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Tagebuch
23. Dezember 2003
Jenny, komm zu mir, bitte.
Morgen ist Weihnachten. Verdammt. Wahrscheinlich bekomm ich ein paar Bücher und Filme, dazu noch Schokolade und eine Packung dummes Geschwätz von meiner Oma. Immer die selbe Scheiße. Jedes Jahr, außer letztes.
Ich weiß noch, was ich von ihr bekommen habe. Ein Computerspiel, das Bild, das Parfüm und den Brief. Es war für meine Eltern und meine Verwandten nichts weltbewegendes, aber für mich schon. Ich fand es wunderbar, schließlich war es von ihr. Von Jenny.
Den Brief und das Bild habe ich noch, aber die anderen beiden Sachen nicht mehr. Das leere Parfümfläschchen hat meine Mutter entsorgt, einfach so. Es lag mir viel daran. Das Computerspiel habe ich verkauft, weiß Gott warum. Hätte ich es bloß nicht getan. Jetzt habe ich nicht mehr viel, was mich an sie erinnert, nur noch das Bild und den Brief. Den mit Liebe geschriebenen Brief.
Ich weiß noch, wie sie eines Abends vor meinem Kleiderschrank stand, sich eine Boxershorts aussuchte und ich zu ihr sagte: „Du hast den schönsten Arsch der Welt.“ Sie hat gelacht und sich halbnackt auf mich gestürzt.
Ich war jung, sie war noch jünger, aber nichts konnte an diese Beziehung herankommen, nichts zuvor, nichts danach. Niemand konnte mir ausreden ihr hinterher zu heulen, als sie mich verlassen hatte.
Es fühlt sich an, als wäre sie tot, aber sie ist nicht tot, wobei dies vielleicht erträglicher wäre. Sie hat mich verlassen und ich sitze da, ein Tag vor Weihnachten und weiß nicht, was ich tun soll, voll von Selbstmitleid und Selbstzweifeln.
Sie führte Tagebuch. Damals hab ich sie ausgelacht, aber jetzt schreibe ich selbst in einem kleinen, goldumrandeten Buch meine Geschichte. Ich hätte nie gedacht, dass mein Leben wegen einem Mädchen so den Bach runter gehen könnte.
Am 12. Januar wären wir ein Jahr und sieben Monate zusammen, an unserem Jahrestag hatte sie mich verlassen und ich weiß bis heute nicht den Grund, außer, dass sie mich nicht mehr liebte. Mein Geheule und Flehen ließ sie kalt. Ich hatte sie noch nie von dieser gleichgültigen Seite erlebt, aber an diesem Tag wusste ich, dass sich irgendetwas in ihr verändert hatte. Okay, ich hab sie ein paar Mal angeschrieen und am Arm gepackt, aber ich hab sie nie wirklich geschlagen oder war absichtlich grob zu ihr, nein. Sie sagte, ich hätte sie gedemütigt.
Über sechs Monate sind wir jetzt schon getrennt und jeden Tag wird es unerträglicher.
Etwa dreihundert Meter nördlich ist eine hohe Brücke unter der alle dreiviertel Stunde ein Zug hindurchrast, vielleicht könnte ich mich auf das Sicherheitsgitter stellen und springen.
25. Dezember 2003
Ich war heute Morgen ziemlich früh auf der Brücke und hab runtergeschaut. Nicht so tief, wie es in Erinnerung hatte. Wenn ich da runterspringen würde, könnte es sein, dass ich mir nur die Beine breche und da liege bis der nächste Zug kommt und das stelle ich mir schmerzhaft vor. Ich will schmerzlos sterben. Ich bin zu feige, schmerzhaft zu sterben. Heute Mittag habe ich versucht, sie anzurufen, aber ihr Handy war aus. Im Heim konnte ich sie auch nicht erreichen und bei sich zu Hause war sie auch nicht. Ich hab das Gefühl ich werde verrückt. Nicht einmal mein bester Freund versteht mich, obwohl ich ihm alles erzählt habe. Nein, er versteht mich nicht, er macht sich teilweise sogar über mich lustig. Verdammtes Arschloch.
Vielleicht ruft sie mich zurück, wenn sie meine Nummer auf ihrem Display sieht. Nimmt sie mich erst ernst wenn ich tot bin? Ist sie so egoistisch, dass ihr egal ist, wenn jemand wegen ihr stirbt? Ist sie so naiv zu glauben, dass ich mich sowieso nicht umbringen werde? Denkt sie, ich meine es nicht ernst? Denkt sie, sie kann mit mir machen, was sie will? Nein, so nicht.
Weihnachten war genauso beschissen, wie ich es vorausgesehen hatte. Bücher, Filme, dummes Gerede seitens meiner Oma und Tante. Der einzige, der mich nicht genervt hat, war doch tatsächlich mein Vater. Seit mein Opa gestorben ist, leidet meine Oma an Altersdemenz und erzählt alle zehn Minuten die selbe Scheiße. Alles muss man ihr zwanzig Mal erzählen, bevor sie endlich zu einem anderen Thema kommt.
Vielleicht schreibe ich Jenny einen Brief. Einen Liebesbrief. Nein, keinen Liebesbrief. Einfach einen Brief.
Wie fühlt es sich wohl an, zu ertrinken? Ich könnte die Badewanne volllaufen lassen. Wie lange es wohl dauert, bis ich ohnmächtig werde und sterbe?
26. Dezember 2003
Ertrinken ist wohl qualvoll. Ich habe meinen Vater gefragt, wie es sich wohl anfühlt, zu ertrinken. Er sagte, es sei bestimmt qualvoll und langsam.
29. Januar 2004
Fast hätte ich es vollbracht. Ich lag in meinem Bett, habe mit dem Steakmesser meinen Unterarm von der Handfläche bis zum Ellenbogen aufgeschnitten. Es hat geblutet wie ein vollgesaugter Schwamm, den man auswringt. Ich wurde fast ohnmächtig, da kam mein Vater ins Zimmer und hat mich gefunden, sofort hatte ich einen Druckverband und wurde ins Krankenhaus gefahren. Ein 24 Zentimeter langer Schnitt. Der Arzt war beeindruckt.
Wieso hab ich nicht meine Zimmertür abgeschlossen? Zu dumm zum Scheißen.
Natürlich hat Jenny nichts von diesem Vorfall mitbekommen. Was für ein Pech. Ich war zu schlecht vorbereitet. Kein Abschiedsbrief, kein Zeichen, nichts. Im Nachhinein betrachtet ist es aber auch besser so, denn sonst hätte ich auf noch mehr unangenehme Fragen antworten müssen.
Wieso hast du es getan?
Ich weiß es nicht.
Nimmst du Drogen?
Nein.
Ist irgendetwas Schlimmes passiert?
Nicht wirklich.
Ist in der Schule alles in Ordnung?
Ja.
Ja, in der Schule ist alles in Ordnung, ich bin ein Zweier-Schüler und ein guter Zuhörer. Lasst mich doch alle in Ruhe. Es ist doch meine Sache, was ich mit meinem Körper anstelle. Ich will sie einfach nur vergessen.
Ich habe ein wenig im Internet nachgeforscht. Alle vier Minuten begeht in Deutschland jemand einen Selbstmordversuch und alle 47 Minuten bekommt ihn jemand gebacken. Im Jahr 2002 haben 11163 Menschen in Deutschland Suizid begangen. Einer mehr oder weniger fällt da wohl nicht auf.
Ich habe eine Internetseite gefunden: Die Vor- und Nachteile der bekanntesten Selbstmordarten. Wie makaber.
Anscheinend soll in der Schweiz jemand versucht haben, sich zu erschießen, hat aber daneben geschossen und jemand anderen getroffen. Mann, oh, Mann. Erschießen ist sicher, aber ich komme wahrscheinlich nicht an eine Knarre.
Vergasen hört sich auch nicht schlecht an, aber wir haben keine Garage. Vergasen fällt also auch weg.
An wirksame Tabletten komme ich auch nicht heran und ich glaube kaum, dass mein Hausarzt mir bei meinem Selbstmordversuch helfen wird. Der versteht mich genauso wenig, wie meine Eltern und der Psychologe. Niemand, außer meinen Freunden, weiß, warum ich dem ein Ende setzen will.
Ich traue mich nicht, mich vor die Eisenbahn zu legen oder von einer Brücke zu springen, also kann ich das auch vergessen.
30. Januar 2004
Vielleicht sollte ich die ganze Sache ruhen lassen. Heute habe ich den Backofen angeschaltet, die Klappe geöffnet und mich ins Bett gelegt, nach dreißig Minuten, ich lag immer noch wach unter der Decke, kam meine Mutter nach Hause, hat den Backofen ausgeschaltet und mich gefragt, was ich machen wollte.
Ich sagte ihr, ich bin eingeschlafen, wollte mir eine Pizza in den Ofen schmeißen. Sie glaubte mir und die Sache war gegessen, aber kann ich nicht endlich in Ruhe und ohne große Sache sterben? Nein, immer muss jemand dazwischenfunken!
LASST MICH STERBEN, IHR SCHWEINE!
11163 Menschen schaffen es pro Jahr in Deutschland zu sterben, wieso ich nicht? Wieso zum Teufel schaffe ich es nicht?
12. Februar 2004
Heute muss es klappen! Es kann nicht schief gehen, ich bin einfach zu gut vorbereitet. Erst heute ist mir bewusst geworden, wie alleine ich mich eigentlich fühle. Keine meiner Freunde nimmt mich ernst, Jenny liebt mich nicht mehr und meldet sich nicht, meinen Eltern kann ich nichts erzählen und der Psychologe, den ich jeden Mittwoch um 16 Uhr besuchen muss, kommt mir vor wie ein Irrer. Wie ironisch!
Jedenfalls hab ich jetzt einen Plan: Heute habe ich mir im Universitätskrankenhaus eine Plastikspritze inklusive Nadel besorgt. Es war ziemlich einfach. Die Spritzen und Nadeln befinden sich an der Wand im Gang. 100ml Luft in die Vene und ich bin tot. 200ml in die Vene und ich bin AUF JEDEN FALL tot.
Heute ist der beste Tag zu sterben. Monatstag. Heute wären Jenny und ich ein Jahr und acht Monate zusammen. Acht Monate Trennung und Kummer und Leiden und Einsamkeit habe ich hinter mir. Schluss damit.
Jenny, komm, hilf mir und halte mich auf.
Bitte.