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Tag der Bombe
Prolog:
Der Präsident der einst größten und mächtigsten Nation der Welt würde die Meinung der restlichen Welt nicht hinnehmen. Nicht mehr.
Es war einfach nicht richtig, dass die USA am Ende waren. Auch, wenn ihr Einfluss in den letzten zwei Jahrzehnten zunehmend geschwunden war und Europa, zusammen mit Asien, jetzt Welthandel und Wirtschaft bestimmten. Seine Nation, die größte Nation unter Gott, die es jemals gegeben hatte, würde in kurzer Zeit wieder ihre alte Macht und Einfluss zurückerlangen.
Heute war es soweit. Kein Land der Welt würde es mehr wagen, seine Pläne und Forderungen zu ignorieren. Er lächelte bei dem Gedanken an die nahe Zukunft und lehnte sich selbstzufrieden in seinem Sessel zurück.
Plötzlich wurde ein Besucher angekündigt. „Holden Smith ist hier, um Sie zu sehen, Mister President.“
Er drückte den Knopf der Sprechanlage und antwortete: „Holden? Natürlich, schicken Sie ihn herein.“
Die Tür zum Oval Office öffnete sich und ein Mann trat ein. Er wirkte nervös und verzweifelt. In seiner Hand hielt er ein Blatt Papier, dass durch seinen verkrampften Griff zerknittert war.
Den offensichtlichen Zustand des Mannes ignorierend, winkte der Präsident ihn heran. “Kommen Sie, Holden. Heute ist der Tag der Tage nicht wahr?“
Holden Smith trat an den Tisch und legte mit zitternder Hand das Papier hin.
Während der Präsident las, was darauf geschrieben stand, verschwand das Lächeln aus seinem Gesicht.
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Stanislaus Horowitz hasste es, das Landemanöver selbst ausführen zu müssen. Seine Ausbildung zum Steuermann war nur beiläufig gewesen, da er bei der Mission für andere Aufgaben vorgesehen gewesen war. Aber seine beiden Kameraden, die an den Folgen der kosmischen Strahlung gestorben waren, lagen eingefroren im hinteren Teil des Landeshuttles. Er konnte sich auch nicht wirklich konzentrieren. Immer wieder schweiften seine Gedanken ab, da die Situation, in der er sich befand, einfach zu seltsam war.
Nicht nur, dass er der einzige Überlebende der Marsmission war, sondern auch die Umstände seiner Rückkehr waren mehr als ungewöhnlich.
Im ersten Jahr war alles nach Plan verlaufen, als es plötzlich Probleme mit der Kommunikation zur Erde gab. Nicht, dass sich niemand mehr gemeldet hätte, damals schien es ihnen eher, als ob man ihnen etwas verheimlichen wollte. Später schien es ihnen, als ob die ganze Mission eigentlich niemanden mehr dort unten interessierte. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem dann der Kontakt tatsächlich abriss. Ab da waren sie drei Jahre lang auf sich allein gestellt gewesen und plötzlich war der Befehl zur sofortigen Rückkehr gekommen. Ohne irgendwelche Angaben von Gründen.
Stanislaus hatte sich nicht widersetzt, obwohl ihm die Sache mehr als merkwürdig vorgekommen war. Klaus Werner war noch mit ihm gestartet, aber auf der Rückreise hatte auch ihn, genau wie John Stevens, der Tod ereilt. Krebs in beiden Fällen. Auch Stanislaus’ Werte waren nicht die besten. Er fühlte sich häufig übel in letzter Zeit. Seine Hoffung bestand jedoch in einer raschen Behandlung auf der Erde.
Er hatte es geschafft, das Shuttle in den korrekten Anflugvektor zu steuern. Ab jetzt würde alles automatisch ablaufen und er hatte Zeit, nachzudenken. Was würde ihn dort unten erwarten?
Als er sich dreißig Minuten später der Erdoberfläche näherte, hatten ihn seine Nachdenkversuche keinen Deut weiter gebracht und er musste sich wieder um die Steuerung kümmern. Die Landebahn kam in Sicht und er fuhr das Fahrwerk aus.
Stanislaus erkannte Menschenmassen, die links und rechts die Landebahn säumten. Er freute sich zwar über diese Begrüßung, fand es aber unverantwortlich, Zuschauer so nahe heranzulassen.
Der Boden kam näher, das Shuttle war kurz vor der Landebahn, als die Menschen plötzlich auf die Landebahn liefen. Wie ein Vorhang aus Leibern, schlossen sie die Lücke des Streifens, an der das Shuttle aufsetzen sollte.
„Hochziehen, hochziehen!“, rief Horowitz panisch, aber es gab niemanden der ihn hörte. Außerdem war es zu spät. Bei einem Shuttle gab es kein Hochziehen, der Autopilot würde es wie vorgesehen auf den Boden bringen.
Kurz, bevor es entgültig aufsetzte, konnte er bereits fühlen, wie die Räder über die Köpfe der Menge rasierten, um gleich darauf darin einzutauchen. Das war doch Wahnsinn. Was war dort draußen los? Anstatt wegzulaufen, drängten immer noch mehr Leute auf die Landebahn. Es kam zu Explosionen inmitten dieses Menschenteppichs. Körper wurden wie kaputte Marionetten durch die Luft geschleudert und die so entstandenen Lücken gleich wieder von nachdrängenden Menschen aufgefüllt.
Das Shuttle rollte durch die Masse und Stanislaus fühlte, wie es über die Leiber zermalmter Menschen holperte.
Das Bugfahrwerk konnte dem Widerstand der sich daran anhäufenden Körper nicht mehr standhalten und brach. Die Nase des Shuttles schlitterte über den Boden und pflügte durch die Menge. Körper wurden auf die Cockpitscheiben geschleudert, deren Blut das Glas in kürzester Zeit rot färbte. Gleich darauf spürte Stanislaus, wie das Shuttle seine Bahn verließ und ins Schleudern geriet. Er verlor jegliches Richtungsgefühl und sah vor seinem geistigen Auge, wie das Shuttle sich überschlug und dabei unzählige Menschen niederwalzte. Was hatte diese Leute dort draußen nur dazu getrieben, so etwas zu tun?
Schließlich war der Raumgleiter zum Stillstand gekommen. Horowitz hing kopfüber in seinem Sitz und kämpfte gegen die Ohnmacht an, die ihn nach dieser Landung zu überwältigen drohte. Er übergab sich und stinkender Schleim lief ihm in Augen und Nasenlöcher. Er wollte raus aus seinem Sitz. Dass es ein Fehler war seinen Gurt zu öffnen ohne sich festzuhalten, wurde ihm erst klar, als er mit schmerzendem Kopf aufwachte. Von draußen drangen Geräusche an sein Ohr und schließlich öffnete sich die Einstiegsluke zu seiner Linken. Er sah einen Mann in Uniform, der nicht so wirkte, als ob er gewohnt war sie zu tragen. Viel eher sah er aus wie das Klischee eines südamerikanischen Freiheitskämpfers, komplett mit großer Sonnenbrille und oberlippenfreiem Kinnbart.
„Stanislaus Horowitz?“ brüllte der ihn an und fuhr, ohne eine Antwort abzuwarten, fort: „Raus hier! Los, Los!“ Er zerrte den halb Betäubten und vollständig verwirrten Stanislaus nach draußen und der fand sich kurzerhand mit weiteren Uniformierten in einem Jeep wieder, der auf die Flugplatzgebäude zuraste.
Dort angekommen, wurde er unsanft aus dem Wagen gezerrt und sie liefen auf den Eingang zu. Stanislaus warf einen flüchtigen Blick auf das Geschehen hinter ihm und sah ein vom Blut rotgefärbtes Shuttle, das auf dem Rücken lag und etliche Überlebende, die anscheinend auf dem Weg hierher waren.
Die Soldaten drängten ihn in das Gebäude und verriegelten den Eingang.
Er musste sich erneut übergeben und wurde kurz darauf, gnadenlos weitergezerrt. Der Weg führte großteils über Laufbänder und Rolltreppen, was ihm Gelegenheit gab etwas zu verschnaufen. Aber erst als er sich mit den Männern in einem U-Bahnwaggon mit unbekanntem Ziel wiederfand, war er in der Lage klare Gedanken fassen.
Er sah seinen Retter fragend an. Der grinste und meinte nur: „Na, geht’s wieder?“ Zu seinem Aussehen passend, sprach er mit spanischem Akzent.
„Was war da draußen los? Wer waren all die Leute? Was ist da passiert?“ fragte Stanislaus schließlich.
„Ach, das waren alles Selbstmörder. Heute ist der dreiundzwanzigste August.“ Stanislaus’ Gesichtsausdruck verriet wohl, dass er unfähig war, einen Zusammenhang zwischen dem Geschehenen und diesem Datum herzustellen, deshalb versuchte sein Gesprächspartner zu präzisieren: „Der dreiundzwanzigste August, Tag der Bombe, Tag der kreativen Massenselbstmorde.“
„Sie... sie wollen sagen, diese Leute da draußen wollten alle sterben?“
„Si, Senior, sterben, auf die verrückteste und spektakulärste Weise, die man sich nur denken kann. Da waren auch ein paar Verkabelte dabei. Haben Sie die Explosionen bemerkt? Die hatten Sprengstoff umgebunden.“ Er lachte, als ob der Anblick der Sterbenden ihn amüsiert hätte.
„Hören Sie...“ Stanislaus machte eine Pause um seinem Retter die Möglichkeit geben seinen Namen einzufügen, wovon dieser auch Gebrauch machte. „Pedro.“
„Hören Sie, Pedro. Ich habe keine Ahnung, was in den letzten sieben Jahren auf der Erde passiert ist. Ich weiß nicht, was so besonderes am dreiundzwanzigsten August ist und schon gar nicht, warum sich deshalb Menschenmassen vor mein Raumschiff werfen.“
Pedro grinste und meinte: „Also gut, Senior Horowitz, ich werde versuchen, Ihnen alles zu erklären. Zuerst einmal sollten Sie wissen, dass die ganze Welt verrückt geworden ist und der dreiundzwanzigste August ist der Geburtstag von Holden und Russel Smith.“
Stanislaus sagte nichts, da er hoffte, die Erklärung würde nicht mit diesem Satz enden. Er hatte Glück, denn Pedro fuhr fort: „Nun, angefangen hat alles mit diesem verrückten, amerikanischen Präsidenten. Dieser Idiot von einem Amerikaner wollte einfach nicht einsehen, dass die glorreichen Zeiten seines Landes vorüber waren und wollte die alten Zustände wieder herstellen, als den USA noch jeder in den Arsch gekrochen ist. Erinnern Sie sich noch an das ,Gleichgewicht des Schreckens' in den 70ern? Na ja, das hat ja damals noch ganz gut geklappt. Jedenfalls haben die Amis eine Bombe gebaut. Das war kein kleines Ding, das muss man ihnen lassen. Wenn die was bauen, dann ist das ziemlich groß und hässlich, aber normalerweise funktioniert es. Also, das Ding war eine Anti-Materie-Bombe. Was ganz neues. Wenn die explodiert, dann setzt sie genug Energie frei, um Materie in Anti-Materie umzuwandeln. Verstehen Sie? Es gäbe eine Kettenreaktion, die wieder Anti-Materie freisetzen würde, bis keine Materie mehr da ist, um zu reagieren.“
Das musste Horowitz erst einmal verdauen. Eine Bombe, die den gesamten Planeten zerstören würde. Was für ein Irrsinn.
Aber Pedro gab ihm nicht viel Zeit um nachzudenken.
„Also, die Amis hatten also die glorreiche Idee, die Bombe irgendwohin zu packen, wo sie vor Feinden absolut sicher wäre, damit niemand anders sie in die Hände kriegt. Deshalb haben diese Idioten sie in einem Vulkan versenkt und da ist sie dann gemütlich hinuntergesunken, bis zum Mittelpunkt der Erde. Da kriegt sie keiner mehr raus, aber die Amis selbst natürlich auch nicht. Damals wussten sie natürlich nicht, dass so etwas vielleicht einmal notwendig werden würde.
Soweit so gut, die Bombe sitzt also dort unten, und niemand kommt ran. Die Amis sind die einzigen, die sie zünden können, weil nur sie den Code kennen. Der Präsident sitzt in seinem weißen Haus und denkt sich schon zukünftige Forderungen aus, als plötzlich Holden Smith an seine Tür klopft.”
„Holden Smith? Der Mann, der heute Geburtstag hat?” fragte Stanislaus nach.
„Ganz genau, Senior Horowitz. Holden Smith, der Mann, der nicht nur heute Geburtstag hat, sondern auch der Mann, der zusammen mit seinem Zwillingsbruder Russel das Betriebssystem der Bombe programmiert hat. Die beiden galten als Genies, was Programmiersprachen und Betriebsysteme anging. Deshalb hatte man ihnen auch diese heikle Aufgabe übertragen. Na ja, eigentlich war Holden das Genie, der seinen Bruder immer irgendwie mitschleppte. Aber ich schweife ab. Wo war ich? Ach ja, Holden und der Präsident. Ich stelle mir das wie folgt vor: Holden kommt rein und legt seinem breit grinsenden Präsidenten einen Brief vor die Nase, der ihm das Grinsen gründlich aus dem Gesicht wischt.“ Pedro beginnt zu lachen, als ob er sich die Szene bildlich vorstellt und sich köstlich darüber amüsiert. Kurz darauf wird er wieder ernst.
„Nun ja,“ fährt er dann fort „es war der Abschiedsbrief seines Bruders. Er hat sich das Leben genommen wegen eines Streiches, den er seinem Bruder zum Geburtstag gespielt hat. Sie müssen wissen, Senior Horowitz, Russel Smith war ein richtiger Scherzbold. Als Geburtstagsüberraschung hat er eine kleine Subroutine in das Betriebsystem eingebaut, die das Zündprogramm auslösen würde, ohne dass jemand etwas dagegen tun konnte. Also, stellen sie sich vor:
Die beiden feiern Geburtstag mit ein paar Freunden. Nebenan läuft das Betriebssystem auf Probe. Plötzlich, Alarm im Nebenzimmer. Natürlich rennt Holden sofort zu seinem Computer und versucht den Alarm abzustellen, aber ganz egal, was er macht, der Countdown läuft. Fünf, ... vier, ... drei, ... zwei, ... eins, und auf dem Bildschirm erscheint: ,Sie wurden leider an ihrem Geburtstag wegen Unfähigkeit in die Luft gesprengt'. Alles lacht und die Party geht weiter.“
„Wie?“ fragte Stanislaus da „Die Bombe ist explodiert und nichts ist passiert?“
„Nein, aber nein, Senior Horowitz!“ antwortete Pedro „Das war nur ein Scherz zwischen zwei Brüdern. Das System war weder fertig noch eingebaut. Ein Geburtstagsscherz, verstehen Sie?“
„Oh ich verstehe.“ meinte Stanislaus, obwohl er im Grunde nichts verstand.
Pedro bemerkte zwar seinen fragenden Gesichtausdruck, aber entweder ignorierte er ihn oder es kümmerte ihn nicht, ob er der Geschichte auch folgen konnte.
Jedenfalls erzählte er weiter: „Später erst wurde das Betriebssystem in die Bombe integriert und unerreichbar mit ihr versenkt. Aber jetzt zurück zu dem Abschiedsbrief. In dem Brief stand, dass Russel die Subroutine zwar isoliert, aber nicht gelöscht hatte. Normalerweise wäre das kein Problem, die Subroutine würde niemals wieder aufgerufen. Aber, sollte jemals ein Problem auftreten und das System zu einem Reset zwingen, dann würde das System beim hochfahren alle Programmteile auf Vollständigkeit überprüfen. Es würde die Subroutine wie ein beschädigtes Programm behandeln, es reparieren und aktivieren. Die Bombe würde am darauffolgenden dreiundzwanzigsten August hochgehen. Russel hatte das erkannt und seinen Fehler nicht verkraftet. Er nahm sich das Leben und seinem Bruder blieb nichts anderes übrig, als den Präsidenten zu informieren. Verstehen Sie jetzt unsere Situation, Senior Horowitz? Diese Welt wird am dreiundzwanzigsten August vernichtet. Wir wissen nur nicht in welchem Jahr.“
Pedros Worte schwebten wie eine dunkle Bedrohung, die zu fassen ihm nicht möglich war, in Stanislaus’ Verstand. Der Verwirrung folgte nach einiger Zeit das Begreifen. Auch, wenn es eine Weile gedauert hatte, bis die Informationen in sein Hirn gesickert waren, um sich dort als düstere Erkenntnisse zu manifestieren.
Während er so da saß und das Gehörte reflektierte, bemerkte er, dass seine Retter miteinander tuschelten, ihn dabei ansahen und grinsten. Ein merkwürdiges Gefühl beschlich ihn und er überlegte, wie er darauf reagieren sollte.
„Was ist mit den Selbstmördern?“, fragte er schließlich. Einfach nur, um das Schweigen zu brechen.
„Oh? Die Selbstmörder auf dem Flugfeld?“ fragte Pedro nach, als ob ihn die Frage überrascht hatte.
„Ja, die Tausenden von Menschen die sich vor mein Shuttle geworfen haben. Warum machen die so etwas?“
„Nun, Senior Horowitz. Wie schon gesagt, die ganze Welt ist verrückt geworden. Solche Sachen passieren immer wieder, wenn es auf den Tag der Bombe zugeht. Die Leute werden einfach deprimiert bei dem Gedanken, dass die Welt untergehen könnte. Also versuchen sie dem zuvorzukommen. Sie stürzen sich aus Fenstern oder von Klippen. Oder sie treffen sich zu Massenselbstmorden. Erst voriges Jahr, gab es ein Großereignis in Frankreich. Da haben Tausende den Sturm auf die Normandie nachgespielt. Mit scharfer Munition. Stellen Sie sich das mal vor! Die Deutschen haben diesmal gewonnen. Na, die waren vielleicht enttäuscht.“
Pedro kommentierte das Gesagte noch mit ein paar spanischen Worten an seine Kameraden, worauf sie in schallendes Gelächter ausbrachen. Der Typ, der neben Pedro saß, ein hagerer, stoppelbärtiger und zahnlückriger Witz von einem Soldaten wandte sich Stanislaus zu. Irgendwo durch die Wolke überwältigenden Mundgeruches, den er in seine Richtung ausstieß, drangen ein paar spanische Brocken an seine Ohren und die anderen lachten daraufhin nur noch mehr.
„Was hat er gesagt, Pedro?“ fragte Stanislaus, aber seine Frage ging in dem Gelächter unter, also versuchte er es noch mal: „Ich will wissen, was er gesagt hat, Pedro!“ schrie er nun. „Sagen Sie mir sofort, was der Mann gesagt hat.“ bei seinem letzten Satz hatte sich sein Schreien zu einen Brüllen gesteigert. Eigentlich hatte er gar nicht vorgehabt, so laut zu werden. Die darauffolgende Stille empfand er als bedrückend. Alle starrten ihn an. Pedro beugte sich langsam nach vorne und sah ihm in die Augen: „Sie wollen wissen, was er gesagt hat?“, fragte Pedro mit einem seltsamen Ton in der Stimme, den Stanislaus nicht einordnen konnte. Als Antwort nickte er tonlos.
„Er hat gesagt, und damit meinte er alles, was ich Ihnen bisher erzählt habe: Das war die gute Nachricht.“ Nachdem Horowitz keinerlei Anzeichen von Verständnis zeigte, setzte er nach: „Verstehen Sie? Gute Nachricht, schlechte Nachricht. Sie kennen bisher nur die gute.“ Worauf sie wiederum in Gelächter ausbrachen.
Stanislaus aber schwieg. Unter diesen Umständen wusste er nicht, ob er überhaupt hören wollte, was die schlechte Nachricht war.
Aber Pedro schien sich nicht darum zu kümmern, was Stanislaus wollte. Nachdem sie sich wieder beruhigt hatten, erzählte er weiter: “Sehen Sie, Senior Horowitz, diese Situation bringt die Leute dazu, verrückte Dinge zu tun. Schon drei Jahre nach dem Bekanntwerden, gab es keine Amerikaner mehr. Also, US-Amerikaner, wenn Sie wissen, was ich meine. Sie haben sich gegenseitig umgebracht. Ein Bürgerkrieg. Konservative gegen Liberale. Sie haben solange gekämpft, bis kaum noch Menschen übrig waren und der Rest der Welt hat die dann auch noch beseitigt. Das Ganze wurde danach ersetzt durch ein ständiges Forschen nach den Schuldigen, obwohl es die schon lange nicht mehr gab. Aber das war den Leuten egal. Sie suchten eben nach Alternativen. So wurde in den letzten Jahren, der komplette Familienstammbaum der Smith Brüder ausgeforscht und ermordet. Die Leute sind da sehr gründlich gewesen. Wenn sie noch eine Stufe weiter gegangen wären, wären sie bei Adam und Eva gelandet.“ Er grinste breit über seinen Witz, den er anscheinend für ziemlich clever hielt.
„Jedenfalls sind ihnen in letzter Zeit die Sündenböcke ausgegangen.“ Stanislaus gefiel der Blick nicht, den Pedro ihm nun zuwarf. „...bis auf einen. Einen letzten, der sich gerade nicht auf der Erde befand.“
„Sehen Sie, diese Selbstmörder waren nicht zufällig auf ihrer Landebahn. Sie wollten nur eines: ihren Tod. Das absurde daran ist: sie hätten es eigentlich geschafft. Als das Shuttle sich überschlug, hätte es eigentlich vollständig zerstört werden müssen. Aber die vielen Körper darunter haben wahrscheinlich den Aufprall gedämpft. Diese Idioten.“ Wieder lachte er, doch Stanislaus konnte an dem Gedanken an tausende Tote nichts lustiges finden. Die zunehmende Heiterkeit der Männer schien ihm mehr als seltsam.
„Ja, Senior Horowitz, man hat Sie nur aus einem Grund zurückgerufen. Sie sind der letzte Verwandte von Russel und Holden Smith. Die Hälfte aller lebenden Menschen würde Sie ohne zu zögern umbringen. Sie können eigentlich froh sein, dass wir zu der anderen Hälfte gehören.“
Plötzlich wurde der Zug langsamer und die Soldaten machten sich fertig um auszusteigen. „Wir sind da, Senior Horowitz“ meinte Pedro. „Das Studio ist bereit.“
„Studio?“ fragte Stanislaus. Die anderen grinsten.
„Ja, Senior Horowitz, das Studio, in dem sie vor laufenden Kameras hingerichtet werden. Wie gesagt, wir gehören nicht zu denen, die sie ohne zu zögern töten würden. Wir wollen, dass auch der Rest der Welt etwas davon hat. Nun kommen Sie, man erwartet Sie bereits.“
„Aber... aber...“ stammelte Stanislaus „...ich habe doch gar nichts mit all dem zu tun!“
„Natürlich nicht, Senior Horowitz.“ entgegnete Pedro „Aber, das ist nicht wichtig. Nicht heute. Heute ist die ganze Welt verrückt. Falls die Bombe nicht hochgeht, wird morgen alles vorbei sein und die Überlebenden werden sich fragen, warum sie getan haben, was sie getan haben. Ein Jahr lang werden wir wieder ein relativ normales Leben führen. Bis der Tag der Bombe sich wieder nähert. Dann werden wir wieder verrückt, alle verrückt.“ Und Pedro lachte.