufzeichnungen in seinem Notizbuch. Carlos schnüffelte kurz und verzog angewidert sein Gesicht. Es stank! Mit einem kleinen Seitenblick zu dem kleinen, alten Mann dachte er: Du hast schon wieder geschissen! Ich merk das doch! Dachtest du, ich merk das nicht? Widerlicher alter Sack, bist doch innen drin schon am verrotten! Oder nicht? Bei dieser Überlegung musste Carlos unwillkürlich grinsen. Walt sah auf und missverstand das Grinsen im Gesicht seines Partners. „Jaaa“ flüsterte er „ganz nah dran.“ Und grinste zurück.
Carlos holte weit aus und rammte die Hacke mit Wucht in den braunen Untergrund. Die Spitze sackte ein, als wäre sie in Gel statt in harte Erde getaucht worden. Der Gestank wurde unerträglich und beide Männer hielten nach Luft japsend inne und wedelten sich Sauerstoff zu. „Das ist ja übelst,“ ächzte Walt. „Wo kommt das denn her?“
Beide Männer richteten ihren Blick auf die Spitzhacke, die Carlos jetzt langsam aus der Erde zog. Mit einem ekligen Schmatzen löste sie sich und eine widerlich schleimiggraue Masse troff von der Hacke und ihnen entgegen.
Beide Männer rannten raus und holten erst mal tief Luft. Carlos gaffte seinen Begleiter sprachlos an, als dieser ohne eine Miene zu verziehen, eine Atemmaske aus einer Tasche zog und sie ihm hinhielt. Er lächelte.
*
Einige mühselige Stunden später änderte sich der Klang der Spitzhacke, hohl schallte es nun unter jedem der wuchtigen Hiebe. Walt japste vor unterdrückter Freude auf und ließ einen fahren. Carlos verzog angewidert das Gesicht. „Das ist es! Das muss es sein, das muss es einfach sein!“ Walt drückte sich ungeduldig an seinem Begleiter vorbei und klopfte gegen die vor ihnen liegende Wand aus harter Erde. Dann der Durchbruch. Erst ein hohler Klang, dann das erste kleine Loch. Sie hatten ihr Ziel erreicht. Eine unbekannte Höhle vor ihnen, hinter der schwarzen, harten Erde verborgen. „Señor, Sie haben mir nie erzählt, was Sie hier unten eigentlich zu finden hoffen.“ fragte Carlos vorsichtig. Doch der Angesprochene funkelte nur mit seinen harten, grauen Augen zur Öffnung hin und brummte: „Mehr Knochen. Vergrößern Sie nun das Loch, wir müssen da rein.“ Damit wandte er sich von dem vor Anstrengung schnaufenden Carlos ab und kritzelte weiter in sein Handbuch, nur wurde dies nun mit merkwürdigem Gemurmel begleitet, das dem erschöpften Carlos den letzten Nerv raubte. Vorsichtig vergrößerte er das Loch und schließlich war die Öffnung groß genug, das sich die beiden Männer hindurchquetschen und in den Gang herunterklettern konnten. Mit starken Taschenlampen leuchteten sie den Gang entlang, der sich vor ihnen auftat.
*
Schmal und hoch war er, grade so breit, dasdass sich ein erwachsener Mann darin bewegen konnte. Ein Gang, der Tief in die Erde getrieben worden war, Wände, Decke und Boden aus festgestampftem Grund. Der Boden war staubig und mit jedem Schritt, den die Beiden taten, wirbelten sie ihn auf und mussten davon heftig niesen. Ihre Lampen strahlten wie kleine Kerzen in die Finsternis, warfen verzerrte Schatten an die schwarzen Wände und ließen die Unebenheiten tiefer aussehen, als sie waren. Durch die rechte Wand auf den Gang gestoßen führte dieser nun von ihnen aus nach links und rechts. Selbst im grellen Licht der Lampen sah die festgestampfte Erde ekelerregend schwärzlich aus, wie mit altem Blut getränkt und dann getrocknet. Carlos erschauerte, als die uralte, feuchte Luft an seinem Nacken vorbeistrich. Er erinnerte sich an die alten Geschichten über das Grubenunglück.
Schreie, Schreie die durch die Nacht hallten. Das Zimmer verschlossen; Blut, das unter der Tür durchfloss.
Doch der alte Mann konnte seine Freude nur mit Mühe verbergen. „Ich hatte Recht! Ich hatte Recht!“ jubelte er und besah sich mit weit aufgerissenen Augen die Vertiefungen an den Wänden. Seine Finger erkundeten begierig jede einzelne. „Sie war hier, ist es vielleicht immer noch.“ Carlos wagte kaum, hinzuschauen, er verstand die freudige Erregung seines Begleiters nicht. Er sah den Alten fragend an, bekam aber keine Erklärung. Fröstelnd folgte er dem kleinen Mann, der wie ein Betrunkener von einer Seite zur Anderen wankte, die Kratzer bestaunte und fortwährend leise vor sich hin kommentierte.
Eine Weile gingen sie den schmalen Gang entlang als sich vor ihnen eine Tür aus dem Schatten löste. Wie die Wände war auch sie über und über mit Kratzern versehen. Carlos blieb stehen und begaffte die merkwürdige Tür mit offenem Mund. So etwas hatte er hier unten nicht erwartet. „Mach schon, brech sie auf! Halt keine Maulaffen feil!“ fuhr ihn der Alte an. Carlos zuckte überrascht zusammen, murmelte etwas Unverständliches in Spanisch und brach die Tür mit der Spitzhacke auf. Das Holz war schon so morsch geworden, das es sich unter seinen Schlägen fast von alleine auflöste. Vorsichtig traten sie über die Schwelle und bestaunten ehrfürchtig, was sich nun ihrem Blick darbot.
Ein Raum, so groß wie ein ritterlicher Speisesaal, tat sich vor ihnen auf. Die kräftigen Strahlen der Taschenlampen richteten sich auf die dunklen Berge, die sich überall auftürmten und das helle Licht mit goldenen Blitzen beantworteten.
Berge von Gold und Schätzen waren hier achtlos zusammengetragen worden. Wie ein irrer Sammler, der erst fanatisch einem Schatz hinterher jagt, nur um ihn dann – sobald errungen – achtlos in eine Ecke zu werfen und sich dem nächsten Objekt zuzuwenden.
Köstlich funkelte das Geschmeide, lockte der Ruf des Goldes und brachte Carlos` Blut in Wallung. Mit einem leisen Aufschrei der Überraschung und Verzückung ließ er die schwere Ausrüstung fallen und stürmte den nächsten Goldberg. Er lachte, als er sich durch die Haufen grub und warf übermütig mit Goldmünzen um sich. Walt betrachtete seinen Begleiter, sein Opfer für SIE, mit lässig-kühlem Blick.
„Wenn Sie dann fertig sind, richten Sie das Lager ein und kochen Kaffee für uns.“ Es war keine Frage, es war eine Feststellung, eine, die keine Widerworte zuließ.
Carlos verstand kein Wort, wandte sich jedoch gehorsam von den Schätzen ab und begann, ihre mitgebrachte Ausrüstung auszupacken und Kaffe zu kochen. Eine Weile später brachte er Walt eine heiße Tasse Kaffee. „Hier, trinken Sie. Er schmeckt asqueroso, wie .... gekochte Hühnerpisse, ist aber wenigstens heiß.“ Walt blickte auf und lächelte zum ersten Mal, seit sie den Gang entdeckt hatten, freundlich. „Wissen Sie Carlos, Ihre Ausdrucksweise lässt doch so manches Mal schwer zu wünschen übrig.“ Er nahm einen Schluck und verzog angewidert das Gesicht. „Ich nehme alles zurück. Ihre Beschreibung ist vollkommen Akkurat.“ keuchte er, nahm noch einen und würgte.
Walts blasse Augen glühten wie im Fieber, als er ruhelos durch den Saal streifte, doch nichts schien zu sein, was er offensichtlich suchte. Carlos indessen begann, den Saal nach weiteren Türen oder Gängen zu untersuchen. Er fühlte sich, nachdem die schlimmste Erschöpfung abgeklungen war und die Erregung über ihren Goldfund nachgelassen hatte, überhaupt nicht mehr wohl. Die Kratzer gingen ihm nicht recht aus dem Kopf, irgendetwas schien nicht richtig mit ihnen zu sein, und die eklige Leiche, die seine Hacke gefunden hatte. Was für ein Drama hatte sich hier auf dieser Höllenbühne bloß abgespielt damals? Dios mio, que miedo!
„Hey Señor, ich schau mir mal den Gang an, den wir gekommen sind. Mal sehn, wo der hinführt.“ rief er dem Rastlosen zu. „Sind sonst keine anderen Gänge da, und auch keine Türen.“ „Ja ist gut, gehen Sie nur.“ antwortete dieser abwesend. Carlos schnappte sich seine Pike – für alle Fälle – und seine Lampe und stiefelte los. Das beinah heimelige Licht aus dem Saal hinter sich lassend, betrat er den finsteren Gang, durch den sie gekommen waren und machte sich auf in die Dunkelheit.
*
Langsam und vorsichtig suchte er sich seinen Weg. Kleine und größere Knochen lagen verstreut auf dem Boden und immer wieder stieß er mit seinen Stiefeln gegen sie. Es widerte ihn an und er meinte, an einigen noch vertrocknete Fleischreste erkennen zu können. Die Kratzspuren an den Wänden sahen im Schein der Lampe unheimlich aus, sie schienen in einer stummen Sprache zu ihm zu sprechen, die er nicht verstand. Sie kamen ihm merkwürdig, beinah quälend vertraut vor, doch er konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, wo er so etwas schon einmal gesehen hatte. Was zum Teufel war hier unten bloß passiert?
Er konnte das Böse fühlen, so wie damals, als er noch ein Kind gewesen war. Die Tür verschlossen. Blut. Überall war Blut. Wo war sein Bruder nur? Er hatte das Böse mitgenommen doch auch ihn hatte die Erinnerung nicht verlassen.
Er begann, seine Entscheidung immer mehr zu bereuen. Weiter und weiter folgte er dem Gang, der schnurgrade in die Endlosigkeit zu führen schien. Dann, wie nach einer halben Ewigkeit, erreichte er eine weitere Tür. Wie die Erste, war auch sie aus uraltem, morschem Holz gearbeitet und mit schweren Eisenbeschlägen versehen. „Irgendwie mittelalterlich“ murmelte Carlos und erschrak, als er seine Stimme als hohles Echo von den engen Wänden hallen hörte. Ihn schauerte und spürte mit einem Mal die schleimigfeuchte Kühle, die sich wie ein Schleier auf seine Haut legte. Misstrauisch um sich schielend legte die Lampe auf den Boden und schwang die Hake mit ausladenden Bewegungen. Das morsche Holz zersplitterte erwartungsgemäß und gab den Blick frei in den Raum, der sich dahinter verbarg. Sein Blick erfasste sofort, was er war: eine Menagerie des Grauens, die all seine heimlichen Befürchtungen bei weitem übertraf.
*
Keuchend vor Anstrengung stürzte er zurück in den großen Saal und schrie nach dem Alten. Dieser blickte unwirsch auf, als sein aufgelöster Begleiter ihn bei der Arbeit störte.
„Madre de Dios! Que horror! Señor, Sie müssen sofort kommen! Ich habe etwas schreckliches entdeckt.“ japste Carlos. Der Alte sah den aufgelösten, jungen Mann mit spöttisch hochgezogener Braue an. „Lassen Sie mich raten, noch mehr Knochen?“
Carlos sah sein Gegenüber verdutzt an. „Si, woher wissen Sie das? Es sind Skelette von Menschen. Allesamt! Der ganze Raum ist voll davon.“ Der Professor sah sein Gegenüber für einen langen Augenblick fest an, dann stand er auf, klopfte sich den Staub von den Hosen und folgte dem aufgeregten Carlos in die Finsternis des Ganges.
*
Nur zögernd erhellte der Schein der Lampe das Durcheinander von Knochen, die wahllos in dem kleineren, grottenartigen Raum verstreut lagen. Dutzende vertrocknete Kadaver eindeutig menschlichen Ursprungs hingen an eisernen Ketten von der Decke und an den Wänden. Faulendes Fleisch hing in Fetzen herunter, in den tief klaffenden Wunden wanden sich fahlweiße Maden. Zahllose Insekten wimmelten auf den Überresten der Toten und nährten sich von ihnen. Der Gestank war unbeschreiblich. In die Wände waren Dutzende kleiner Vertiefungen geschlagen. Als Walt sich, ein Taschentuch vor den Mund haltend, vorsichtig seinen Weg durch das Durcheinander bahnte und in einen hineinleuchtete, fanden sie in den Nischen verrottende Schädelknochen.
„Großer Gott, wer hat das bloß getan?“ hauchte Carlos, vor Grauen und Ekel grün im Gesicht. Er atmete so flach wie möglich durch den Mund, um dem Gestank besser ertragen zu können, doch seine Zunge erfasste den fauligen Geschmack verfaulenden Fleisches und drehte ihm den Magen um. Zum Glück hatte er schon lange nichts mehr gegessen. Seine Augen irrten wie zwei dunkle Irrlichter durch den Raum, als würde er jeden Moment die Urheber dieses Massakers erblicken.
„Ja, wer bloß?“ krächzte der Alte dumpf mit einer seltsam kalten Aufregung in der Stimme. „Oder vielleicht sollte man besser fragen: Was?“ Das wissende Altmännerlachen hallte unangenehm durch die Dunkelheit, zerbrach in zahllose Echos und verklang. Carlos wurde das Gefühl nicht los, das sein Begleiter völlig den Verstand verloren hatte. Mit stoischer Ruhe machte sich der alte Mann an die Untersuchung der Leichen, nahm einige Knochen in die Hand, betrachtete sie eingehend und warf sie dann achtlos wieder weg. Carlos, dem dieses Verhalten zutiefst beunruhigte, wich einen Schritt zurück, nur zur Sicherheit. Der alte Mann schien sich, seit sie hier unten angekommen waren, von einem harmlosen Alten in einen Irren verwandelt zu haben. Die unerklärlichen Gemütsschwankungen des alten Mannes stellten den Jüngeren seit der ersten Begegnung vor ein Rätsel. Walt legte zumeist ein kaltes, berechnendes Wesen an den Tag; und doch brach hin und wieder ein anderer Walt durch, einer der fröhlich und freundlich war, der normal war. Es schien ihm, als hätte der Alte irgendwann verlernt, lebendig zu sein. Als wäre alles warme, herzliche und menschliche irgendwann aus ihm herausgesaugt worden zu sein und nur einen eiskalten, nüchternen und berechnenden Irren zurückgelassen. Ihn schauderte.
*
Schließlich hatte sich Walt bis ans andere Ende des Raumes vorgearbeitet und dabei wieder leise vor sich hin gemurmelt. Carlos hatte er dabei keines Blickes gewürdigt. Wie an Fäden geführt tastete sich Walt an der Wand entlang, bis seine Finger die Vertiefung fanden, die tiefer in die Erde führte. Keine Tür, nur ein weiterer Gang, niedrig und schmal und finster wie die tiefste Nacht. Ohne zu zögern trat der Alte in den Gang und verschwand in der Dunkelheit. Carlos zögerte, wusste nicht, ob er den Mann begleiten sollte oder nicht. Doch ein kurzer Blick auf das Grauen zu seinen Füssen ließ ihn hastig hinterhereilen.
Der Gang war nur kurz und öffnete sich schon nach wenigen Metern hin zu einem sehr kleinen Raum, in dessen Mitte ein mit seltsamen Motiven verzierter, steinerner Sarkophag stand. Dicker Staub bedeckte ihn und trudelte träge durch die Luft, die sich – dem muffigen Geruch nach zu urteilen – schon seit Ewigkeiten nicht mehr bewegt hatte. Ein ersticktes Keuchen entwand sich der staubtrockenen Kehle des alten Mannes, als er mit bebenden Händen über den Sargdeckel strich. Seine Augen tränten und er konnte seinen Blick nicht abwenden von den Inschriften. Seine Lippen bewegten sich lautlos, formten Worte in seltsamen Sprachen und ließen Carlos, der inzwischen hinter den zitternden Walt getreten war, erschauern. Was murmelte der Alte denn jetzt schon wieder? Ojala me hubiera quedado en casa, wär ich doch bloß zu hause geblieben, wünschte er sich verzweifelt und wartete unbehaglich.
*
„Carlos“ hallte die harsche Stimme so plötzlich durch den Raum, dass der Angesprochene erschrocken zusammenzuckte. „ Wie spät ist es?“ Carlos warf einen schnellen Blick auf seine Armbanduhr. „6 Uhr. Warum?“ „Warten Sie’s nur ab. Warten Sie’s nur ab. Sie werden schon sehen.“ grinste der Professor, warf einen berechnenden Blick auf seinen Begleiter und ging mit raschen Schritten um den Sarkophag herum. „Kommen Sie her, helfen Sie mir mal. Wir müssen die Steinplatte hier runterschieben. Ich will einen Blick hineinwerfen.“
„Por que? Warum denn? Liegen denn da draußen nicht genug Leichen?“
„Tun Sie was ich Ihnen sage, Mann.“ herrschte ihn der Professor an und begann, sich mit aller Kraft gegen die steinerne Abdeckung zu stemmen. Carlos sprang schließlich hinzu und unter ihren vereinten Bemühungen begann sich die dicke Platte Stück für Stück zu bewegen. Schließlich fiel die schwere Platte mit einem steinernen, dumpfen Schlag zu Boden und gab den Blick frei auf etwas, das seit Ewigkeiten niemand mehr gesehen hatte.
„Señor, was ist denn an dieser so besonderes? Warum liegen die Anderen da draußen und diese hier ist...“ fragte Carlos verwundert und vergaß für einen Moment sein Unbehagen.
„Eine gute Frage, fürwahr. Warum wurde diese hier bestattet und die anderen nicht?“ entgegnete Walt mit einem schmalen, wissenden Lächeln.
Und beugte sich wieder über die Mumie im Sarkophag.
Carlos riskierte einen zweiten Blick und starrte das ekelige Ding da drin genauer an.
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Die Mumie sah aus wie einer der luftgetrockneten Mumien, die man immer wieder mal im Fernsehen sah, bräunlich, mit eingefallenen Gesichtszügen und aufgebrochenem Brustkorb. Carlos starrte wie paralysiert auf das eingetrocknete Chaos, das dort bloßlag und aus dem zerbrochene Rippen und vertrocknete Eingeweide wie anklagende Finger ragten. Er schüttelte sich vor Abscheu und hätte sich beinah übergeben, als er sah, wie der alte Walt zärtlich über die Reste langen, blonden Haares strich, das über die Schultern der Mumie fiel. „Meine Liebste, meine Schöne. Endlich habe ich dich gefunden.“ flüsterte Walt zärtlich und berührte dabei immer wieder ehrfürchtig das Haar der Toten. Carlos schüttelte sich angewidert. Ihm waren lebendige Frauen lieber.
„Mensch Walt, die hier ist doch schon mehr als 1000 Jahre tot, was erzählen Sie denn da?“
Doch der alte Mann beachtete ihn gar nicht. Tränen standen in seinen Augen – und ein sehr merkwürdiger Glanz, der ihm irgendwie bekannt vorkam – Liebe, und noch etwas.
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Eine Stunde später war Carlos wieder in der Schatzkammer, wie sie den ersten Raum nannten, am Räumen und Lager herrichten. Rastlos und irgendwie wütend strich er durch den großen Raum, warf Sachen durch die Gegend und war sich irgendwie selbst nicht ganz im Klaren, was ihn eigentlich so zornig machte. „Este gilipollas, dieser verfluchte, alte Narr!“ fluchte er vor sich hin und warf seinen Schlafsack zum vierten Mal in eine andere Ecke. „Ich hätte mich niemals auf die Sache einlassen sollen. Mit dem Alten stimmt doch irgendwas nicht!“
Er blieb stehen, nahm einen Schluck Kaffee und sah auf die Uhr. Fast 7! Es wurde Zeit, dass er das Lager auf Vordermann brachte. Seufzend stellte er die heiße Tasse zurück auf den Tisch und packte den letzten Rucksack aus.
Eine kleine Ewigkeit verstrich, Carlos` Schritte verhallten leise im dunklen Gang und Walt starrte immer noch auf sie herab. In seiner linken Faust hielt er den kleinen, silbernen Anhänger umklammert, den sie ihm einst geschenkt hatte. „Ich habe dich nicht vergessen, nie.“ flüsterte er ihr zu. „Ich habe dich niemals vergessen, du meine Liebe.“ hauchte er leise. Erinnerungsfetzen stiegen auf aus den Tiefen seines Gedächtnisses und schwebten wie Schatten vor seinem inneren Auge dahin. Tränen sammelten sich in seinen blassen Augen und liefen dann langsam seine unrasierten Wangen herab. Mit entschlossenem Gesichtsausdruck griff er mit der Rechten nach seinem kleinen Messer und schnitt sich rasch tief in den linken Arm. Süßer Blutgeruch durchdrang die trockene, staubige Luft und vermischte sich mit dem alten Geruch des Todes.
Ein Schluchzer des Schmerzes, der auch für einen der Lust gehalten hätte werden können, entwand sich seiner Kehle, als er den blutenden Arm über die Mumie hielt und zusah, wie die Blutstropfen langsam auf das staubige Durcheinander unter ihm herabfielen. „Komm zu mir zurück!“ schrie er plötzlich, riss sich los vom Anblick seiner Geliebten und Herrin und rannte wie von tollwütigen Hunden gehetzt in den dunklen Gang, den er gekommen war.
Er stolperte über die zerschundenen Leichen im Vorraum, stolperte, fiel zwischen sie. Wie eine Flutwelle brachen die verschütteten Erinnerungen aus den Tiefen seines Gedächtnisses hervor und es war ihm, als wären die vergangenen 50 Jahre nie gewesen. Und als die Erinnerungen an Farbe gewannen, vor seinem inneren Auge wieder lebendig wurden, vermischten sie sich mit dem Verwesungsgestank und ließen ihn aufschreien.
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Carlos zuckte vor Schreck zusammen, als er den qualvollen Schrei hörte, der sich hundertfach an den engen Wänden der Gänge brach. Er schnappte sich seine Taschenlampe und rannte hinaus um dem alten Mann zu helfen. Er fand den Alten hilflos zappelnd und schreiend in einem Haufen Skeletten hängen und schüttelte den Kopf. Mit einem tiefen Seufzer atmete er aus und ließ die Anspannung aus seinen Muskeln entweichen. „Schon gut, Señor. Ich hol Sie hier raus.“ Er redete beruhigend auf den völlig verstörten Mann ein und schaffte es nach einigen Versuchen, den heftig keuchenden Mann aus dem Knochenberg zu befreien.
„Que ha pasado? Was ist denn los?“ fragte Carlos. „Ist was passiert?“ „Nein nein, nichts. Ich.....ich habe mich nur erschreckt, das ist alles.“ wich der alte Mann dem forschenden Blick des Jüngeren aus. Er strich sich sein schütteres, graues Haar zurück und wischte den Dreck von seiner Hose. „Wie sehe ich denn wieder aus.“ murmelte er vor sich hin und wandte sich, immer noch wischend, der Schatzkammer zu. Beim Gehen verhakte er sich wieder in einer der Leichen, stutzte, fluchte und befreite sich unwirsch.
Carlos beobachtete den Anderen und was er sah, beruhigte ihn ganz und gar nicht. Irgendetwas war hier passiert und er würde schon noch herausfinden, was das war. Er seufzte noch einmal tief und folgte dann dem Älteren zurück zum mittlerweile fertig gestellten Lager.
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Schweigend und tief in Gedanken versunken saß Walt am Tisch, die Arme aufgestützt und blickte ins Leere. Carlos sah ihn kurz an, füllte einen weiteren Becher mit heißem Kaffee und stellte ihn wortlos vor den alten Mann. Dabei fiel sein Blick auf den immer noch blutenden Arm und die Schnittwunde. „Was ist passiert? Reden Sie endlich, Mann! Woher haben Sie die Wunde?“ brüllte er Walt unvermittelt an. Der Alte zuckte nicht mal zusammen. Mit klarem, ruhigem Blick sah er seinen Gegenüber an und lächelte fein. „Das tut nichts zur Sache. Es ist nichts passiert, nichts. Wirklich.“ Versicherte er, als er den zweifelnden Blick Carlos´ sah.
„Wirklich.“ flüsterte er, legte den Kopf schief und schien wie entrückt einer Stimme zu lauschen, die außer ihm niemand hören konnte. Sein Orden würde ihn reichlich belohnen, wenn ihm seine Mission gelang.
Was scheint, ist nicht immer so. Trügerisch ist der Augen Blick. Sehen nicht, was verborgen. Traue ihnen nicht. Die Grenze zwischen Leben und Tod ist nicht entgültig. Den Tod überwinden, die Ewigkeit wär sein. Er durfte nicht versagen. Er hatte SIE gefunden. Seine Zeit war gekommen.
In seiner Phantasie war er wieder ein junger Mann, kaum 20 Jahre alt. Er stand im Park an der großen Eiche, dort, wo sich zu damals immer die Pärchen zu treffen pflegten. Es war dunkel, kurz vor Mitternacht, doch seine Freundin war nicht gekommen. Traurig und wütend war er ruhelos auf und ab getigert, hoffend, nach ihr Ausschau haltend. Gutaussehend war er gewesen, damals, hübsch mit seinem dichten braunen Haaren und seinen blassgrauen Augen; schlank und aufrecht und voller Optimismus.
Endlos hatte er gewartet auf Cara; doch dann war sie gekommen. Bleich wie der Mondschein hatte sie auf einmal dagestanden und ihn angesehn. Es hatte ihm den Atem geraubt, so schön war sie gewesen. Ihre herrlichen goldenen Locken, die ihr weit bis auf die Hüften fielen, ihre wundervollen, klaren Saphirblauen Augen, ihr perfekter Leib. Gelächelt hatte sie, ja. Noch immer konnte er den süßen Zauber ihres feinen Lächelns spüren; er hielt ihn immer noch gefangen. Wie angewurzelt stand er da, gaffte sie an. Dann war sie auf ihn zugekommen und hatte ihn in die Arme genommen. Er hatte die Umarmung erwidert. Und als sie ihre Lippen auf seinen Hals drückte, war da nur noch Glückseligkeit und er ertrank in ihr.
Diese Nacht, die nächste und noch viele - bis sie eines Tages einfach nicht mehr gekommen war. Sie war weggegangen – doch ihr Zauber hing noch an ihm, wirksam wie am ersten Tag. Es gab kein Entrinnen, und er wollte es auch gar nicht. Niemals.
Dann hatte der Orden ihn gefunden, ihm Zuflucht geboten, sich seiner Wunden angenommen. Sie hatten viel für ihn getan. Jetzt war die Zeit gekommen, alte Schulden zu begleichen, doch er hatte seine eigenen Pläne. Er lachte auf.c
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Carlos tigerte noch eine ganze Weile herum, richtete die Schlafsäcke, überprüfte die Batterien, kochte frischen Kaffee und sah immer wieder zu Walt hinüber, der sich in der ganzen Zeit nicht um einen Jota bewegt hatte. Das ganze Gesicht verzücktes, gieriges Strahlen hing der alte Mann seinen Erinnerungen an seine Jungend und der großen Liebe nach; und jetzt war er wieder bei ihr, hatte sie gefunden. „So viele Jahre, so viel Zeit.“ hauchte er leise – und lächelte wieder.
Carlos wandte sich um, als er den Anderen murmeln hörte, doch konnte er die Worte nicht verstehen. Verwirrt warf er einen Blick auf die Uhr, 7.20. Noch wenige Minuten und die Sonne geht unter – ging es ihm durch den Kopf. „Sere idiota!“ schalt er sich selbst. „Hier drinnen macht das ja nun wirklich keinen Unterschied.“ Er wandte sich dem Kaffee zu, der in einem Blechtopf ruhig vor sich hin kochte. Irgendetwas störte ihn, irgendetwas, das sich in einer dunklen Ecke seines Bewusstseins versteckte, das er einfach nicht zu fassen bekam. Er fand einfach keine Ruhe, schnappte sich seine Lampe und ging zielstrebig in Richtung der Grabkammer. Walt rührte sich nicht und lächelte weiter.
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Zögernd wand er sich an den stinkenden Leichenhaufen vorbei und trat ein in die Kammer des Todes, in der jetzt der offene Sarkophag stand. Schatten tanzten an den Wänden und der Decke, seine Lampe war einfach zu schwach, erzeugte mehr Schatten, als sie vertrieb. Langsam näherte er sich dem steinernen Grab und sah hinein. Die Mumie lag dort wie zuvor. „Carlos, du fängst an zu spinnen. Natürlich hat sie sich nicht bewegt. Wie denn auch?“ knurrte er sich an, wütend auf sich selbst. Zu wütend um sich einzugestehen, das er Angst hatte. Er starrte der Mumie in die leeren Augenhöhlen. Sie starrte zurück. „Sie starrt zurück!“ keuchte er. „Sie starrt mich an!“ wiederholte er jetzt lauter. Er wich zurück und fuhr sich mit den Fingern durchs kurze, schwarzlockige Haar. „Unfug!“ dachte er, trat wieder näher heran und hielt den Lichtstrahl direkt ins tote Gesicht der Mumie.
Ihr Kopf drehte sich ganz langsam, bis ihre leeren Augenhöhlen ihn direkt ansahen. Wie ein Blitz schoss ihr Arm vor und schnappte sich sein linkes Handgelenk.
Carlos begann zu kreischen.
Walt saß derweil immer noch bewegungslos am Tisch, in Erinnerungen schwelgend, lächelnd. Er sah erst auf, als Carlos Schreie zu ihm drangen. „Meine Geliebte.“ flüsterte er, stand auf und ging ruhigen Schrittes und ohne jede Hast zu ihr. Sein Herz schlug schneller in freudiger Erwartung; seine Augen nahmen jedes noch so kleine Detail auf, jeden Kratzer von den Fingernägeln ihrer verzweifelten Opfer im Todeskampf an den Wänden, jeden noch so kleinen Knochensplitter; seine Ohren hörten beinah das die Tiere in der Erde machten. Blut rauschte wie ein feuriger Strom durch seine Adern und verschärfte seine Sinne. Ihr altes Blut erwachte in ihm, vermischte sich auf ein Neues mit dem Seinen und ließ jedes noch so leise Geräusch in seinen Ohren schmerzen. Das Feuer in ihm brannte hell und brachte Bereiche seines Körpers zum reagieren, die er schon lange tot wähnte.
Wie in Trance näherte er sich Schritt für Schritt ihrer Kammer. Der Ort, an dem SIE auf ihn wartete. Er trat ein.
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„Da sind Sie ja endlich, Mann.“ keuchte Carlos erleichtert auf. „Ich schreie mir hier die Seele aus dem Leib. Helfen Sie mir mal, ich hänge hier irgendwie fest. Und mit dieser Mumie hier stimmt irgendwas nicht. Sie hat sich bewegt! Ganz sicher. Ich...“ er verstummte, als er Walt ansah. „Ich weiß, ich weiß.“ murmelte der geistesabwesend. Leisen Schrittes ging er an dem gefangenen Carlos vorbei, richtete den Strahl seiner Lampe auf die Wände und betrachtete die dortigen Kratzer fast träumerisch.
„Sagen Sie, Carlos“ fing Walt an, und betrachtete eingehend die vor ihm liegende Wand. „Haben Sie jemals geliebt?“ Er drehte sich um und sah dem Angesprochenen direkt in die Augen. „J..ja, glaub schon. Warum?“ stotterte Carlos verdutzt über den plötzlichen Themenwechsel. „Hören Sie, das ist.........helfen Sie mir!“ Er starrte den Alten an und zerrte dann wieder wie wild an seinem Arm, doch der Griff der Mumie lockerte sich nicht. Walt ging zum Kopfende des Sarkophages, lächelte liebevoll und strich wieder über die vertrockneten Locken. Carlos würgte. „Que coño estas haciendo? Was tun Sie denn da?“ schrie er. „Sind Sie verrückt?“
„Sie verstehen das nicht, Carlos.“ sagte Walt bestimmt. „Werden es aber bald verstehen, nur Geduld.“ Und grinste. Und dieses Grinsen gefiel Carlos ganz und gar nicht. Mit wilder, verzweifelter Kraft zerrte er an dem Griff der zerfledderten Mumie – doch er lockerte sich um keinen Millimeter. Walt lächelte nur und wanderte tief in Gedanken versunken rastlos durch den kleinen Raum. Er wartete.
*
Nach einer Weile schien sich die Atmosphäre im Raum zu verändern. Alles wurde still, kein Geräusch zu hören, sogar Raum und Zeit schienen den Atem anzuhalten. Eine Präsenz erfüllte den kleinen Raum, drang in jede Ritze, kroch Carlos Wirbelsäule hinauf und ließ ihm die Haare zu Berge stehen. Hier geht doch etwas vor! schoss es ihm durch den Sinn. Es fühlte sich nicht gut an, gar nicht gut. Er stand ganz still, wehrte sich nicht mehr gegen den ehernen Griff – und lauschte angstvoll in die Stille. Auch Walt hatte diese neue Anwesenheit gespürt und frohlockte. Tief einatmend unterdrückte er die aufwallende Erregung, die durch seinen Körper nach oben stieg und schluckte schwer. Es war soweit! All die Jahre, dachte er, soviel Zeit verschwendet. Er griff nach seinem kleinen, aber scharfen Taschenmesser, trat an das Kopfende des Sarkophages und schnitt sich erneut tief in den rechten Arm. Er verzog vor Schmerz das Gesicht und keuchte auf, aber er zog das Messer unaufhaltsam weiter, bis es ihm aus der zitternden Hand fiel.
Carlos japste entsetzt. Der Alte dreht jetzt völlig durch, ging es ihm durch den Kopf.
„Dios mio, Walt, was tun Sie da?“ schrie er wieder. Walt beachtete ihn nicht, aber irgendwie hatte Carlos das auch nicht wirklich erwartet. Fassungslos musste er mit ansehen, wie der Alte das herausströmende Blut auf den Kopf der Mumie tropfen ließ, hörte sein unverständliches Murmeln, sah die unnatürliche Blässe in dessen Gesicht, sah den Wahnsinn in den eisblauen Augen glühen. Carlos schloss die Augen und begann zu weinen.
Vaters Zimmer, die Tür öffnet sich, Blut fließt. Leere Augenhöhlen starren ins Nichts. Das Fenster ist offen, leise weht der Nachtwind ins Zimmer, der Vorhang weht im Wind. Schatten tanzen in der Nacht, blutroter Himmel, Finster die Nacht, kein Laut zu hören. Das Echo der Schreie hallt stumm von den Wänden wider. Seine Mutter weint. Oh nein.......nein............lass es nicht zu. Gebete, die ungehört verhallen. Gott kümmert es nicht.
„Ich erinnere mich, ich erinnere mich“ weint Carlos und denkt an seinen Bruder, seinen Vater. Keine Hoffnung, nie gehabt, niemals, nein.
*
Walt war inzwischen speiübel vor Schmerz, doch er beachtete es nicht. Sein ganzes Sehnen und Trachten galt seiner Geliebten. Keine Sekunde ließ er sie aus den Augen, keinen Augenblick wandte er die Augen von ihr, sog ihren Anblick in sich auf und konnte es kaum noch erwarten. „Nicht mehr lange, gleich.....gleich. Nur noch ein bisschen.“ hauchte er keuchend.
Blut tropfte auf vertrocknete Haut, ihr süßer Duft erfüllte den Raum und belebte die Präsenz, ließ weitere Erinnerungen wach werden, erweckte Gier. Ein geisterhaftes Beben brüllte tonlos durch die Gruft, ließ Carlos erschauern und war wie eine Liebkosung für Walt.
Durch das Beben aufgeschreckt öffnete Carlos die Augen und riss sie vor Erstaunen weit auf, als er sah, was sich da vor ihm abspielte. Er konnte sehen, wie das Blut in die pergamentene Haut eindrang – und sie heilte. Risse schlossen sich, Farbe wurde sichtbar. Sie entsteht wieder neu, dämmerte es ihm schließlich. Die knöcherne Hand, die ihn erbarmungslos hielt, regenerierte sich, neues Fleisch bildete sich, Adern füllten sich. Die Präsenz im Raum drang langsam auch in seinen Körper ein, füllte seinen Geist mit fremdem Wissen. Es reicht nicht! Das Blut. Es war nicht genug. Und dann sah er, wie sich ihr Kopf erneut zu ihm hin drehte. Da wurde ihm klar, von wem sie mehr Blut bekommen würde. Er winselte und konnte fühlen, wie ihm ein warmer Strom die Hose nässte und an seinen Beinen herunterrann. Walt lachte. Er lachte und lachte und hörte auch dann nicht auf, als die andere Hand der Mumie vorschoss, Carlos Kopf packte, den jetzt Schreienden runterzog und ihm die Reißzähne voller Gier in den Hals rammte. Nur eine Minute später ließ sie den ausgesaugten Leichnam fallen wie eine Puppe. Die Regeneration verlief nun wie im Zeitraffer. Binnen weniger Minuten war sie vollkommen wiederhergestellt.
Einen Augenblick lang lag die junge Frau reglos in ihrem Sarg. Dann öffneten sich die unglaublichen saphirblauen Augen und betrachteten ihre Umgebung aufs Neue. Ihre herrlich goldene Lockenmähne fiel ungebändigt weit über ihren Rücken und umfloss sie wie ein köstlicher Schleier, als sie sich erhob. Mit einer Geschmeidigkeit und Grazie, wie sie nur ein uraltes, unsterbliches Geschöpf erlangen kann, verließ sie ihren Sarg und richtete ihren kalten, toten Blick auf den alten Mann neben sich.
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„Erinnerst du dich noch an mich?“ fragte Walt leis mit zitternder Stimme. Sie wandte sich ihm ganz zu, wie eine bewegliche Statue aus feinstem, reinweißem Alabaster. Ihre Schönheit war vollkommen, kalt, unmenschlich – sie verströmte den kaum wahrnehmbaren Geruch des Todes aus ihrer Haut. Nicht die leiseste menschliche Regung war auf ihrem perfekten Gesicht auszumachen. Sie suchte in ihrer Erinnerung nach ihm, ah ja. Da erschien ein ganz leises Lächeln in ihren Mundwinkeln. Sie unterbrach den Kontakt, erblickte den toten Carlos zu ihren Füßen und fauchte vor Abscheu auf. Sie packte ihn am Genick und schleuderte ihn mit einer Leichtigkeit in den Vorraum mit den anderen Skeletten, als wäre er leicht wie eine Feder. Walt sah das alles nicht, er sah nur sie, war erfüllt von ihrer Gegenwart.
„Ich habe von dir geträumt. All die Jahre habe ich von dir geträumt. Und auf dich gewartet.“ flüsterte Walt. „Warum hast du mich verlassen? Ich kann ohne dich nicht leben.“ fragte er und näherte sich ihr. Sein Verlangen nach ihrem Körper wurde immer stärker. Sein Atem ging schneller, als er schließlich in ihr unbewegtes Gesicht brüllte:“ Warum hast du mich verlassen, zum Teufel?“ Ganz nah war er ihr jetzt. Nur Zentimeter trennten sie voneinander. Walts heißes Verlangen traf auf ihre Eiseskälte, Feuer und Eis prallten aufeinander und ließen die Spannung ins Unerträgliche steigen. „Wie unvernünftig du bist.“ sagte sie mit einemmal. „Aber das warst du ja schon damals.“ Ihre süße, sanfte Stimme stand im völligen Gegensatz zu ihrer Kälte und verwirrte Walt die Sinne. Langsam und geschmeidig schritt sie durch die Gruft, besah sich die Kratzer an den Wänden und lauschte dem Brüllen der Welt in der Stille der Gruft. Walt folgte ihr wie ein Hündchen.
Als sie den Raum einmal umrundet hatte, blieb sie wieder stehen und sah Walt fragend an. Er zitterte vor Sehnsucht. „Was willst du von mir?“ sagte sie sanft.
„Mit dir vereint sein.“ Gab er zurück. „Ich will dich, ich liebe dich, ich brauche dich.“ sprudelte es aus ihm heraus. Sein schlohweißes Haar hing in wirren, fettigen Strähnen um seinen Schädel. Er streckte seine Hände gierig nach ihr aus, doch er wagte es nicht, sie zu berühren. Da lachte sie, öffnete einladen die Arme und rief:“ Komm zu mir, mein Geliebter.“ Und als er sich mit aller Inbrunst in ihre Arme warf, umschlang sie ihn und senkte ihre langen, weißen Reißzähne in seinen faltigen Hals.
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Es war so unbeschreiblich schön! Endlich vereint, so lange her, ging es Walt durch den Kopf. Fast konnte er fühlen, wie sie leise lächelte. Aller Schmerz war vergessen, die Zeit stand still. Ihr kaltes, totes Herz nahm den Rhythmus seines Herzens auf und es dröhnte jeder Schlag wie ein tiefer, hallender Donner, jagte sein warmes, menschliches und ihr heißes, unsterbliches Blut durch ihre Venen. Sacht saugte sie sein köstliches Blut aus ihm und genoss jeden Tropfen. Ihre Freude und Ekstase vermischte sich mit der Seinen und beide ertranken im Taumel ihrer Lust. Eng an sie geschmiegt konnte er spüren, wie ihr Körper wärmer wurde, weicher; er ließ seine Hände wandern, erkundete ihre Rundungen und keuchte auf vor Erregung. „Meine Geliebte, meine Schöne, meine....meine...“ flüsterte er. Beide vermischten sich, wurden eins. Walt verlor sich in ihr, gab sich ihr hin. „Du bist mein. Mein. Für immer.“ keuchte er leis, doch sie lächelte nur. Schiere Freude durchdrang ihn nun, vor seinem inneren Auge begann es zu leuchten. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wurden eins. Ein strahlendes Licht erschien, schien ihn zu rufen und zu locken. Eine Gestalt wurde sichtbar, verschwommene Kontur im hellen Schein; kam auf ihn zu, lockte ihn. Sehnsucht wurde in ihm wach. Er wollte gehen, wollte zu ihr, doch etwas hielt ihn fest, ließ ihn nicht los. Mit einer letzten Anstrengung befreite er sich und rannte lachend los. Sie erwartete ihn.
Im selben Augenblick hörte sein Herz auf zu schlagen.
Die Frau, die ein Vampir war, löste ihre Reißzähne aus seinem Hals, leckte sich die letzten Tropfen von den Lippen und warf den Leichnam achtlos auf den Haufen zu den anderen.
Dann verließ sie ihren Unterschlupf und machte sich ein weiteres Mal auf in die nächtliche Welt der Sterblichen zum dunklen Tanz in finstrer Nacht.