Tagebuchfragment aus der Hölle etc.
Immer wieder sah ich mir zu, wie ich vom Hochhaus sprang. In der rechten Hand eine Flasche Sekt, in der anderen einen Luftballon. Das schrecklichste: ich sang. Ich stürzte vom Hochhaus und sang. Dass ich auf dem Boden zerplatzte wie eine Wasserbombe, meinetwegen. Aber man hatte der Nachwelt meinen Gesang erhalten.
„Das hat keinen Stil,“ schimpfte ich und sah den Barkeeper wütend an.
Stumm schob er mir ein weiteres Whiskeyglas zu.
“Scheiß auf deinen Whiskey!“
Das Glas zerschmetterte an der Wand.
Ein paar leichtbekleidete Mädchen strippten hinter mir. Ein Penner warf Messer auf eine Dartscheibe. Es roch nach Alkohol, Zigarettenqualm und Benzin.
Das war also die Hölle. Ein kleines, billiges Striplokal mit genau zwei Gästen, einem Barkeeper und ein paar leichten Mädchen. Immerhin stand hinten in der Ecke ein Flipperautomat.
Abends kam manchmal ein Geselle des Teufels herein. Klein, rot, nackt. Mickrige Hörnchen. Müde, gelbe Äuglein die aus dem eingefallenen Gesicht zu kullern drohten. Und ein riesiger, fetter Bauch der auf zwei Storchenfüßchen herumstolzierte.
„Haben Sie unser Angebot überdacht?“ fragte er mich mit gutturalen Lauten jeden Abend.
„Völlig indiskutabel, ich trete nicht mehr auf,“ erwiderte ich gelangweilt, schaute hoch auf die Glotze, wo schon wieder die Bilder meines Selbstmordes zu betrachten waren.
„Von was fürn Angebot spricht denn der Dicke immer, Süßer?“ fragt mich manchmal eine der Stipperinnen, obwohl sie die Antwort längst schon weiß.
„Naja, der Teufel will mir eine neue Chance geben. Großer Ball beim Satan oder so. Ich soll ein Schlagermedley singen und der Boss macht die Jury. Und alles in einer Kaffeefahrtkulisse mit vielen alten Schachteln, die mit mir ins Bett wollen,“ antworte ich dann ab und an.
„Und dafür könntest du wieder ein neues Leben auf der Erde als Opernstar anfangen, ich weiß, ich weiß,“ gähnt sie, streichelt mich mit ihren gebrochenen, pinken Fingernägeln und schüttelt leise lächelnd den Kopf. „Und du willst nicht, weil du meinst, dass der Teufel dich verarscht. Weil du zu viel gelesen hast...“
„The devil will fool you...” säuselte ich als Tom Waits-Imitat. Immer wollte ich an die Oper, stattdessen sprang ich “O, solé mio“-schreiend aus dem Fenster und ein Gott des deutschen Schlagers zerschellte auf dem Boden.
Dabei würde mich der Satan gar nicht betrügen, da war ich mir sicher. Aber nie, nie mehr wollte ich mich auf eine Bühne schwingen, mit einem Mikro in der Hand. Opernsänger, verdammt noch mal, brauchen keine Mikros. Nie, nie wieder, das hatte ich mir seit meiner Einlieferung hier unten geschworen, wollte ich auf einer Kaffeefahrt singen. Lieber bis in alle Ewigkeit in dieser Edward Hopper Bar sitzen...
Die Stripperin wirft sich bei ihren Gesprächen mit mir meist in träge Posen, befummelt mich mit ihren nackten Füßchen, schnurrt wie eine Katze, führt Bewegungen aus, die so etwas wie ein Streicheln darstellen sollen.
„Komm schon, Süßer, lass es uns tun, vor allen Leuten, hier auf dem Tresen, ich will dich so sehr,“ raunt sie mit ihrer wohl erotischsten Stimme.
Da hilft meist nur ein Whiskey.
Ich kann ihr noch so häufig erklären, dass mit meinem Ableben mir jeglicher sexueller Appetit vergangen ist. Weiß Gott, die Kleine sah wohl gar nicht schlecht aus. Sie erzählte mir eines Tages sogar von der riesigen Schar an Verehrern, die sie auf der obigen Welt hatte.
„Wie habe ich die gehasst, ich habe es so gehasst, mit jemanden ins Bett zu gehn. Ich hasste Männer, meinetwegen sollten die mich beglotzen, aber nicht mit mir ins Bett... Wenn ich damals nur williger gewesen wäre. Jetzt habe ich in meinem Kopf einen verdammten Pornoschuppen!“
Meistens werden kleine Schnitte an ihren Handgelenken sichtbar, wenn sie sich so echauffiert. Dass ist der nervigste Teil des Tages. Es dauert nicht lange und die Kleine badet in ihrem eigenen Blut, krümmt sich ein wenig auf dem Boden, röchelt ihren verdammten Katzenjammer.
Jeder in dieser Bar muss die Stunde seines Todes jeden Tag nachleben.
Hab das feiste Teufelchen auch mal gefragt, warum ich mich immer nur mit meinem medialen Selbstmord begnügen muss. Es brummte irgendwas von Rationalisierungsmaßnahmen.
Auch meine Frage nach glühenden Zangen, Eisernen Jungfrauen, großen Flammenmeeren, in denen die sündigen Seelen gebraten werden, tat er mit „Rationalisierung“ ab. Dabei sehne ich mich so sehr nach etwas Abwechslung, nach richtig schönen Schmerzen.
„Ach Folter hatten wir alles schon. Aber seitdem dieser französische Literat bei uns eingeliefert wurde, fand der Chef gefallen an diesen Etablissements. Und die Folterknechte stehen nicht mehr auf der Gehaltsliste.“
„Und die richtig schlimmen Verbrecher? Was ist mit denen?“
Ein Stöhnen kommt als Antwort: „Nicht schon wieder diese Frage...“
„Ich meine Hitler, zum Beispiel...“
„Hitler, wer soll das sein?“
„Der größte Verbrecher der Menschheit, ähm...“
Als wir dieses Gespräch zum ersten Mal führten, verschlug es mir die Sprache.
„Kenne alle Insassen mit Namen, aber ein Hitler, mir nicht bekannt,“ sagte er in einem kleinen, schwarzen Koffer kramend. „Wenn der wirklich so prominent ist, wie sie sagen, wird der mit Sicherheit nicht aufgenommen hier unten. Mit denen schlagen wir uns nicht rum. Die werden nach da abgeschoben.“
Der Teufel wies mit dem Daumen nach oben.
Na toll, und ich muss ein Tagebuch schreiben, auch ein Teil meiner Strafe. Ich muss jeden Tag immer wieder diesen Text auf ein Blatt Papier bringen. Whiskey saufen. Von Stripperinnen angemacht werden. Mit Teufelchen sprechen. Selbstmord ansehn, Selbstmord ansehn, Selbstmord ansehn... Tagebuch schreiben, auch ein Teil meiner Strafe etc. etc.