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Türkischer Honig oder Das Kamel, das durch ein Nadelöhr ging
Melissa ließ sich langsam von der Menschenmenge treiben. Sie war glücklich. Die ganze Woche hatte sie sich schon darauf gefreut, mit ihren Eltern die Kirchweih zu besuchen. Karussells, Schieß- und Losbuden, das Riesenrad, Autoskooter und Geisterbahn lärmten verheißungsvoll von allen Seiten. Die würzigen, heißen Gerüche von brutzelnden Bratwürsten und knusprigen Pizzas mischten sich mit dem süßen, klebrigen Duft von Zuckerwatte, Lebkuchenherzen und Gummibärchen.
„Türkischer Honig, hier gibt es echten Türkischen Honig“, rief ein hünenhafter Mann mit buschigem, schwarzen Schnauzbart, als Melissa vor seiner mit Ornamenten verzierten, himmelblauen Bude auftauchte. „Na, Kleine, hast du schon mal echten Türkischen Honig gegessen? Meiner ist was ganz Besonderes“, versicherte er, und seine großen, bernsteinbraunen Augen funkelten geheimnisvoll. Melissa konnte sich nicht recht entscheiden. Sie schnupperte, leckere Düfte wehten aus dem Stand herunter. „Probier nur, Mädchen, solchen findest du sonst nirgendwo“, versprach der Verkäufer und zwinkerte ihr aufmunternd zu, als er ihr ein Stückchen von dem in rosa Papier eingewickelten, klebrigen Zuckerzeug reichte.
Melissa knabberte an einer Ecke ihrer honiggelben Kostprobe und schloss die Augen. Es schmeckte wirklich köstlich, und sie ließ sich die ungewohnte Süßigkeit auf der Zunge zergehen. Doch auf einmal wurde ihr einen Atemzug lang ein wenig schwindelig, als höbe sie vom Boden ab, und dann sah sie sich plötzlich vor ihrem inneren Auge in einem fremden Land. Sie wähnte sich in einer endlos weiten, von gelben, verdorrten Gras bedeckten Ebene, auf der braun und weiß gefleckte Schafe weideten. Die Sonne brannte, und ein warmer Wind ließ ihre Hosen flattern. Ein Habicht kreischte hoch oben an einem betörend blauen Himmel, um dann in Richtung eines fernen, schneebedeckten Berges davonzufliegen. So intensiv war der Eindruck, dass Melissa dachte, sie wäre wirklich dort in diesem fremden Land.
Sie kam erst wieder zu sich, als sie den letzten Bissen heruntergeschluckt hatte. Verwirrt drehte sie sich nach ihren Eltern um und stieß dabei mit der Schulter gegen das Maul eines zottigen, zweihöckrigen Kamels, das riesig groß direkt hinter ihr stand, und obwohl der Blick aus seinen großen, braunen Augen sanft war, wich sie erschrocken zurück. Dabei stolperte sie über eine schneeweiße Katze, die scheinbar aus dem Nichts aufgetaucht war und ärgerlich fauchte. Melissa fuhr herum und blickte direkt in zwei schmale, blitzende Katzenaugen, deren eines smaragdgrün, das andere saphirblau war. „Mama, Papa, wo seid ihr? Warum lasst ihr mich hier allein mit diesen zwei komischen Tieren? Wo kommen die überhaupt her?“ rief sie. Ihre Stimme war vor Angst dünn und hoch.
„Wir sind doch da, Kind. Wir sind deine Eltern. Wir sind nicht weggegangen, sondern sehen nur etwas anders aus. Ich weiß nicht, wie das passieren konnte, aber ich fürchte, ich bin ein Kamel. Noch dazu ein Riesenkamel“, brummte das Kamel und bemühte sich, einen beruhigenden Tonfall zu finden, dabei war es selber ziemlich fassungslos. Es legte seinen Kopf schief und bleckte seine großen, gelben Zähne, als versuche es zu lächeln. Melissa schlug aus seinem Maul ein übler Geruch entgegen.
„Dann hat sich ja nichts Wesentliches geändert, mein Lieber“, raunzte die weiße Katze süffisant, die sich unter den Bauch des Kamels verzogen hatte und fasziniert ihre Krallen betrachtete. Verzückt fuhr sie sie ein und aus, und auf der Suche nach einem Objekt, an dem sie ihre neuen Waffen ausprobieren konnte, fiel ihr Blick auf ein Hinterbein des Kamels. Schnurrend schlug sie ihre Krallen hinein und zog sie über das wollige Bein.
Melissa starrte die beiden Tiere an, dann fing sie zu schreien an. Als sie wegrennen wollte, konnte das Kamel sie gerade noch mit den Zähnen hinten am Mantel erwischen. „Hiergegliegen, junge Daje“, brachte es zwischen dem Mantelstoff hervor, „jir sind jirklich deine Eltern.“
„Ihr seid meine Mama und mein Papa?“
„Ja, oder hast du schon mal echte Kamele gesehen, die sprechen können wie Menschen?“ grunzte das Kamel und hob jäh sein Bein, weil es einen messerscharfen Schmerz verspürte. Fast hätte es mit seinem breiten, gespaltenen Hinterhuf die Katze getroffen, aber die war auf der Hut und sprang behände zur Seite. „Miau, mein Kind. Ich bin es wirklich. Anscheinend wurden wir verhext“, sagte sie und schlug sachte mit dem Schwanz hin und her. Melissa hörte keine Spur des Bedauerns heraus.
„Mama, bitte nicht“, flüsterte sie ungläubig. „Was mache ich denn jetzt? Was sage ich in der Schule, wenn der nächste Elternabend stattfindet? Soll ich den Lehrern sagen, dass sie nicht erschrecken sollen, wenn anstatt meiner Eltern ein riesiges Kamel und eine Katze auftauchen? Und morgen wollten wir doch zum Schlittschuhlaufen in die neue Halle gehen! Wie sieht denn das aus, wenn ein Kamel Schlittschuh fährt? Mama! Papa! Ihr blamiert mich! Ob dieses komische, süße Zeug schuld ist? Es hat doch alles damit angefangen...“
Melissa war außer sich. Anklagend drehte sie sich nach dem himmelblauen Stand um, aber er war wie vom Erdboden verschluckt, als hätte es ihn nie gegeben. Dort, wo sie ihn vermutet hatte, drehte sich ein Kinderkarussell mit Polizeihubschraubern und Feuerwehrautos, in denen kleine Kinder saßen, Glocken bimmeln ließen und sich freuten. Melissa war völlig verwirrt, und sie sah sich gezwungen, den Kirchweihbesuch abzubrechen.
Wie in Trance ging sie durch die Menschenmassen Richtung Ausgang. Vorneweg lief die weiße Katze und zeigte ihr den Weg, hinter Melissa lief das grummelnde Kamel. Die Leute lachten und streichelten es, sie dachten, die merkwürdige Truppe machte Reklame für eine neue Kirchweihattraktion.
Auf dem Weg zur U-Bahn fiel Melissa auf, dass das Kamel dauernd stolperte. „Papa, was ist denn bloß los, du läufst so komisch?“
„Ich komme mit meinen vier Beinen irgendwie nicht zurecht, sie wollen anders als ich. Das verstehe ich nicht.“ Das große Tier klang etwas verzweifelt.
Die Katze sagte spöttisch: „Das liegt daran, dass deine Kamelbeine Passgang laufen wollen und dein Männerhirn nicht.“ Das Kamel sah die Katze schräg von oben an, sagte aber kein Wort.
Die Heimfahrt gestaltete sich stressig. Melissa musste das Kamel in die U-Bahn hinein schieben, weil es sich fürchtete, und die Katze flutschte gerade noch durch die sich schließende Tür, weil sie meinte, auf dem Bahnsteig eine Maus gesehen zu haben und hinter ihr her jagte. Melissas Herz klopfte. Hoffentlich kam kein Fahrkartenkontrolleur! Sie hatte ihrem Vater eine Fahrkarte für Fahrräder gekauft, weil ihr nichts Besseres einfiel, aber sie war sich nicht sicher, ob ein Kamel überhaupt U-Bahn fahren durfte. „Na ja, jedenfalls steht nirgends, dass sie es nicht dürfen“, sagte sie sich, aber um Diskussionen mit den anderen Fahrgästen aus dem Weg zu gehen, beschloss sie, die vier Stationen über, die sie fahren mussten, nur an die Waggondecke zu starren. Dazu machte sie ein betont gleichgültiges Gesicht und hoffte, dass niemand Fragen zu stellen wagte. Und tatsächlich sagte niemand ein Wort, die Leute schienen einfach ratlos zu sein, was in einem solchen Fall zu tun wäre; vielleicht fürchteten sie sich auch vor dem Kamel und hofften, nicht von ihm belästigt zu werden, wenn sie sich ruhig verhielten.
Alles ging gut, bis das Kamel anfing, im Wechsel jeweils die Beine der einen, dann der anderen Seite anzuheben, und dabei dauernd „links, rechts, links, rechts“ vor sich hin murmelte. „Papa, was machst du, die Leute werden langsam nervös“, flüsterte seine Tochter.
„Ich übe doch nur den Passgang“, antwortete das Kamel gekränkt, und als die Katze sich vor Lachen auf dem Boden rollte, versuchte es beleidigt, sich umzudrehen. „Du bist zu groß dafür, hör doch auf“, zischte Melissa nervös, aber es war schon zu spät: Es machte seinem eigentlichen Namen Trampeltier alle Ehre und blieb quer im Gang stecken, mit dem wedelnden Schwanz gefährlich nahe am Gesicht eines rotgesichtigen Mannes mit grünem Jägerhut. Dessen Gesichtsfarbe wechselte daraufhin von Rot zu Puterrot.
Am vorderen Ende des Kamels sah sich eine alte Dame mit dem großen Maul des Tieres konfrontiert und betrachtete es verunsichert. Als die U-Bahn an der zweiten Station etwas hart bremste, verlor das Kamel die Balance und drückte der Frau seine stoppeligen Lippen ins Gesicht. Beim Hochkommen stieß es ihr auch noch den Strohhut vom Kopf. „Verzeihung, die Dame“, hauchte es freundlich, sammelte den Hut mit den Zähnen auf und hielt ihn ihr hin. „Hilfe, Polizei, jetzt hole doch endlich einer die Polizei“, kreischte sie entsetzt, woraufhin das Kamel den Strohhut beleidigt auffraß.
„Horch amol, Madla, schau, dass nauskommst hier mit deinen Viechern, sunst hol i wirklich jetza die Bolizei“, polterte der rotgesichtige Mann mit dem Jägerhut dumpf hinter der Kehrseite des Kamels hervor. Melissa brach der kalte Schweiß aus.
Da konnte die Katze, die bis dahin neben ihrer Tochter gesessen und das Kamel amüsiert beobachtet hatte, nicht mehr an sich halten. Wie eine wilde Furie sprang sie erst auf den Sitz neben den Mann, von da aus auf den Jägerhut und versetzte dem völlig verdutzten Mann von oben zwei gesalzene Backpfeifen. „Du holst nicht die Polizei, sonst kratze ich dir die Augen aus“, kreischte sie und fuchtelte mit ihren Krallen demonstrativ vor seinem Gesicht herum. Der Mann war vor Schreck stocksteif und bewegte sich nicht mehr.
An der nächsten Station, der dritten, stieg eine junge Punkerin mit lila Haaren und einem Ring in der Nase zu. Kamele in der U-Bahn schien sie selbstverständlich zu finden, sie war entzückt von ihm, kraulte es unablässig an der Kehle, am Hals und am Bauch und sagte ihm Sachen wie „Na, mein Hübscher, das gefällt dir, nicht wahr?“, bis die Katze ihm böse Blicke zuwarf und fast unhörbar zischte: „Pass nur auf, sonst lasse ich dir auch einen Ring durch die Nase verpassen“, aber es gab nur kollernde Geräusche von sich, als ob es in sich hineinlachte, und hielt genussvoll den Kopf hin.
„Charles-Darwin-Straße“ schnarrte es aus den U-Bahn-Lautsprechern, und Melissa klopfte ihrem Vater auf den zottigen Hals. „Wir müssen gleich aussteigen“, flüsterte sie. Die Katze verließ ihren Platz auf dem zerdrückten Hut des Rotgesichtigen, der inzwischen allerdings eher blass war mit einem Stich ins Grüne.
Als die U-Bahn hielt und die Punkerin die Tür öffnete, trieb Melissa das Kamel an. „Raus hier, kommt doch“, rief sie nervös, und das Tier sprang mit einem Satz ungelenk auf den Bahnsteig. „Ist doch gutgegangen“, brummelte es und wackelte vergnügt mit den Ohren, aber da ertönte hinter ihnen eine energische Trillerpfeife, die zu einem sich rasch nähernden Bahnbeamten gehörte.
Wie auf Kommando fingen alle drei zu laufen an, als wäre die Inquisition hinter ihnen her, nahmen am Ausgang drei Treppenstufen auf einmal und rannten dann an der Hauptstraße entlang – manche der vorbeifahrenden Autos drückten bei ihrem Anblick unwillkürlich auf die Bremse, was fast zu Auffahrunfällen geführt hätte –, um endlich in eine kleine Seitenstraße abzubiegen. Keuchend blieb Melissa stehen. „Ich kann nicht mehr“, brachte sie mühsam hervor. Die Katze spähte vorsichtig um die Hausecke. „Niemand verfolgt uns“, meldete sie zufrieden. Dann wandte sie sich dem Kamel zu. Aufgebracht, wie sie war, machte sie einen Buckel, und ihre Krallen wurden sichtbar. „Warum hast du dich so kraulen lassen?“
„Ach, Mausi (ihr lief bei dieser Anrede unwillkürlich das Wasser im Maul zusammen), sei doch nicht so. Das zählt doch nicht...“
„Ich will es aber nicht“, beharrte sie. Ihre Augen verengten sich vor Wut zu schmalen Schlitzen. Ihre Krallen schienen sich in den Straßenbelag bohren zu wollen.
„Du übertreibst, ich bin doch nur ein Kamel. Aber gut, ich lasse es in Zukunft bleiben. Und du vielleicht deine kleinen Spitzen, das wäre nett.“ Es beugte seinen Kopf zur Katze herunter und versuchte mit gespitztem Maul, sie zu küssen, aber das erwies sich als etwas schwierig.
„Schon gut, schon gut, das Mädchen konnte es ja nicht wissen, aber du – ich bin eifersüchtig, dass du es weißt“, murrte sie.
Das Kamel bleckte die Zähne und grinste. „Ja, Schatz“, sagte es artig.
Dann drehte es sich nach seiner Tochter um. „Sag mal, Melissa, wie wäre es denn, wenn du auf mir reiten würdest? Ich bin doch jetzt groß genug!“
„Ich kann doch gar nicht reiten, und schon gar nicht auf einem so großen Tier wie dir“, sagte sie erschrocken und sah zweifelnd an ihm hoch. Ihr schien, als bräuchte sie eine Leiter, um den Platz zwischen den beiden braunen, zotteligen Höckern zu erreichen.
„Na komm schon, das schaffst du schon“, machte das Kamel ihr Mut und ließ sich ächzend nieder, und Melissa erklomm herzklopfend seinen Rücken. Die Katze überlegte kurz und sprang dann auf den Schoß des Mädchens. „Hüa, mein Schatz“, schnurrte sie, und das Kamel erhob sich genauso schwerfällig, wie es sich hingelegt hatte. Es legte den Rest des Weges ein gehöriges Tempo vor und schaukelte dabei wie ein Schiff auf hoher See, so dass Melissa schlechter wurde als vom Karussellfahren auf der Kirchweih.
Als sie zu Hause am Gartentor angekommen waren, stellten alle drei fest, dass die Sache immer komplizierter wurde. Das Kamel drückte sich störrisch mit eingezogenem Bauch durch die Gartenpforte und marschierte zur Haustür, um dann festzustellen, dass es niemals dort hindurch passen würde. Vielleicht von der Breite her, aber nicht von der Höhe. Es begann zu maulen. „Ich will durch diese Tür. Jahrelang bin ich durch diese Tür gegangen, und jetzt soll ich nicht mehr hindurchgehen. Das kann doch nicht wahr sein.“
Donnernd schlug es mit dem Vorderhuf gegen die Haustür. Da ertönte aus nächster Nähe ein gutturales Fauchen: Ein kräftiger, schneeweißer Kater mit dickem, rundem Kopf und Augen, deren eines grasgrün, das andere himmelblau war, stand auf der niedrigen Mauer zum Nachbargarten und machte vor Schreck einen Buckel. Interessiert musterte er die weiße Katze, der sich unter seinem intensiven Blick die Haare sträubten, aber sie tat, als sähe sie ihn nicht.
Das Kamel hatte aufgehört, gegen die Tür zu treten, hilflos stand es da, und zwischen seinen langen Wimpern rollten zwei dicke Tränen hervor. Dann bemerkte es den Kater, der gerade von der Mauer gesprungen war, um sich die Katze näher anzusehen. Ein Ruck durchfuhr das große Tier, es fuhr herum und galoppierte mit vorgestrecktem Hals und gebleckten Zähnen auf ihn zu. Der Kater machte kehrt und verschwand kreischend auf dem Nachbargrundstück. Das Kamel blieb abrupt vor der Mauer stehen. Es bebte am ganzen Körper.
„Papa, komm.“ Melissas Stimme zitterte. Sie wusste nicht recht, ob sie Mitleid mit ihm haben oder sich vor ihm fürchten sollte.
„Ich gehe hinten herum auf die Terrasse“, sagte das Kamel, schon merklich ruhiger, und zockelte um die Hausecke. Die Katze rannte ihm nach.
Melissa ging durch den Vordereingang und öffnete von innen die Terrassentür, an der das Kamel unschlüssig stehen geblieben war.
„Papa, du musst wohl draußen bleiben. Es tut mir sehr Leid. Soll ich dir deine Bettdecke holen, damit du es bequem hast?“ Melissa war plötzlich sehr traurig. Sie kurbelte die Markise herunter, was nicht so leicht war wie es immer aussah, wenn ihr Vater es gemacht hatte.
„Ich würde auch lieber in meinem Bett schlafen, aber das geht ja nun mal nicht“, knurrte er gereizt und ließ sich ächzend auf der Bettdecke nieder. Die Beine schlug er nach Kamelart unter. Die Katze sah ihn lange an, dann kroch sie auf ihn zu und leckte ihm das Maul. Erst als Melissa drinnen seufzend auf das Sofa fiel, ließ sie von ihm ab und setzte sich neben das Mädchen.
Das nächste ernsthafte Problem warf das Abendessen auf. „Ich habe Hunger“, knurrte Melissas Vater, und die Erinnerung an die köstliche Stadtwurst im Kühlschrank, von der er zum Frühstück noch ein großes Stück abgeschnitten und genüsslich verzehrt hatte, ließ seine Laune ganz tief in den Keller fallen. Er fühlte sich noch nicht einmal in seiner Kamelgestalt zum Vegetarier berufen.
Aber es blieb ihm nichts anderes übrig: Er hatte einen Pflanzenfressermagen, und so verfütterte Melissa sämtliche Brotvorräte an ihn, dann einen halben Eimer Äpfel, ein Pfund rohe Möhren, die er noch am Morgen nicht im entferntesten als für seine Ernährung geeignet erachtet hätte, und er immer noch behauptete, Hunger zu haben, zerrte das Mädchen aus dem Keller seine Kokosmatratze aus Babytagen hoch und schlitzte sie auf der Terrasse mit einem Küchenmesser auf.
„Es tut mir Leid, Papa“, keuchte es, „aber etwas anderes haben wir nicht mehr. Der Rasen ist frisch gemäht, also musst du das hier fressen, Entschuldigung, essen, und dir vorstellen, es wäre frisches Heu...“
„Ich habe gelernt, im Passgang zu gehen, meine Ohren einzeln zu bewegen, zielgenau zu spucken und mit dem Schwanz zu wedeln – aber das, das geht zu weit“. Angewidert riss das Kamel Büschel aus der – als hätte das alles nicht schon gereicht – auch noch leicht muffig riechenden Matratze. Verächtlich und ohne zu kauen schluckte er die Kokosfasern hinunter. Die Katze sah ihm wortlos zu. Sie hatte Mitleid mit ihm, aber sie hatte auch Hunger, und so schlich sie unauffällig in die Küche und öffnete geschickt mit der Pfote den Kühlschrank, zog daraus eine halbvolle Dose Tunfisch und verschlang den Inhalt schnurrend in wenigen Sekunden. Anschließend leckte sie die Dose aus und ihr Maul sauber und kehrte ins Wohnzimmer zurück.
Melissa hatte sich gerade auf das Sofa fallen lassen, die weiße Katze sprang elegant neben sie. „Was machen wir jetzt? Ich will kein Kamel zum Vater und keine Katze zur Mutter, ich will richtige Eltern“, jammerte das Mädchen und fing zu weinen an. Ihre Mutter wischte ihr mit der Pfote sanft die Tränen aus dem Gesicht. „Ich bin sicher, man kann es wieder rückgängig machen, ich weiß nur noch nicht, wie“, tröstete sie ihre Tochter. „Gehen wir erst einmal schlafen“, ertönte die Stimme des Kamels von draußen, „morgen überlegen wir, wie es weitergehen soll. Gute Nacht, und träum was Schönes, Melissa.“ „Gute Nacht, Papa“, sagte Melissa, streichelte sein weiches, stoppeliges Maul mit der herunterhängenden Unterlippe, aus dem noch Fetzen der Matratzenfüllung hingen, und ging zu Bett. Ihre Mutter rollte sich an ihrem Fußende zusammen, nicht ohne dem Mädchen einen feuchtkalten Kuss auf die Wange zu geben, der nach Dosentunfisch roch.
Melissa träumte unruhig. Ein Mädchen mit widerspenstigen, schwarzen Haaren und kleinen, goldenen Ohrringen, die wie Hasen aussahen, stand vor ihr. Um den Hals trug es eine Kette aus hellblauen Steinen, von denen jeder einen weißen Fleck hatte, und auf diesen war wiederum ein kleiner, dunkelblauer Fleck in der Mitte. Es sah aus, als hätte man lauter blaue Augen auf eine Schnur gezogen. Das Mädchen trug rotweiß geblümte, weite Hosen und ein von der Sonne verblichenes, ehemals blaues T-Shirt und sah Melissa unverwandt an, als wollte es ihr etwas mitteilen. Als Melissa fragte, was es wollte, drehte das fremde Mädchen sich um und zeigte hinter sich.
Sie waren plötzlich in dem Land, wo Melissa sich wähnte, als sie den Türkischen Honig aß, standen wieder in dieser weiten Ebene. Die Luft flirrte vor Hitze, Lerchen zwitscherten über ihnen, und am Horizont war der hohe, schneebedeckte Berg zu sehen. „Finde die Weberin auf dem Ararat, sie wird dir helfen“, verhieß das Mädchen, stieg auf einen gehörnten Schafbock und galoppierte davon.
„Wie komme ich dahin?“ rief Melissa ihr flehend nach, und das fremde Mädchen antwortete bereits von ferne: „Reite auf deinem Kamel durch ein Nadelöhr, und schon bist du da!“ und lachte hell, dass es in der ganzen Ebene widerhallte.
Melissa wachte jäh auf und weckte die Katze. Es war früh am Morgen. „Der Ararat ist der höchste Berg in der Türkei. Anscheinend warst du in deinem Traum dort“, erklärte die Katze, nachdem Melissa ihr alles erzählt hatte. In den Augen der Katze war ein eigenartiger Schimmer, als sie das Wort Türkei hörte, wie eine unbestimmte Sehnsucht nach etwas, das sie gar nicht kennen konnte. Sie wusste ja nicht, dass sie in eine türkische Van-Katze verwandelt worden war.
„Wir werden versuchen, durch das Nadelöhr zu gehen. Heute ist anscheinend alles möglich. Hol meinen Nähkasten, Melissa“, sagte sie nach einer Weile nachdenklich.
Sie wählten die größte Stopfnadel – schließlich war das Kamel ein stattliches Exemplar –, steckten sie aufrecht in ein dickes Sofakissen und legten dieses dann in den Garten. Melissa rief das Kamel, das schon aufgewacht war, die Morgensonne im Garten genoss und gerade begonnen hatte, die Dahlienstauden zu fressen, und kletterte auf seinen Rücken. Sie hielt die Katze auf ihrem Schoß fest und zählte bis zehn. Ihr Herz klopfte wie verrückt. Dann schlossen alle drei die Augen, und das Kamel ging entschlossen auf das Nadelöhr zu. Je näher sie der Stopfnadel kamen, umso stärker fühlten sie einen pfeifenden Sog von vorn, als würden sie in einen Hurrikan gezogen. Dann gab es plötzlich einen kräftigen Schubs von hinten, das Kamel machte einen gewaltigen Satz, und Melissa öffnete erschreckt die Augen.
Um sie herum sah es aus wie in ihrem Traum. „Es hat geklappt, wir sind da! Da hinten ist der Ararat!“ schrie sie begeistert, und das Kamel begann in Richtung Berg zu rennen, so dass sie und die Katze sich krampfhaft am vorderen Höcker festhalten mussten, um nicht herunterzufallen.
Es rannte vier Stunden lang, bis sie an einen großen See kamen. Durstig watete das Kamel bis an den Bauch hinein und trank den See in einer Viertelstunde leer.
Auf diese Weise sparten sie sich den Umweg um den See herum. Auf der anderen Uferseite des Sees kamen sie an ein Cafehaus, einen lehmgelben, ebenerdigen Bau, vor dem einige bärtige Männer in weiten, schwarzen Hosen unter einem grünen Blätterdach aus Weinreben saßen und schweigend Wasserpfeife rauchten. Unbeteiligt sahen sie der merkwürdigen Truppe entgegen, als kämen jeden Tag solche Reisenden in dieser Einöde vorbei.
„Bitte, wo geht es hier zur alten Weberin?“ fragte Melissa die Männer schüchtern. Wortlos bliesen sie den Rauch der Wasserpfeifen in Richtung Berg. Der Rauch verdichtete sich zu einer dunklen, undurchdringlichen Wolke, nahm das Kamel, Melissa und die weiße Katze in sich auf und trug sie geschwind auf den Gipfel des Ararat. Dort zerstieb die Wolke im Wind und gab den Blick frei auf eine alte Frau mit drei Meter langen, grauen Haaren, die an einem klappernden Webstuhl saß. Ohne aufzusehen, sprach die Alte das Mädchen an: „Ich habe schon auf dich gewartet.“
„Was webst du?“
„Dein Leben. Nimm diesen Kelim und hüte ihn gut. Wenn deine Eltern erlöst werden sollen, müsst ihr in den Kelim hineinspringen.“
Sie nahm den Teppich vom Webstuhl, verknotete die Enden und schnitt sie ab. Melissa fiel auf, dass die Kettfäden aus den Haaren der Frau bestanden. Der Kelim selbst war in Rot, Dunkelblau und Beige gehalten, er zeigte Blumen und seltsame Vögel. „Er ist sehr schön. Ich danke dir. Aber wie meinst du das, hineinspringen?“ fragte Melissa und ließ sich das Geschenk in die Arme legen, aber die alte Frau antwortete nicht. Sie hatte sich bereits wieder ihrem Webstuhl zugewandt und riss sich ihre langen Haare aus, um das nächste Werkstück zu beginnen.
„Komm, Melissa, leg den Kelim auf die Steine“, sagte die Katze. Ihre Stimme klang vor Aufregung, als würde ihr der Hals zugeschnürt. Ihre Augen glühten unwahrscheinlich vor dem weißen Schneehintergrund, eines saphirblau, das andere smaragdgrün.
Melissa suchte eine ebene Stelle auf den Felsen, bat das Kamel, das vor Nervosität einen Schluckauf bekommen hatte und schreckliche Geräusche tief aus seinem Bauch hervorbrachte, niederzuknien, und kletterte auf seinen Rücken. Die Katze sprang sofort auf ihren Schoß. Ächzend erhob sich das große Tier. Seine Knie zitterten etwas. Dann holte es tief Luft, nahm einen kurzen Anlauf und sprang dann mitten in den Teppich. Sie fühlten sich alle drei, als würden sie in einen Staubsauger gezogen. Dann verloren sie die Sinne.
Als Melissa zu sich kam, lag sie zwischen ihren Eltern zu Hause in deren Bett. Ihr Vater lag friedlich schlummernd da, er schnarchte etwas und seine Unterlippe zitterte dabei. Ihre Mutter schien dagegen heftig zu träumen, sie gab knurrende Geräusche von sich, und ihre leicht gekrümmten Finger zuckten.
„Mama, Papa, ihr seid wieder Menschen!“ rief Melissa sehr erleichtert. Ihre Eltern schreckten hoch. „Natürlich sind wir Menschen, das waren wir doch schon immer, oder fandst du uns jemals unmenschlich?“ Ihr Vater lachte und boxte Melissa in die Rippen, woraufhin sie kichernd ins Wohnzimmer flüchtete.
Dort angekommen, blieb sie wie angewurzelt stehen und sah sich irritiert um. Die Terrassentür war zu, die Markise hochgezogen, und auf dem Boden lag keine Bettdecke und auch keine angebissene Kokosmatratze.
„Ich muss alles nur geträumt haben“, murmelte sie halb erleichtert, halb bedauernd. Dann fiel ihr Blick auf einen Webteppich, der an der Wand hing. Er zeigte große, rote Blumen und seltsame, blaue Vögel. „Papa, was ist das für ein Teppich?“, fragte sie, und sie hatte einen Moment das Gefühl, man zöge ihr den Boden unter den Füßen weg. Völlig perplex ließ sie sich auf das Sofa fallen.
Ihr Vater schien nichts zu bemerken, er lächelte und erklärte vergnügt: „Den habe ich gestern von unserem neuen Nachbarn gekauft, einem türkischen Teppichhändler. Er hat mich zum Tee eingeladen und von seiner kleinen Tochter erzählt. Sie heißt Meryem und ist neun Jahre alt, wie du. Er sagt, sie fühle sich hier noch fremd, weil er sie erst vor ein paar Wochen hierher nach Deutschland geholt hat. Er hat ihr zur Gesellschaft einen weißen Rassekater aus der Türkei mitgebracht, der sehr apart aussieht mit seinen verschiedenfarbenen Augen. Er wird dir bestimmt gefallen. Mir weniger, obwohl ich es nicht begründen kann...“ Ihr Vater war plötzlich gedankenverloren und hatte seine Tochter scheinbar vergessen.
„Sie hat kleine, goldene Ohrringe, die wie Hasen aussehen, nicht wahr?“, murmelte Melissa mehr zu sich selber und beschloss, sie zu besuchen.
Aber falls sie dann Türkischen Honig angeboten bekäme, das schwor sie sich, würde sie ihn auf gar keinen Fall essen, sicher ist sicher, sagte sie sich.
„Oder doch? Vielleicht erlebe ich dann ein echtes Abenteuer und träume nicht nur?“ Melissa kicherte in sich hinein. Sie fühlte sich mutiger als gestern. "Was auch immer passiert ist, ob ich nur geträumt habe oder nicht – eigentlich war es doch schön", sagte sie sich. Und ihre Eltern – die waren heute auch irgendwie anders. Sie waren vergnügter und viel netter zueinander als in der letzten Zeit, in der ihr Vater oft später aus dem Büro gekommen war und ihre Mutter dann spitze Bemerkungen machte, woraufhin sie an manchen Abenden gar nicht mehr miteinander sprachen.