Was ist neu

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03.12.2002
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Alice

Die Gruppe bewegte sich langsam den Korridor entlang und ließ ihre Blicke über die geschlossenen Zellen auf der linken Seite wandern. Die Gitterstäbe zeigten Spuren von Rost und erinnerten nur noch entfernt an die Gewalttäter, die sie einmal eingeschlossen hatten. Am Ende der Besuchergruppe stellte sich Alice auf ihre Zehenspitzen und legte ihr Kinn auf die Schulter des Mannes neben ihr.
„Im Bett lässt eine Frau ihre Fingerspitzen langsam über die nackte Brust ihres Mannes wandern und haucht ihm ins Ohr, er möge ihr etwas dreckiges sagen. Der Mann beugt sich über sie, knabbert an ihrem Ohrläppchen und antwortet….“ Alice ließ den Satz unbeendet und knuffte Henri in die Seite. „Na, was glaubst du wohl, was der Mann dreckiges gesagt hat“, flüsterte sie, damit niemand anderes aus der Gruppe ihre Unterhaltung belauschen konnte. Henri zog die Stirn kraus und lächelte seine Freundin an.
„Ich dachte dich interessiert das hier?“
„Hm, ich glaube nicht, dass er das gesagt hat. Ist aber ne nette Idee“, bemerkte sie sarkastisch.
An der Spitze der Gruppe machte der Führer, der eine alte Uniform trug, wie sie damals die Wächter benutzten, einen schnellen Schritt vorwärts, blieb stehen und drehte sich zur Gruppe um.
„Er wisperte förmlich in ihr Ohr, wobei er seine Stimme leicht und dunkel vibrieren ließ.“
Henri blieb wie alle anderen auch stehen und machte sich wieder bereit den Erläuterungen des Führers zu lauschen. Alice jedoch ließ nicht von ihm ab. „Küche, flüsterte er.“ Sie lachte und einige missmutige Blicke streiften das Paar.
„Du bist verrückt“, lachte auch Henri, „aber jetzt still.“
„Ach komm schon. Ich dachte das hier wäre interessant. Ich mein, so ein altes Gefängnis bietet bestimmt eine Menge an tollen Geschichten, aber was der Kerl da vorne erzählt ist mehr als langweilig. Wir könnten uns ja in so eine Zelle zurückziehen und du sagst mir mal wirklich was dreckiges und vielleicht machen wir auch was derartiges.“
Alice tänzelte hin und her und setzte eine verführerischen Blick auf, mit dem sie ihren Freund von unten herauf anstrahlte.
„Was ist denn bloß los mit dir?“
„Weiß nicht. Muss der Ort sein.“
Henri sah sich sichtlich verwirrt um. „Ein altes Gefängnis. Feucht und dunkel. Es riecht auch entsprechend und eine Menge Leute, die uns zugucken.“
„Öfter mal was neues“, grinste sie immer noch.
Vorne begann der Führer zu sprechen.
„Wir sind jetzt hier im Südtrakt. Hier war Platz für einhundert Häftlinge, wobei hier vor siebzig Jahren zumeist die schweren Fälle untergebracht wurden. Meistens waren es Mörder und andere Gewaltverbrechen. Der Südtrakt ist aber der zentralste Teil des gesamten Gefängniskomplexes. Er schließt direkt an die Küche, den Hof, den Osttrakt und das Lager an. Im Stockwerk unter uns befindet sich die Waschküche und die Isolierzellen.“
Der Mann machte weit ausholende Gesten und deute in die Richtungen, in der die jeweiligen Einrichtungen lagen, dabei legte sich seine braune Uniform immer wieder in Falten, weil sie ihm viel zu groß war.
„Mein Großvater war Aufseher genau in diesem Trakt“, fuhr er fort. „Er brachte den Gefangenen das Essen und holte sie ab, wenn sie hinaus auf den Hof durften. Es gab damals keine festen Zeiten für die Insassen. Verhielten sie sich gut, durfte sie einmal in der Woche einige Zeit unter freiem Himmel verbringen. Obwohl man zugeben muss, dass das mit der Auswahl nicht immer ganz im Sinne der Fairness gehandhabt wurde. Mein Großvater erzählte mir einmal, dass einige Wärter durchaus käuflich waren, oder sie nur Gefangene auswählten, die sie leiden konnten. Andere sahen niemals den blauen Himmel. Wie sie sehen, gibt es hier nur zwei Lichtquellen. Das sind zum einen die länglichen Strahler über uns und zum anderen die dazwischenliegenden, kleinen Oberlichter, die jedoch so angebracht sind, dass sie keinen freien Blick nach oben, also in den Himmel, zulassen.“
Die Gruppe, bestehend aus zwanzig Personen, schaute interessiert herauf und musterte die Konstruktion des Gefängnisses. Die Zellen lagen auf der linken Seite auf insgesamt vier Etagen. Rechts von ihnen gab es nur eine kahle Steinwand, die feucht von Sickerwasser glänzte.

Alice rieb sich den Arm. Ihr war bei der Erzählung des Gruppenführers kalt geworden und überall auf ihrem Körper breitete sich nun eine Gänsehaut aus.
„Was ist los?“, fragte Henri und nahm sie wärmend in den Arm.
„Ich weiß auch nicht. Mir war plötzlich kalt. Du sag mal? Die Toiletten waren doch da hinten, oder?“ Dabei zeigte sie in die Richtung, aus der sie zuvor gekommen waren.
„Ja, aber wir gehen jetzt bestimmt weiter. Halte doch noch ein bisschen aus.“
„Keine Chance, Liebster. Jetzt oder gar nicht. Und gar nicht, ist gar nicht gut.“
Alice befreite sich aus seinen Armen und ging schnellen Schrittes den Gang hinunter. Sie vermied es dabei einen Blick in die leeren Zellen zu werfen, denn der Anblick der engen Räume brachte wieder jene unerklärliche Kälte mich sich.
Sie verließ den Trakt durch eine große, eiserne Tür und befand sich in einem kleinen Raum, in dem früher die Wachen gesessen hatten. Dort war auch der Eingang zu den Toiletten.

Die Spülung rauschte in ihren Ohren und die Tür der Kabine quietschte. Alice stellte sich vor eines der weißen Waschbecken und drehte den Hahn auf. Das WC musste nachträglich erneuert worden sein, denn Alice glaubte nicht, dass sie damals schon so etwas wie Kabinen in einem Gefängnis gehabt hatten. Mit gewölbten Händen fing sie das Wasser auf und spritzte es sich ins Gesicht. Wieder bekam sie eine Gänsehaut, aber nicht, weil ihr kalt war, sondern weil sie sich an das merkwürdige Gefühl erinnerte, das sie überkommen hatte, als ihr Führer erzählt hatte, sein Großvater wäre hier einst Wächter gewesen.
Das Wasser lief über ihre zierliche Nase und sammelte sich in einem Tropfen an ihrer Spitze. Er glitzerte und im Spiegel, der direkt über dem Waschbecken angebracht war, konnte sie sehen, wie er das Bild um sich herum klein und verzerrt wiedergab. Dann gewann die Schwerkraft und der Tropfen fiel hinab und zerplatzte mit einem hohlen Geräusch in dem weißen Keramikbecken.
Alice betrachtete ihr Spiegelbild. Ihre braunen Augen folgten den feuchten Linien, welche die Wassertropfen hinterlassen hatten. Sie verfolgte die glitzernden Straßen von der etwas zu hohen Stirn aus, über die leicht sichtbaren Wangenknochen hinweg, bis zu ihrem Hals. Alice musste leicht grinsen, war sie doch selbst davon überzeugt, dass sie mit Anfang Dreißig noch immer ziemlich gut aussah. Wenn man sie fragte, wie alt sie sei, antwortete sie stets mit fünfundzwanzig und niemand bezweifelte diese Aussage. In dem Augenblick, als sie sich wieder von ihrem Spiegelbild losreißen wollte, fiel ihr ein kleiner schwarzer Punkt auf ihrem Hals auf. Sie beugte sich vor, um besser sehen zu können und schob ihre schwarze Bluse ein Stück zur Seite. Im Spiegel sah sie einen kleinen schwarzen Fleck, der nach oben hin spitz zulief. Sie leckte an einem ihrer Finger und rieb darüber, aber der Fleck blieb. Dann rückte sie dem fremden Anblick mit ihren Fingernägeln näher, aber auch dieses Unterfangen blieb erfolglos. In ihren eigenen Augen konnte sie einen sorgevollen Blick erkennen, denn gerade in letzter Zeit fand man immer mehr Berichte über Hautkrebs und sonstige Krankheiten dieser Art. Und dieser Fleck, der sichtlich in der Haut selbst saß, war bis vor kurzem noch nicht da gewesen. Das hätte sie mit Sicherheit bemerkt. Es kam ihr sowieso seltsam vor, dass sie erst jetzt darauf aufmerksam geworden war.
Es war still und alles was sie eigentlich hören konnte, waren die Lampen, die ihr helles, unnatürliches Licht mit einem monotonen Summen verbreiteten. Immer noch starrte sie ihr Spiegelbild an und in ihrer Fantasie, die von ihren aufkeimenden Sorgen genährt wurde, wuchs er kleine, schwarze Fleck zu etwas großem heran, dass sich auf ihrem gesamten Körper verteilte. Sie schüttelte ihren Kopf und hielt sich krampfhaft am Waschbecken fest, um dieses Bild aus ihrem Kopf zu vertreiben. Sie wusste aus Erfahrung, dass sie sich viel zu schnell in Dinge hereinsteigern konnte und sie wusste auch, dass das bei Henri noch viel schlimmer war. Also richtete sie den Kragen ihrer Bluse auf und beschloss vorerst kein Wort über ihre Entdeckung zu verlieren. Alice holte noch einmal tief Luft und drehte sich herum. Vor ihr stand ein kleines Mädchen in einem blauen, geblümten Kleid, dass sie mit großen Augen anstarrte. Alice blieb für einen Augenblick der Atem weg und ihr Herz drohte zu versagen, so sehr hatte sie sich über den unerwarteten Anblick erschrocken. Sie hätte das Mädchen doch im Spiegel schon gesehen haben müssen. Vielleicht war sie ja genau in diesem Moment aus der anderen Kabine herausgetreten; versuchte sie sich selbst die Situation zu erklären.
„Hallo Kleines“, brachte Alice zitternd hervor, wobei die Augen des Mädchens größer zu werden schienen.
„Papa! Bist du wieder da?“, fragte sie aufgebracht mit einer glockenhellen Stimme.
Alice ging in die Knie und schaute ihr in die Augen. „Suchst du deinen Papa?“
Das Mädchen schüttelte den Kopf und lief hinaus. Alice folgte ihr, doch als sie draußen war, stand da nur Henri, der sie mit einem bösen Blick betrachtete. Aber Alice schien diesen gar nicht zu bemerken.
„Wo ist sie hingelaufen?“
„Wer?“, fragte Henri verdutzt, wobei sein anklagender Blick verschwand.
„Na das Mädchen. Sie sucht, glaub ich, ihren Papa.“
Henri trat an seine Freundin heran und fischte ungelenkt nach ihrer Hand.
„Keine Ahnung wovon du eigentlich redest, aber ich weiß, dass die Gruppe weiter ist und wenn wir nicht aufpassen, verlieren wir sie.“
Alice schlug seine Hand bestimmt zur Seite. „Hör auf damit und sag mir wo sie hin ist!“
„Hier ist kein Mädchen vorbeigelaufen!“
„Aber ich habe eins getroffen. In der Toilette und sie ist rausgerannt.“
Henri machte auf dem Absatz kehrt und ging wieder zurück in den Südtrakt, wobei er Alice noch über die Schulter zurief, dass sie sich irren müsse.
Aber sie schüttelte nur den Kopf und ärgerte sich über sein Verhalten. Er konnte manchmal ein richtiges Arschloch sein, schoss es ihr durch den Kopf, aber sie folgte ihm, beschloss aber ihren Führer nach dem kleinen Mädchen zu fragen.

Der Korridor war leer und es war nichts zu hören, bis auf das Summen der Lampen und vereinzelte Tropfen, die von der Decke herunterfielen.
„Ich hab es dir gesagt“, begann Henri ärgerlich. „Niemand ist mehr hier. Komm schon, beeilen wir uns, damit wir sie noch erwischen.“
Alice sparte sich ihren Kommentar, denn sie wusste, dass sie sich nicht zurückhalten konnte und jedes weitere Wort würde nur einen handfesten Streit hervorrufen. Henri eilte also vor und sie folgte ihm.

Ein dumpfer Knall ließ das elektronische Summen für ein Augenblick verstummen. Das Geräusch hallte noch eine Weile zwischen den kahlen Wänden hin und her, dann ging der erste Strahler hoch über ihnen aus. Ein zweiter Knall, der an das Anspringen einer großen, elektrischen Maschine erinnerte, suchte sich seinen Weg in ihre Ohren und kurz darauf erlosch auch das zweite Licht. Alice und Henris Augen folgten den nacheinander ausgehenden Lampen und sahen sich dann schweigend an. Alice hatte einen ängstlichen Blick, Henri einen verärgerten.
„Die machen das Licht aus. Die haben nicht einmal bemerkt, dass wir nicht mehr bei der Gruppe sind. Wahrscheinlich sind die anderen sogar froh darüber, weil sie so deine blöden Witze nicht mehr ertragen müssen.“
Alice schnaufte vor Überraschung und jetzt sprach sie ihren Gedanken von eben laut aus.
„Du bist manchmal so ein Arschloch, Henri. Und das ist ausnahmsweise mal kein Witz.“
„Wie bitte?“ Er war sichtlich verstört. „Kannst du mir mal sagen, was das soll. So etwas hast du noch nie gesagt!“
„Dann wurde es mal Zeit! Und wenn du dich weiter so verhältst, dann kannst du dich in Zukunft selber ficken!“ Alice schob sich die Hand vor ihren Mund und ihre Augen wurden groß.
„Das glaub ich nicht!“, tönte Henri. „Ich glaube wir sollte uns mal in aller Ruhe unterhalten.“
Alice blieb still, glaubte sie doch selber nicht, was sie da soeben gesagt hatte. Ohne ein weiteres Wort durchquerte Henri mit langen und schnellen Schritten den Korridor, bis er an dessen Ende angekommen war. Er stand vor einer großen, gitterähnlichen Tür, die den Blick bis weit den weiterführenden Gang zuließ, aber auch dort war niemand mehr zu sehen. Er riss an den Stäben, aber die Tür bewegte sich nicht. Alice stand immer noch dort, wo sie Henri die ihr selbst so fremden Worte an den Kopf geworfen hatte. Sie dachte zwar in einer solchen Sprache, aber niemals wäre es ihr zuvor in den Sinn gekommen auch so zu sprechen, oder sogar jemanden, und ganz besonders ihren eigenen Freund nicht, in dieser Art anzugehen.

Henri war im Zwielicht der kleinen Dachfenster nicht viel mehr als eine Silhouette, aber sie erkannte deutlich an seiner Körpersprache, dass die Tür verschlossen war und das er sich in seiner Art maßlos darüber ärgerte. Ärgern war ihrer Meinung sogar der falsche Ausdruck, denn Henri schien auf die Gitterstäbe einzuschlagen. Das verrieten ihr wenigstens die hellen, metallischen Töne, die wie Wasser zu ihr herüberschwappten.
Mit einem Gefühl der Verlorenheit blickte sich Alice um und ihr Blick blieb auf einer schmalen Tür ruhen, die sich zwischen den Zellen leicht absetzte. Gezielt hielt sie darauf zu und bemerkte nicht, wie Henri laut atmend und mit erhobenen Armen auf sie zustürmte.
„Da siehst du was du davon hast. Ich hab dir gesagt, du sollst nicht pinkeln gehen, aber was tust du?“
„Wenn ich pissen muss, muss ich halt pissen!“, bemerkte sie trocken und drückte die Klinke der Tür herunter, aber nichts tat sich.
„Wie drückst du dich eigentlich aus? Und außerdem ist diese Tür hier genauso zu wie alle anderen auch!“
„Was weiß ich? Mir ist danach so zu reden. Aber abgesehen davon ist die Tür hier nicht verschlossen. Die klemmt nur ein bisschen. Mit nem kleinen Trick geht die ganz leicht auf.“
Alice drückte die Klinke ein weiteres Mal, zog dann mit ganzer Kraft an der Tür und drückte sie wieder nach oben, bis ein leises Knacken zu hören war. Dann sprang die Tür fast wie von alleine auf. Dahinter lag ein dunkler Gang.
„Was hast du eigentlich vor?“
„Wenn wir hier durch gehen, müssten wir auf die Küche treffen und die Küche liegt am zentralsten. Von dort aus kommen wir überall hin. Auch zum Hof und das war ja der nächste Punkt der Besichtigung.“
Henris erstaunter und zugleich kritischer Blick blieb Alice nicht verborgen.
„Glaub mir einfach. Das ist ganz bestimmt so.“
„Klar. Du warst ja schon ungefähr tausendmal hier.“
Alice tat so, als habe sie seinen Sarkasmus nicht bemerkt und fuhr unbeirrt fort.
„Das klappt schon. Ist nur ein bisschen dunkel da drin. Und jetzt komm!“
Alice ging voraus und ihre Schritte hallten dumpf auf dem harten Betonboden. Diesmal war es Henri, der ihr folgte.

Das schwache Licht der Deckenfenster drang von hinten in den schmalen Gang herein und ließ alles in einem schwachen und unheimlichen Grau erscheinen. Ihre Schatten lagen langgestreckt wie tote Tiere auf dem Boden und nur ihre Schritte und ihr Atem war zu hören. Alice atmete ruhig und gelassen, so als hätte sie nicht den geringsten Zweifel an ihrem fast hellseherischen Plan. Henri entgegen presste die Luft zischend aus seinen Lungen und tastete sich langsam und verkrampft an den kalten Wänden vorwärts, bis er etwas metallisches hörte.
„Hier ist die Tür“, rief ihm Alice entgegen und wandte den gleichen Trick an wie zuvor. Zuerst öffnete sich die Tür nur einen kleinen Spalt, aber nach einem weiteren Ruck offenbarte sich die dahinterliegende Küche. Alte Töpfe und Pfannen lagen unter einer schweren Staubschicht gefangen, die nun durch ihr Eintreten aufgewirbelt wurde und im diffusen Licht, das durch die Abluftkanäle ins Innere fiel, glitzernd kunstvolle Spiralen beschrieb. Alice hustete und wedelte wild mir ihren Armen, doch ihre Aktion hatte den gegenteiligen Effekt. Immer mehr Staub stob auf und setzte sich kratzend in ihre Atemwege, bis sie sich ihre Bluse vor den Mund legte und nur noch flach atmete.
„Halt dir was vors Gesicht“, nuschelte sie in den feinen Stoff hinein und betrat den nach Altbau riechenden Raum.

„Schon lange nichts mehr gekocht hier, was?“, bemerkte Henri mit einem süffisanten Lächeln, wobei er seine Augenbrauen weit hinauf zog.
„Sehr gut, Watson!“. Beide lachten verhalten.
„OK. Ich glaube, wir müssen hier lang.“ Alice umrundete einen großen Tisch und hielt sich rechts. Die Küche wirkte wie eine kleine Halle und einige der riesigen Töpfe, die in den Ecken gestapelt standen, wirkten wie aus einem Märchen entliehen. Direkt gegenüber eines Herdes mit sechs überdimensionalen Kochplatten stieß Alice auf eine weitere Tür, die sich ohne irgendeinen besonderen Trick öffnen ließ. Sie quietschte laut in den Angeln und gab einen weiteren Gang frei, an dessen Ende jedoch eine Tür zu sehen war, unter der helles Licht hindurchflutete.
Henri nickte anerkennend. „Wenn ich daran denke, dass du dich mal im eigenen Dorf verfahren hast, muss ich wirklich sagen, dass ich beeindruckt bin.“
„Danke“, antwortete sie kurz angebunden und machte sich auf den Weg nach draußen.

In der Mitte des im Hinblick auf seine ehemalige Verwendung klein wirkenden Hofes stand eine große Eiche, deren Blätter leise im Wind raschelten. Unter ihr stand der uniformierte Gruppenführer und erzählte den Zuhörern etwas über diesen Baum, als er plötzlich inne hielt und konzentriert lauschte. Einige Mitglieder der Besuchergruppe wechselten vielsagende Blicke miteinander, aber er ließ sich davon nicht irritieren. Wieder hörte er ein klirrendes Klopfen und diesmal gelang es ihm die Richtung aus der dieses Geräusch zu hören war auszumachen.
„Entschuldigen Sie bitte, Mr….“
„Noch einmal. Mein Name ist Lennert, aber warten sie mal bitte einen Augenblick.“
Lennert bahnte sich einen Weg durch die Menschenmasse, die einen Kreis um ihn gebildet hatte und hielt auf die Quelle des Geräuschs zu. Er nahm seinen großen Schlüsselbund, den er am Gürtel trug und wählte unter lautem Klirren einen Schlüssel davon aus. Es klackte zweimal und das Schloss an der kleinen Eisentür, die vom Hof zur Küche führte, öffnete sich. Lennert schob die Schiebetür zur Seite und sah mit unberührter Mine auf die beiden Leute, die ihm gegenüber standen.
„Sehr nett von Ihnen.“ Alice stürmte mit rotem Gesicht an dem Führer vorbei und zog Henri hinter sich her.
„Wäre nett, wenn Sie mal Ihre Gruppe durchzählen, bevor Sie irgendwas irgendwo abschließen.“
Lennert schien zu begreifen und senkte schuldbewusst seinen Kopf.
„Das tut mir wirklich leid. Aber woher wussten Sie, wie man hier herauskommt?“
„Mir tut auch so einiges leid.“ Auf Lennerts Frage antwortete die junge Frau jedoch nicht, sondern blickte sich stumm unter der Besuchergruppe um. Als sie aber nicht das fand, was zu entdecken sie gehofft hatte, stellte sie sich ihrerseits in die Mitte des immer noch bestehenden Menschenkreises.
„Wer vermisst seine Tochter?“, fragte sie mit einem anklagenden Blick, wobei sie versuchte jeden von ihnen mit diesem zu streifen, aber sie sah nur nichtssagende Gesichter.
Niemand schien sich angesprochen zu fühlen.
„Niemand hat ein Kind mitgebracht“, schaltete sich Lennert ein.
„Ich war vorhin auf der Toilette. Das war übrigens der Zeitpunkt, als wir eingeschlossen wurden“, Lennert schaute unschuldig zur Seite, „und da traf ich ein kleines Mädchen.“
„Miss. Glauben Sie mir doch. Ich habe die Besucherliste bei mir und alle sind hier.“
Alice ging auf Lennert zu. „Ach ja. Ich habe allerdings so das Gefühl, dass sie solche Listen gar nicht lesen können!“
Henri, der bis zu diesem Zeitpunkt wartend im Hintergrund gestanden hatte, kam fast unbemerkt heran und fasste seine Freundin am Arm. Er zog sie zu sich und drücke sie beruhigend.
„Ich weiß was ich gesehen habe! Da war ein Mädchen!“
„Du musst dich getäuscht haben, Alice.“
„Ganz bestimmt nicht.“
„Komm schon. Wenn da wirklich ein Mädchen war, dann wird es entweder bald vermisst, oder es kennt den Weg nach draußen. Schließlich ist es ja auch reingekommen.“
Alice schloss kurz die Augen und versuchte sich selbst zu beruhigen.
„OK, stimmte sie beschwichtigend ein, „wahrscheinlich hast du recht.“
Sie drückte sich fest an die Schulter ihres Freundes und atmete mehrere Male tief ein und aus.

Henri und Alice standen wieder inmitten der Gruppe und lauschten den weiteren Ausführungen Lepperts.
„Diese Eiche hier“, er gestikulierte wild in Richtung der schweren Äste, die sich über ihm erstreckten, „stand schon vor dem Bau des Gefängnisses hier. Man kann sagen, dass das Gefängnis um den Baum herumgebaut wurde. Mein Großvater erzählte mir, dass der Baum für die Gefangenen immer eine besondere Bedeutung hatte. Die Insassen, die auf den Hof hinaus durften klammerten sich oft an den dicken Stamm, weil sie nach eigenen Aussagen so etwas wie Freiheit fühlten.“
„Und was ist mit den Insassen, die unter dem Baum liegen?“
„Wie bitte?“ Lennert sah sich um und erkannte Alice, die ihn auffordernd ansah. „Ich glaub ich weiß nicht so recht, was Sie meinen.“
„Kein Problem.“ Alice drängelte sich nach vorn und stellte sich Lennert genau gegenüber.
„Hat Ihnen Ihr Großvater auch erzählt, dass einige Gefangene missbraucht und misshandelt wurden. Es ging soweit, dass manche von ihnen die Torturen nicht überlebt hatten. Es gab auch Wächter, die einige der Gefangenen ohne Anordnung auf den Stuhl setzten und die Toten wurden dann unter diesem Baum hier vergraben. Über viele Jahre verscharrte man sie hier im Schatten der Eiche.“
„Entschuldigen Sie bitte. Ich weiß nicht, woher Sie diese Schauermärchen haben. Aber es gab in diesem Gefängnis weder Übergriffe, noch befindet, oder befand sich innerhalb dieser Mauern ein elektrischer Stuhl.“
„Der Stuhl befindet sich zwischen der Waschküche und den Isolationszellen.“
„Unmöglich. Und nun bitte ich Sie meine Führung ohne weitere Störungen zu Ende bringen zu können.“ Lennert war sichtlich gereizt, aber es waren auch keine Anzeichen zu entdecken das er log.“
„Alice“, rief Henri seine Freundin mit Nachdruck. „Komm schon. Wir reden, wenn wir zu Hause sind.“ Er gab ihr einen Kuss auf den Hals und hielt plötzlich inne.
„Was ist das?“
„Was?“ Aber bevor Alice die Gegenfrage gestellt hatte, wusste sie, was ihr Freund meinte. Als sie vorhin die Bluse heraufgezogen hatte, um sich vor dem Staub zu schützen, musste sie gleichzeitig den schwarzen Fleck auf ihrem Hals freigelegt haben.
„Du hast da einen schwarzen Fleck.“
„Ja. Ich weiß, aber er ist klein und ich hab ihn eben erst selbst gesehen.“
Henri riss grob an dem Stoff ihrer Bluse. „Klein nenne ich etwas anderes.“
„Hey, lass das.“ Sie riss sich von ihm los und zog den Stoff wieder zurecht.
„Steiger dich da jetzt bitte nicht rein.“
Henri kam nicht dazu ihr weitere Widerworte zu geben, denn Lennert stand mittlerweile direkt neben ihnen.
„Passen Sie auf. Nehmen Sie den hier.“ Er reichte ihnen einen großen Schlüssel.
„Was ist das?“
„Das ist ein Generalschlüssel. Gehen Sie zurück in den Südtrakt und frischen Sie sich etwas im WC auf. Als nächstes schließen wir bei dieser Führung die Besucher für eine halbe Stunde in die Zellen im Nordtrakt ein, damit sie ungefähr erahnen können, wie sich so etwas anfühlt. Ich komme dann zu Ihnen und lass sie aus diesem Gebäude raus. Dann fahren Sie bitte nach Hause und erholen sich. Sie sehen mir schwer mitgenommen aus.“
„Ein Generalschlüssel“, fragte Henri, „wozu dann der riesige Schlüsselbund?“
„Es gibt immer einen Generalschlüssel. Das hier ist nur noch show, und jetzt bitte….“
„Ja. Schon gut. Komm Schatz, lass uns bitte gehen.“

„Lass mich bitte einen Augenblick allein“, bat Alice und ließ ihren Freund wortlos zurück.
Alice stand wieder vor dem gleichen Spiegel und betrachtete das, was vor einer guten Stunde noch ein schwarzer Fleck gewesen war. Was vorher nur in ihrer Fantasie existiert hatte, war nun Wirklichkeit geworden. Das Schwarz war gewachsen. Sie begann die Knöpfe ihrer Bluse zu öffnen und streifte das Kleidungsstück langsam und bedächtig ab, dann drehte sie sich herum und blickte über ihre Schulter ihrem Spiegelbild entgegen. Der schwarze Fleck hatte sich zu einem langen, gewundenen Strich gewandelt, der sich in Schulterhöhe teilte und der Mitte ihres Rücken in einem verschlungenen Muster förmlich entgegenwuchs. Alice erinnerte es an eine Tätowierung und dieser Gedanke machte ihr Angst. Sie fühlte sich merkwürdig und seit sie diesen Fleck entdeckt hatte, meinte sie auch anders zu denken. Sie ging die vergangene Stunde noch einmal durch und analysierte sich selbst. Ihr ganzes Verhalten hatte sich verändert und es hatte sich angefühlt, als wäre zeitweise eine andere Alice zum Vorschein bekommen. Mit diesen Überlegungen nahm die Kälte in ihrem Inneren wieder zu. Alice zog die Bluse wieder an und versenkte ihren Kopf tief in ihren Händen. Sie weinte tränenlos.

„Papa?“ Alice horchte erschrocken auf und sah in den Spiegel. Niemand war zu sehen und sie glaubte schon, sich verhört zu haben, als die bekannte Mädchenstimme wieder ertönte.
„Papa?“ Jetzt drehte sich Alice um und da stand sie wieder. Es war genau wie vorhin, nur dass das Mädchen nun nicht dort stehen blieb, sondern auf Alice zugerannt kam und ihre kleinen Arme um ihre Hüften schwang.
„Ich bin nicht dein Papa. Schau, wenn überhaupt, bin ich eine Mama.“
Aber das Mädchen klammerte sich immer noch an sie und ihre kleinen Hände wirkten wie Schraubstöcke. Alice warf ihren Kopf hoch und sah im Spiegel, wie sie sich gegen etwas wehrte, was gar nicht dazusein schien. Dort war nur sie, die sich eigenartig in einem leeren Raum wand. Es sah aus wie ein wunderlicher Tanz, aus einer längst vergessenen Zeit. Ihr wurde schwindlig, denn was sie gerade erlebte, war bis zu diesem Zeitpunkt nicht einmal in ihrer Fantasie möglich gewesen. Der Drang einfach um sich zu schlagen kämpfte gegen das Wissen, dass es ein kleines Mädchen war, gegen das sie dann die Hand erheben würde. Und so grotesk ihr dieser Gedanke selbst schien, so sehr war doch das Bedürfnis in ihr verankert dem Kind unter keinen Umständen weh tun zu wollen; entsprang es nun dem Wahnsinn, oder der Realität.
Ein zweites Paar Hände krallte sich in den Stoff ihrer Hose und Alice sah im Spiegel, wie ihr fast die Augen aus den Höhlen traten. Sie bekam es mit der Angst zu tun und dieses Gefühl verlangsamte alle ihre Gedanken, so dass nur noch ihr Körper im Mittelpunkt stand. Und der signalisierte ein brennendes Gefühl, das sich von ihrem Hals aus zu ihrem Rücken hin ausbreitete. Sie taumelte zurück, verlor das Gleichgewicht und stolperte in eine der offenstehenden Kabinen. Die Mädchen, welche beide gleich aussahen, versuchten sie zu halten, doch Alice Gewicht riss die beiden zierlichen Körper einfach mit sich.
„Papa!“, schrie eine von ihnen, „sei doch vorsichtig!“
Alice kämpfte immer noch gegen das Bedürfnis an einfach um sich zu schlagen, als das Brennen auf ihrem Rücken immer stärker wurde.
„Papa kommt wieder zurück!“, schrie das zweite Mädchen entzückt und drückte ihre Hand auf Alice Mund, so dass sie nicht schreien konnte. Das andere Kind drückte sie auf die Toilettenschüssel und mit einem Mal schienen sie die Kraft von Erwachsenen zu besitzen, denn Alice konnte sich nicht gegen die kleinen Arme wehren. Sie versuchte sich wie ein nasser Fisch aus ihrer Umklammerung zu lösen und als die Schmerzen immer unerträglicher wurden, verlor sie fast das Bewusstsein und ihre Gegenwehr erstarb langsam. Es brannte wie Feuer, wie eine heiße Nadel, die wieder und wieder in ihr Fleisch getrieben wurde. Es begann am Hals, dort wo sie den Fleck entdeckt hatte und bewegte sich dann zum Rücken hin hinab. Und je weiter die heiße Nadel voranrückte, desto länger verweilte sie an einem Ort und desto öfter und schneller stach sie zu. Noch nie hatte Alice so etwas gefühlt und das Brennen und Reißen drohte ihr den Verstand zu rauben. Immer wieder wurde ihr schwarz vor Augen, doch die erlösende Ohnmacht wollte sie nicht unter ihre schützende, dunkle Decke nehmen. Das Bild vor ihren Augen flackerte wild unter hunderten explodierender Lichtpunkte, wobei sie die Mädchen nur noch schemenhaft wahrnahm, als entstammten sie einem weit entfernten Ort, den sie nur aus der Entfernung beobachtete. Alice dachte am lebendigen Leib zu verbrennen und als sie glaubte meterhohe Flammen schlagen aus ihrem Rücken empor, verlor sich der Schmerz und die Mädchen ließen sie mit einem zufriedenen Lächeln los. Sie lachten sich gegenseitig glucksend an und verschwanden. Alice glaubte immer noch eine kleine Hand auf ihrem Mund zu spüren und atmete schwer durch die Nase. Ihr Kopf dröhnte und in seinem inneren fühlte es sich an, als lägen zwei Welten aufeinander, die um ihre Vorherrschaft kämpften, denn für beide gab es nicht genügend Raum.
Alice stützte sich ab und rappelte sich mühsam auf, als sie abrutschte und ihre Hand auf die Toilettenspülung schlug. Das Wasser schoss dröhnend aus den alten Rohren hinab und sammelte sich unter ihr in einem riesigen Strudel. In ihren Ohren klang es wie das Donnern eines gigantischen Wasserfalls, wie das Donnern eines schweren Gewitters. Alice vergrub ihren Kopf zum zweiten Mal an diesem Tage tief in ihren Händen, um alles um sich herum auszuschließen.
Dann wurde es still.
Das letzte bisschen Wasser verschwand in der Tiefe des Abflusses. Fast geräuschlos. Es gab keine tosenden Wasserfälle mehr, keine explodierenden Lichtpunkte, keine kleinen Hände und auch keine Kopfschmerzen. Es kam ihr vor, als wäre das was passiert war nur ein Traum gewesen, der bereits zu verblassen begann und doch fühlte sie sich merkwürdig. Eben jenes Gefühl, welches man hatte, wenn man nach dem Aufwachen nicht wusste, ob man es mit einem Traum zu tun hatte, oder mit etwas, dass wirklich passiert war.
Sie stellte sich vor den Spiegel und lächelte erleichtert.
„Papa ist wieder da“, flüsterte sie und verließ den Waschraum.


Jacques

Der Wind des sich langsam drehenden Deckenventilators verfing sich in den langen, braunen Haaren eines jungen Mannes, der mit gesenktem Kopf an der Theke saß und gedankenverloren auf ein leeres Glas schaute. Eine Hand und eine Flasche tauchte in seinem Sichtfeld auf und schenkte nach. Dankbar griff Jacques das kleine Glas und kippte seinen goldenen Inhalt wie Wasser herunter. Das Brennen, das sich in seinem Hals wie ein Feuer ausbreitete ignorierte er und bestellte mit einer müden Handbewegung direkt das nächste Getränk.
„Lass mal. Der nächste geht auf mich. Muss dir ja echt was übles passiert sein, wenn du das Zeug so in dich reinschüttest, Kumpel.“
Ohne aufzusehen tat Jacques den Kommentar seines Nebenmannes mit einem knappen Nicken ab.
„Und? Wo drückt denn der Schuh nun?“
Ein Seufzen entrang sich Jacques Kehle. „Job verloren.“ Die Worte presste er förmlich hervor.
„Was haste denn gemacht?“
Der nächste Drink kam und wieder glich sein Rachen einem Abfluss. Der Whiskey verschwand gurgelnd in dem nimmersatten Schlund.
„Ich hab unten am Hafen gearbeitet. Hab den Fisch von den Booten geholt und in die Fabrik gebracht.“
„Aha. Das erklärt den Geruch, den du mit dir rumschleppst.“ Der Mann lachte rau und trank seinerseits sein Glas leer. Jacques schaute nun auf und musterte das Gesicht des Fremden. Mehrmals musste er zwinkern, bevor das Bild vor seinen Augen eine gewisse Schärfe erreicht hatte. Der Fremde trug eine braune Jacke über einem braunem Hemd und auf den Schultern konnte Jacques bunte Applikationen erkennen, die er aber nicht einordnen konnte. Was ihm jedoch am meisten auffiel, waren die Augen des Fremden. Eines war grün, das andere blau.
„Ist vererbt“, antwortete er auf die ungestellte Frage. „Jeder in meiner Familie hat das. Ist was besonderes und das macht mich wiederum zu etwas besonderem.“ Er lachte wieder sein raues Lachen. „John James Lennert. Freut mich.“
Die beiden Männer reichten sich die Hände.
„Jacques.“
„Einfach nur Jacques? Na gut, Kumpel. Dann nenn mich Jay Jay.“
„Alles klar, Jay Jay.“
Jacques richtete sich etwas auf und drückte seinen Rücken durch. Die Wirbel knackten so laut, dass der Wirt sich zu ihm herumdrehte und ihn vorwurfsvoll anstarrte, weil er dachte, dass es sich um den Hocker gehandelt hatte, auf dem er saß.
„Ich arbeite drüben im Gefängnis. Bin da einer der Wächter“, fuhr Jay Jay fort, ohne auf das Knacken zu reagieren und deutete gleichzeitig auf die Aufnäher auf seiner Jacke.
„Kein guter Job, aber ein sicherer Job, denn wenn es eines gibt, dann sind es Verbrecher. Wir haben quasi immer Kunden.“
Jacques antwortete nicht, sondern blickte nur leer vor sich hin. Die beiden Männer waren die einzigsten, die an diesem Abend in der Kneipe saßen und somit war es eine eigenartige Stille, die den Raum trotz des prasselnden Regens, der draußen seit Stunden niederging, erfüllte. Mit hochgezogenen Brauen sah der Wirt seine Gäste wartend an, als hoffe er auf eine weitere Bestellung, doch niemand sagte ein Wort. Er zuckte mit den Schultern und ging zu einer grauen, biederen Musikbox, die in einer der Ecken stand. Er drückte auf einen großen Knopf und aus den alten Lautsprechern drang verzerrt das Spiel einer Trompete. Der Bläser gab sich große Mühe, seine Töne möglichst kraftvoll zu inszenieren und somit bekam das Stück schon bald einen etwas faden Beigeschmack, weil sich die gesamte Komposition nur auf diesen einen Musiker zu stützen schien.
„Ich mag kein Jazz“, brachte Jay Jay mürrisch hervor. „Das ist doch keine Musik. Die spielen irgendwelche schrägen Sachen, um sich selbst möglichst effektiv zu beweisen. Sobald da mehrere ins Spiel kommen, klingt so ein Ding, wie ne Horde Kinder, denen man das erste Mal ein Instrument in die Hand drückt. Oder nicht? Sag doch mal Kumpel. Was ist deine Meinung dazu?“
„Würd ich jetzt nicht sagen. Die können ihre Sachen schon spielen.“
Jacques gab dem Wirt einen Wink und der nickte, dass er verstanden hatte. Draußen donnerte es und ein kurzer Blitz erhellte die ansonsten fast dunkle Kneipe.
„Ach kommen Sie. Musiker sind doch nur Pack. Das ist doch kein Beruf, dem die nachgehen. Die sollen mal arbeiten.“
Jay Jay brauchte eine Weile, bis er begriffen hatte, was er da gerade gesagt hatte.
„Au Mann Kumpel. Das tut mir Leid. So war das nicht gemeint. Warum haben Sie eigentlich Ihren Job verloren?“, fragte er ehrlich.
Jacques griff mit einem verzerrten Lächeln zu seinem Glas.
„Erzähl ich nur, wenn der hier auch auf Sie geht.“
„Ja gut, aber dann mal los.“
Der Whiskey floss wieder in einem Zug den Rachen hinab.
„Sagen wir mal, ich hab ein Problem mit Autorität. Also ich hab meine Arbeit gut gemacht. Ich war schnell und hab mir keine Fehler geleistet, aber mein Chef war ein Arschloch. Der konnte mich wohl nicht leiden und versuchte mir zu jeder Zeit und überall einen rein zu drücken.“
Jay Jay drehte sich auf seinem Hocker und blickte sein Gegenüber nun genau an.
„Ach kommen Sie. Ist das wirklich alles? Da ist doch noch mehr.“
„Nun ja. Ist ein paar Stunden her, da wurde es mir zuviel. Ich war sowieso stinksauer, weil meine Frau macht was sie will. Wissen Sie, ich hab momentan ein paar Probleme zu Hause. Sie ist dauernd auf Achse, sagt mir nicht, wohin sie geht und gibt auch noch zuviel Geld aus, obwohl sie genau weiß, dass wir uns keinerlei Sachen leisten können.“
Jay Jay nahm nun das leere Glas und stellte es zu seinem, dorthin, wo Jacques es nicht erreichen konnte.
„Dann sollten Sie das Trinken auch schon mal sein lassen, mein Guter. Das kostet auch Geld.“
„Dieses Schwein“, fuhr Jacques fort, „wollte mich ne Doppelschicht schieben lassen, weil ich unsauber gearbeitet hätte und dabei gab er mir einen Schlag in den Nacken. Keine Ahnung, ob er jetzt fest geschlagen hat oder nicht, aber ich hab wohl ohne nachzudenken einfach zurückgeschlagen und dann konnte ich gehen. Aber ich bin nicht gegangen, ohne ihm mal was reingeschoben zu haben.“
Jacques lachte höhnisch. „Aber wie soll ich jetzt Geld nach Hause schaffen? Meine Töchter müssen zur Schule, brauchen neue Klamotten und was weiß ich noch alles.“
„Du hast Töchter, Kumpel?“ Sie begannen sich zu duzen.
Jacques blickte Jay Jay in seine mehrfarbigen Augen und einen Moment lang kam ihm dieser Anblick merkwürdig vertraut vor. Er hatte ein Gefühl des Erkennens, doch der schummrige Schleier, den der Alkohol mit sich brachte, schob sich sofort über jeden Gedanken. Er schüttelte nur den Kopf und versuchte nicht länger krampfhaft sich zu erinnern.
„Ja. Drei. Zwillinge. Sieben Jahre alt. Und Ellie ist vier.“
„Sind bestimmt süß die drei. Was willste denn jetzt machen?“, fragte Jay Jay mit einem einfühlsamen Ausdruck in den Augen.
„Beten.“
„Meinste das jetzt ernst, oder spricht da nur der Alkohol aus dir?“
Jacques schaute zu dem Ventilator hoch und sein Kopf begann sich mit dessen Flügeln leicht im Kreis zu bewegen. Aber er hörte schnell wieder auf, denn in ihm begann sich durch die schlingernden Bewegungen eine tiefe Übelkeit zu regen.
„Ja.“
„Glaubste auch an den Teufel?“
„Nein.“
„Na, wozu brauchste dann einen Gott?“
„Weil er für einen da ist, wenn es nicht mehr weiter geht. Und meine Töchter brauchen ihn in Zukunft wohl ganz besonders.“
„Ach ja. Deine drei Töchter.“ Die Zahl drei betonte er besonders. „Schön, wenn Kinder noch an etwas glauben, aber Erwachsene sollten das nicht tun.“
Mit diesen Worten wandte sich Jay Jay wieder ab, so als wolle er sein Gesicht verstecken. Nachdenklich kratzte er sich die Nase und stand dann unvermittelt auf.
„Na gut, mein Lieber“, er legte ein paar Geldscheine auf die hölzerne Theke, die der Wirt ohne nachzuzählen einsteckte, „ich muss mal wieder. Gönn dir noch ein paar. Ich glaub wirklich, dass du die brauchst.“
Jay Jay gab Jacques noch einen freundschaftlichen Klaps und ging dann schnellen Schrittes hinaus, ohne sich um den nicht abnehmenden Regen und das immer stärker werdende Gewitter zu kümmern.
„Noch einen dann?“, fragte der Wirt, aber Jacques schüttelte nur überraschend den Kopf.
„Muss heim. Will zu meinen Kindern“, antwortete er knapp und stand schwankend auf. Draußen wurde ein Motor angelassen und Scheinwerfer vertreiben kurz die Dunkelheit.

Mit dem letzten Geld, was er noch in seinen Taschen finden konnte, hatte Jacques den Wirt bezahlt und nun wanderte er im Regen umher. Immer wieder wankte er von einer Seite der Schotterstraße auf die andere, ohne genau zu wissen, wo er war. An einer Straßenlaterne hielt er kurz an, blickte nach oben und blinzelte gegen das helle Licht an, wobei er den Tropfen die auf seinem Gesicht zerplatzten und an ihm herunterliefen nachspürte. Ihm war kalt. Von außen und von innen, denn in ihm wütete das Gefühl der Schuld. Er hatte die Existenz seiner Familie aufs Spiel gesetzt und das alles nur wegen seinem unbeugsamen Stolz, den er nicht zu kontrollieren vermochte. Jacques fühlte sich machtlos gegenüber sich selbst und dieses Gefühl nahm ihm auch noch die Kraft, die der Alkohol noch nicht genommen hatte.
Unter dem zerstreuten Licht der Lampe sackte er zusammen. Seine Hände griffen in eine schlammige Pfütze und seine nasse Kleidung zog ihn noch weiter nach unten. Alles um ihn herum schwankte und obwohl er sich auf allen Vieren befand, glaubte er jeden Moment umzufallen. Dann schoss es aus ihm heraus und er übergab sich in einem einzigen großen Schwall. Jacques war auf dem niedrigsten Punkt angelangt, den er sich selbst vorstellen konnte. Er wollte schreien, doch das Erbrochene brannte in seiner Kehle und so bekam er nur ein vogelähnliches Krächzen zustande, dass sich im dichten Regen schnell verlor.
In diesem Augenblick hallte ein Donner durch die leeren Straßen, der es in seinen Ohren zittern ließ. Aber es war kein normaler Donner. Es war ein Blitz, der ganz in seiner Nähe eingeschlagen sein musste. Und wie um seine Vermutung zu bestätigen, erlosch die Straßenlaterne über ihm und auch überall sonst gingen die Lichter schlagartig aus.

Unkoordiniert rappelte er sich auf und suchte sich seinen Weg durch die grauen und nassen Straßen nach Hause. Nicht wissend, wohin er eigentlich ging, fand er überraschend schon nach wenigen Minuten die richtige Straße. Er blinzelte gegen die Regentropfen, die ihm immer wieder schmerzend ins Auge fielen an und suchte wie ein scheues Tier seine schützende Höhle. Der Kopf schwirrte ihn und zuerst dachte er, er müsse sich vertun, oder der Alkohol spiele ihm einen Streich, aber als er nach mehrmaligem Hinsehen immer noch den gleichen Mann wiedererkannte, da glaubte es auch sein benebelter Verstand. Es war Jay Jay, der vor seinem Haus stand, sich hektisch umblickte und in sein Auto stieg. Der Motor seines grauen Fords heulte laut auf, als er mit quietschenden Reifen die Straße runterfuhr. Seine roten Rücklichter verschwanden schnell in der dichten Mischung aus Regen und Dunkelheit und Jacques war wieder allein. Irgendetwas an dieser Entdeckung beunruhigte ihn, aber seine Gedanken jagten so schnell durch seinen Kopf, dass es ihm einfach nicht gelang einen davon festzuhalten. Halb stolpernd legte er die letzten Meter zu seinem Haus zurück.

Ein metallisches Quietschen untermalte das Öffnen des schmiedeeisernen Gartentors, das Jacques nicht wieder hinter sich schloss. Er drückte die alte Klingel, ohne an den Schlüssel zu denken, den er bei sich trug und wartete darauf, dass seine Frau ihm öffnete. Ihre Gesichtszüge drohte zu entgleisen, als sie ihrem Mann gegenüberstand. Jacques trat ohne ein Wort über die Schwelle und setzte sich auf einen kleinen Hocker, der direkt neben der Tür stand.
„Warum kommst du schon jetzt? Und warum hast du getrunken?“ Die Stimme seiner Frau klang ärgerlich, aber doch merkwürdig gefasst, so als wäre das Gespräch, das nun unweigerlich folgen musste, geplant.
Jacques griff sich an die Schläfe und versuchte die einsetzenden Kopfschmerzen einfach wegzudrücken, aber die Stimme seiner Frau, war wie ein Messer, das tief in seinen Kopf getrieben wurde. Er suchte nach einem Halt in dem langen Flur, der vor ihm lag. Auch, um seiner Frau nicht in die Augen schauen zu müssen. Als sein Blick auf eine Kerze traf, die auf einer kleinen Kommode stand, fühlte er sich ein wenig besser, denn er hielt sich im Geiste daran fest, wie an einem Rettungsring, der ihn vor dem Ertrinken rettete.
„Antworte mir!“, sagte sie bestimmender, aber Jacques hob nur abwehrend die Arme.
„Nein. Nicht so. Ich will von dir wissen, warum du schon so früh zu Hause bist und warum man deine Fahne bis zu den Nachbarn riechen kann.“
„Bitte, Melanie“, flehte er mit krächzender Stimme, „ich mag nur noch ins Bett.“
„Das kannst du schon einmal direkt vergessen. Wenn du irgendwo schläfst, dann auf der Couch und auch das nur, wenn du mir jetzt ein paar Erklärungen lieferst.“
Jacques blickte gequält auf. Er fühlte sich schuldig und jedes Wort, das nun über seine Lippen kam, bereitete ihm Schmerzen.
„Ich hab keinen Job mehr.“
„Das ist ja wunderbar.“ Melanie schien nicht erschrocken oder verwundert. Jacques war sich sicher gewesen, dass diese Nachricht seine Frau erst einmal verstummen lassen würde, aber sie reagierte prompt.
„Und jetzt?“, schob sie fragend hinterher.
„Melanie, bitte. Ich kann jetzt nicht. Ich will schlafen.“
„Du wirst noch genug schlafen können, wenn du nicht mehr arbeiten musst!“
Melanie drehte hastig ihren Kopf, als sie die kleinen Füße ihrer Tochter hinter sich hörte, die mit verschlafenen Augen die Treppe herunterkam.
„Geh wieder ins Bett, Kleine.“
„Warum schreit ihr so, und was ist mit Papa? Ist er krank?“
Jacques nahm seine Tochter in die Arme und konzentrierte sich, damit sie nichts von seinem Zustand mitbekam. Der geblümte, blaue Stoff ihres Schlafanzuges war noch warm und ihr kleiner Körper fühlte sich so weich an, dass er sie immer fester an sich heranzog. Jacques spürte die Liebe, die er zu diesem Kind empfand und hatte mit einem Mal das Bedürfnis alle Probleme hinter sich zu lassen und seine Tochter einfach für immer festzuhalten, denn dieses Gefühl, ließ alles andere verblassen. Jacques lächelte.
„Ihhh, Papa, du bist ja ganz nass.“ Das Mädchen strampelte mit den Beinen und wehrte sich gegen die erdrückende Liebe ihres Vaters.
Melanie trat heran und zog den kleinen Körper aus der Umklammerung. Jacques sah wieder auf und als sich sein Blick mit dem seiner Tochter traf, verschwand das eben erst erschienen Lächeln auf seinem Gesicht wieder genauso schnell, wie es gekommen war.
Ihre Augen hatten zwei Farben. Das eine war grün, das andere blau und mit einem Mal wusste er wieder, woran Jay Jay ihn erinnert hatte. Er hatte die gleichen Augen wie seine Töchter. Warum war ihm das zuvor in der Bar nicht eingefallen?
Das liegt in der Familie.
Das hatte er gesagt. Alle in seiner Familie hätten diese Augen. Es wäre etwas besonderes, denn kaum jemand anderes hatte solche Augen.
„Jay Jay“, schoss es ihm durch den Kopf. Ein Gedanke der weh tat. Ein Gedanke, der sich mit dem eben gesehenen vereinigte und ein großes, schwarzes Loch bildete, in das Jacques nun fiel. Dieser Mann hatte die gleichen Augen und hatte vor seinem Haus gestanden. Er hatte auch schnell weggemusst, als er von seinen drei Töchtern erfahren hatte.
„Geh ins Bett, Kleine.“ Er blickte seiner Tochter mit geröteten Augen hinterher und als sie oben auf der Treppe aus seinem Blick verschwand, sah er seine Frau eindringlich an.
Der Alkohol existierte scheinbar nur noch als tiefes Brummen in seinen Ohren, denn seine Gedanken waren jetzt völlig klar.
„Hast du mich betrogen?“
Melanie riss ihre Augen auf und ihre Lippen bewegten sich zu stummen Wörtern.
„Wer war der Mann, der vorhin hier war?“
Jacques packte ihren Arm, aber Melanie brachte immer noch kein Wort heraus.
„Kennst du einen Mr. Lennert?“
„Nie gehört,“ stotterte sie.
„Denk noch mal nach“, sagte er und drückte fester zu, bis Melanie ihre Hand wegriss.
„Keine Ahnung. Der arbeitet doch im Gefängnis. Ist er da nicht einer der Wächter?“
Sie versuchte möglichst gefasst zu klingen, doch ihre Stimme versagte immer wieder.
„Und wie ist er so im Bett?“
„Was?“
„Ich mein; wie fickt er? Er hat die gleichen Augen! Die Augen liegen in der Familie!“ Jacques war lauter geworden und mit jedem Wort, das sich geschrieen seiner Kehle entrang, kletterte er wieder ein Stück aus dem schwarzen Loch heraus, in das er vor wenigen Augenblicken gestürzt war.
Melanie wich immer weiter in den langen Flur zurück.
„Und was soll das bedeuten?“
„Das bedeutet, dass du mich betrogen hast und das meine Kinder nicht von mir sind.“
Sie begann zu schluchzen und zuckte leicht mit den Augenlider.
„Und wenn es so wäre? Was würdest du tun. Uns verlassen? Mich schlagen?“
Jacques griff sich zum wiederholten Male an diesem Tag an den Kopf. Der Alkohol und das Gewicht der Situation überforderten ihn.
„Ich weiß es nicht!“, schmetterte er ihr aus voller Kehle entgegen. „Du...“, stotterte er, „du hast mich hintergangen. Es waren meine Kinder.“
„Und sie sind es immer noch!“, argumentierte seine Frau.
„Also gibst du es zu!“
Melanie stand mittlerweile direkt neben der Kommode, auf der die kleine Kerze in ihrem metallischen Ständer brannte, die ihr Gesicht nur von einer Seite beleuchtete und es auf merkwürdige Weise geisterhaft erschienen ließ. Ihre Züge wirkten in diesem Licht verhärtet, als wäre ihre ganze Aufregung lediglich gespielt. Und als Jacques das sah, da stürzte er wieder zurück in das Loch, aus dem er sich gerade erst mühselig heraufgearbeitet hatte. Seine Knie zitterten und nur wenige Sekunden später, gaben seine Beine unter ihm nach. Der hellbraune Dielenboden protestierte knarrend gegen den Schlag, verstummte daraufhin aber wieder, so dass nur noch das Weinen des Mannes zu hören war. Melanie hatte ihren Mann noch nie weinen sehen und jetzt ergriff die Angst sie mit voller Wucht.
„Was willst du tun? Was willst du tun?“, schrie sie immer wieder aufs neue. Es war, als könne sie keinen anderen Satz von sich geben. „Was willst du tun?“
„Was ist mit Papa?“ Jacques Tochter hatten die Schreie wieder aus dem Bett geholt und nun starrte sie mit großen, bunten Augen auf ihren Vater, der gebrochen auf dem Boden kniete und dessen Körper unkontrollierbar bebte.
„Geh nach oben, mein Schatz!“, schrie Melanie das kleine Mädchen an, das daraufhin unmerklich zusammenzuckte.
„Aber ich will wissen, was mit Papa ist, und warum ihr euch so anschreit! Warum schreit ihr euch immer an?“
„Aurelie. Du gehst jetzt sofort nach oben!“ Melanie entlud ihren Ärger, der durch die Angst in ihr geschürt wurde, auf ihre Tochter. Ihre Worte waren barsch und man konnte am Gesicht des Mädchens erkennen, dass sie tiefe Wunden rissen. Es begann augenblicklich zu heulen.
„Schrei mein Kind nicht an!“ Jacques richtete sich wieder auf. Seine Augen waren so sehr gerötet, dass sie im Licht der Kerze zu glühen schienen.
„Ach jetzt sind es doch wieder deine Kinder?“
„Wage es nicht dich jetzt so gegen mich zu stellen!“
„Soll ich kuschen?“ Melanie schlug vor Wut um sich. Dabei streifte ihre Hand die Kommode, die sie von ihren Eltern geschenkt bekommen hatte. Holz knarrte und ein kleines Bild, das darauf stand, fiel herunter und der Rahmen zerbrach.
Jacques bückte sich und sah auf die alte Fotografie. Es war Melanie, die ihre Hände auf ihren runden Bauch gelegt hatte. Sie waren damals in der Stadt unterwegs gewesen, um ein Hochzeitskleid für Frauen in Umständen zu finden, denn durch die Schwangerschaft waren sie förmlich zu einer Heirat gezwungen worden. Sie hatten kein Kleid gefunden, aber Jacques hatte sich eine neue Kamera gekauft und sein erstes Bild Melanie gewidmet. Die Symbolik, die nun in diesem heruntergeschlagenen Bild mit seinem zerbrochenen Rahmen lag, war fast beängstigend. Und auch Melanie erkannte mit Schrecken die unterschwellige Bedeutung der Situation. Ihre Tränen flossen nun wie kleine Bäche und schienen nicht versiegen zu wollen.
„Verschwinde von hier!“ Sie wusste sich nicht mehr zu helfen und stand dem ganzen nun hilflos gegenüber. Alles was sie sich wünschte, war, dass ihr Mann verschwand.
„Ich werde nirgendwohin gehen!“
„Bitte, Jacques. Lass mich allein!“
„Nein!“
„Geh!“
Dieses letzte Wort war wie ein Geschoss. Mit ganzer Kraft hatte Melanie es ihrem Mann entgegengeschrieen, dem dies alles mittlerweile wie ein schlechter Traum vorkam. Doch als seine Frau zu einem Buch, dass auf der Kommode lag, griff und es ihm direkt an den Kopf warf, da wusste Jacques, dass er vielleicht noch nie in seinem Leben so wach gewesen war.
Ungläubig packte er sich an die schmerzende Stirn. Im Hintergrund schrie Aurelie, deren kleine Füße nun die Treppe hinaufstolperten.
„Schlampe!“, schrie Jacques. Nie hätte er so etwas zu seiner Frau gesagt. Sie hatte die Gossensprache, wie sie es nannte, immer in ihrem Haus verboten und Jacques hatte sich daran gehalten. Er redete nur so, wenn er auf der Arbeit oder in der Bar war, aber nun schien es keinen Sinn mehr zu haben, die von seiner Frau aufgestellte Etikette aufrecht zu erhalten.
„Was hast du gesagt“, zeterte sie.
„Du bist es doch. Vögelst mit anderen Männer und schlägst mich!“
Wieder kam ein Gegenstand auf ihn zugeflogen, aber diesmal konnte er ausweichen.
„Rede nicht so in meinem Haus und vor meinen Kindern!“
„Deine Kinder! Deine Kinder! Deine Kinder!“
Jacques verfiel in einen monotonen Singsang. Die Worte hallten immer wieder durch seinen Kopf und es war, als würde ihn eine innere Macht dazu zwingen sie laut auszusprechen.
Und mit jedem Buchstaben wurde ihm kälter. Stück für Stück verfiel er in eine Starre, die schließlich dazu führte, dass seine Stimme verstummte. Gebrochen stand er inmitten des langen Flures und blickte in das ihm plötzlich so fremde Gesicht seiner Frau. Unfähig noch ein einziges Wort zu sagen.
„Was jetzt?“, schrie Melanie hysterisch.
Jacques schüttelte nur den Kopf, der schwer und leer war. Er war nicht mehr in der Lage zu denken, geschweige denn irgendwelche Entscheidungen zu treffen. Selbst als ein Blitz direkt neben dem Haus einzuschlagen schien und sein helles Licht alles gleißend erhellte, war keine Regung auszumachen.
Es wurde wieder dunkel und der nachfolgende Donner ließ das Haus erzittern.
„Wie soll es weitergehen. Ich liebe euch alle!“ Melanie tänzelte umher. „Alle!“, wiederholte sie laut, um Jacques aus seiner Starre zu reißen. Doch als er immer noch nicht regierte griff sie ein weiteres Mal, ein letztes Mal zu der Kommode, nahm den Kerzenständer, hob ihn hoch und warf ihn in seine Richtung. Jacques Augen folgten der kleinen Flamme, die im plötzlichen Windzug zuckte und um ihr Überleben kämpfte. Der Ständer drehte sich mehrfach, aber die Flamme brannte mit letzter Kraft weiter. Bis zu dem Zeitpunkt, als sie an seinem Kopf vorbeiflog und sich im Stoff der roten Gardine neben der Tür verfing. Die sterbende Flamme griff dankbar nach dem feinen Gewebe und nährte sich, bis sie zu alter Größe herangewachsen war.
Melanie drehte sich heulend und schreiend um, verschwand durch die hintere Tür in die dunkle Küche und ließ Jacques allein zurück. Durch das Prasseln des Regens hindurch konnte man das Wimmern der Kinder hören, die sich in ihre Zimmer geschlossen hatten und versuchten sich mit zugehaltenen Ohren dem Geschehen zu entzeihen.
Jacques spürte sich nicht mehr. Die Kälte in ihm hatte jegliches Gefühl aus seinen Gliedern getrieben und es kam ihm so vor, als ziehe es ihn immer weiter in diese Kälte hinein. Es war eine Reise, die er angetreten hatte. Eine Reise, die nach Norden führte. Dorthin, wo das Eis ewig war.
Wie in Trance ging er seiner Frau hinterher, folgte ihr in die Dunkelheit und sah nicht, wie das Feuer hinter ihm sich weiter nährte und nach allem Griff, was sich finden ließ. So als habe die kleine Flamme von zuvor beschlossen nie mehr verglimmen zu wollen.

Ein Blitz zog glitzernd über den schwarzen Himmel und vertrieb für eine Sekunde die Nacht. Jacques blickte durch die hintere, geöffnete Küchentür, die direkt in den Garten führte. Der Regen fiel in dicken Tropfen hinab und hinter diesem dichten, nassen Vorhang sah er die laufende Silhouette Melanies, die sich immer weiter von ihm entfernte. Jacques, der am ganzen Körper vor Kälte zitterte lief ihr hinterher, doch das immer stärker werdende Unwetter legte ein schützendes Schild um Melanie. Er folgte ihr durch das kleine Gartentor hinaus auf die Straße, doch dort verlor sich ihre Spur. Allein stand er inmitten der beherrschenden Dunkelheit. Sein Leben hatte sich verändert und als ihm das immer bewusster wurde, setzte sich seine begonnene Reise in seinem Inneren fort. Die Kälte hielt immer weiter Einzug und ließ ihn ohne jedes Zeitempfinden auf der Straße verharren. Die Blitze zuckten am Himmel wie riesige, leuchtende Drachen und den Donner, der sie begleitete war der Hammerschlag des Gerichts, das Jacques verurteilt hatte.
Nichts konnte ihn aus seiner Lethargie reißen, bis ein rotes und ein blaues Licht, sich wie ein scharfes Schwert durch den Regen schnitt. Dem Licht folgte das schrille Geräusch einer Sirene und plötzlich bebte die Welt um Jacques herum. Ein riesiger Schatten schob sich an ihm vorbei und der Zugwind, den er mit sich brachte, riss ihn fast von den Beinen. Er blickte der Bewegung hinterher und erkannte einen Feuerwehrwagen, der nur wenige Meter weiter quietschend zum Stehen kam.
In Jacques Augen spiegelten sich Funken und Feuerzungen, als er auf sein Haus schaute. Wie hatte er dort stehen und nichts bemerken können? Aus den Fenstern seines Hauses schlugen Flammen, die laut aufzischten, als sie aus dem trockenen Inneren ins Freie kamen und die Tropfen wie schmerzende Kugeln auf sie einschlugen. Das Feuer wehrte sich gegen seinen Feind und brannte noch wilder. Vor seinem Haus standen Leute, die wild gestikulierend auf die Feuerwehrleute zeigten, die nun ihren Schlauch entrollten und ihn in Position brachten. Auf der anderen Straßenseite stand auch ein Wagen, der seine Scheinwerfen nicht ausgeschaltete hatte und neben der geöffneten Tür erkannte Jacques Jay Jay, der mit offenem Mund in die Flammen starrte. Sein Körper funkelte im Gegenlicht des brennenden Hauses und seine vielfarbigen Augen leuchteten dämonisch auf, als sich ihre Blicke begegneten. Neben ihm kam nun auch ein Polizeiauto zum stehen. Ein Uniformierter stieg aus und eilte auf Jay Jay zu. Es sah so aus, als erkundigte sich der Polizist nach seinem Befinden, aber als er im Begriff war sich von ihm abzuwenden, da hob Jay Jay seinen Arm und zeigte mit ausgestrecktem Finger auf Jacques, dessen Knie in diesem Augenblick weich wurden. Die Kälte löschte die Flammen nicht, aber sie löschte alles andere und so lag Jacques regungslos auf seinen Knien, als seine Frau sich von hinten näherte und der Polizist mit angriffslustigen Augen auf ihn zueilte.


Mr. Lennert

Lennert musste den alten Hebel mit beiden Händen umfassen und sich mit seinem ganzen Gewicht dagegenstemmen, damit sich der alte Mechanismus in Bewegung setzte. Ratternd schoben sich die Zellentüren zu und ein Stimmengewirr setzte ein, als die Schlösser einrastete. Lennert stellte sich mitten in den Gang und betrachtete die Besuchergruppe, die nun wie Gefangene hinter ihren Gittern standen.
„Eine halbe Stunde bleiben sie nun da drin. Ich denke mal, sie werden dann ungefähr ein Gefühl bekommen, wie man sich in solch kleinen Räumen fühlt.“
Einige der Leute lachten und sahen sich interessiert um, als Lennert hörbar schnaufte. Er musste jetzt zu dieser Verrückten zurück und sie und ihren Freund rauslassen. Eigentlich nutzte er die Zeit der kurzweiligen Gefangenschaft immer dazu einen Happen zu essen, aber das konnte er sich jetzt sparen. Dieser Umstand steigerte seine sowieso schlechte Stimmung nicht gerade. Schon als er am Morgen aufgestanden war, sagte eine Stimme tief in ihm, dass es ein mieser Tag werden würde. Und diese Annahme hatte sich erstmals bestätigt, als er bemerkte, dass kein Kaffee mehr im Haus war. Und wenn er keinen Kaffee bekam, konnte Lennert unerträglich werden.
Und dann hatte er auch noch dieses Pärchen in der Gruppe, die nicht nur die ganze Zeit störten, sondern auch noch irgendwelche komischen Geschichten erzählten, von denen er nichts wusste. Woher sollte er auch so etwas wissen. Sein Großvater war zwar in der Tat Wächter in diesem Gefängnis gewesen, aber er selbst war doch nur ein kleiner Angestellter, der eigentlich von nichts eine Ahnung hatte.
Lennert warf den Gefangenen noch einmal ein aufgesetztes Lächeln zu und verließ den Nordtrakt auf schnellstem Wege. Vielleicht konnte er die beiden schnell raus bringen und hatte so noch ein paar Minuten Pause, bevor er mit dem zweiten Teil der Führung beginnen musste. Und Lennert wusste schon jetzt, dass der ein oder andere sicherlich noch auf die Schauermärchen dieser Frau zurückkam. Dieser Gedanke bereitete ihm bereits jetzt Kopfschmerzen.

Als er ins Freie trat und sein Blick auf den großen Baum traf, fühlte er sich für einen Augenblick besser. Er sog die frische Luft, die ausnahmsweise mal nicht nach Feuchtigkeit und Moder roch, tief in seine Lunge. Er hasste diesen alten Duft, der überall im Gefängnis wie dichter Nebel stand. Man konnte die Türen noch so weit aufreißen. Es hatte keinen Zweck. Immer hatte man dieses schwere Aroma in der Nase.

Lennert lehnte sich mit geschlossenen Augen an den Baum und lauschte auf das Rascheln der Blätter. Dabei genoss er die einzelnen, warmen Sonnenstrahlen, die ihren Weg durch das Laubdach fanden und sich wie ein warmer Schauer auf seine Haut legten. Er wünschte sich zurück in sein Bett. Zu dem Zeitpunkt, an dem der Tag noch nicht begonnen hatte. Und er wünschte sich eine warme Tasse Kaffee, die ihm jemand bringen könnte. Alles zusammen wäre dies die Erfüllung gewesen, aber stattdessen musste er seinen Tag innerhalb der verfallenen Mauern eines Gefängnisses verbringen.
„Ahh, Mr. Lennert. Da sind sie ja.“ Eine bekannte Stimme riss ihn aus seinen Tagträumen. Und noch bevor er die Augen wieder öffnete verfluchte er im Stillen die junge Frau, der dieser Stimme gehörte. Sie mochte erst fünfundzwanzig sein, aber sie nervte bereits, wie eine nörgelnde Schwiegermutter.
„Ich komme, ich komme“, antwortete er monoton und blickte zu ihr hinüber. Das Licht fiel der Frau schräg ins Gesicht und malte kleine Schatten auf ihre Züge, die etwas an sich hatten, was Lennert nicht mit dieser Situation in Zusammenhang bringen konnte. Er hatte ein ärgerliches Gesicht erwartet, aber sie lächelte, so als freue sie sich ihn zu sehen.
„Immer mit der Ruhe. Ich glaube wir haben etwas Zeit.“
Lennert schaute an ihr vorbei und sah niemanden sonst.
„Wo ist denn ihr Freund?“, fragte er um Höflichkeit bemüht.
„Ich glaube der schläft ne Weile.“
„Wie bitte? Er schläft?“
„Ein leichter Schlag auf den Hinterkopf und jeder schläft. Es geht hier ja nur um uns beide und sonst um niemanden.“
Lennert verstand nicht, was diese Frau von ihm wollte und um ehrlich zu sein, wollte er es auch gar nicht wissen.
Er ging einen Schritt zurück, als sie auf ihn zukam, doch der Baum beendete seinen Ausweichversuch.
„Diese Augen. Ich liebe und hasse diese Augen.“ Die Frau strich ihm über sein Gesicht.
„Alice? So heißen sie doch, oder?“
„Vielleicht.“
„Kommen Sie. Wir wecken Ihren Freund und schleusen Sie hier heraus. Ist doch sowieso ein ungemütlicher Ort.“
Lennert kam die Situation immer merkwürdiger vor und ihm wurde zusehends unwohler.
„Ach, Kumpel. Warum die Eile? So schnell muss ich hier nicht heraus. Immerhin war ich lange Zeit hier. Da kommt es auf ein paar Minuten sicherlich nicht an.“
Lennert drückte sich am Baum vorbei und atmete erleichtert auf, als er hinter sich wieder freien Raum spürte. Diese Frau war unheimlich und seit sie hier hereingekommen war, hatte sich ihr Verhalten zusehends verändert. Aus der störenden Besucherin war eine aufdringliche Frau geworden, die ihm Angst machte. Doch als er dachte, dass es gar nicht mehr merkwürdiger werden konnte, begann Alice die Knöpfe ihrer Bluse zu öffnen und zog sie schließlich komplett aus.
„Was machen Sie da?“ Lennerts Stimme zitterte vor Ungläubigkeit und es wurde nicht besser, als sie auch noch begann den Verschluss ihres schwarzen BHs zu öffnen.
Das Kleidungsstück fiel und sie stand mit freiem Oberkörper vor ihm. Lennert wusste gar nicht, wo er hinsehen sollte. Am liebsten hätte er sich einfach weggedreht und diese Verrückte allein zurückgelassen, doch der Anblick ihrer Brüste ließ ihn zögern. Aber anstatt wieder näher an ihn heranzugehen, drehte sich Alice um und zeigte ihm ihren Rücken.
Lennert erschrak und der Anblick der nackten, aufreizenden Brust war mit einem Mal aus seinem Kopf verschwunden. Über den gesamten Rücken der Frau erstreckte sich eine schwarze Tätowierung in Form eines Kreuzes. Und von der Schulter aus wand sich eine ebenfalls schwarze Schlange darum.
„Schön, nicht wahr?“, fragte die Frau und kicherte in sich hinein.
Lennert antwortete nicht. Noch immer betrachtete er das abstrakte Bild, dass man in ihre Haut gestochen hatte. Es sah grob und unbeholfen aus, so als hätte der Tätowierer nicht das entsprechende Werkzeug benutzt. Vom fehlenden Können ganz zu schweigen.
„Es hat weh getan. Dieses Bild.“
„Ja, das glaub ich Ihnen, aber ziehen Sie sich bitte wieder an.“
„Schauen Sie mal zur Seite.“
Alice deutete in Richtung des Baumes und als Lennert ihrer Aufforderung nachkam, sah er ein Kindergesicht, dass ihn lachend anstrahlte. Es war das Gesicht eines Kindes, das sich hinter dem dicken Baumstamm versteckte und als es erkannte, dass Lennert es sah, verschwand es wieder mit einem hellen Lachen.
„Das ist Aurelie. Haben Sie ihre Augen gesehen.“
„Was? Nein“, stammelte er.
„Sie ist meine Tochter.“
„War es das Mädchen, das sie eben in der Toilette gesehen haben?“
Alice lachte. „Ja. Genau.“
Lennert zog seine Stirn kraus. „Aber ich verstehe nicht...“
„Komm mal her meine Kleine“, rief Alice und sofort kam das Kind wieder hinter dem Baum hervor.
„Aber Papa, dann finden mich meine Schwestern.“
„Ihr könnt gleich Verstecken weiter spielen. Zeig dem netten Mann hier erst mal deine Augen.“
„Na gut.“ Das kleine Mädchen ging auf Lennert zu und sah ihn von unten herauf an. Ihre Augen funkelten in einem hellen Grün und einem hellen Blau.
„Das...das ist...“, stotterte der Uniformierte.
„Ja genau. Die Augen bleiben in der Familie. Es ist etwas besonderes, nicht wahr Kumpel.“
„Was? Was sagen Sie?“
„Kumpel. So hat Sie doch Ihr Großvater immer genannt, oder?“
„Aber woher...“
Alice beugte sich zu dem Mädchen herunter und nahm sie fest in ihre Arme.
„Du kannst wieder spielen geh....“ Aber bevor Alice den Satz vollenden konnte, wurde sie von einer anderen Stimme übertönt.
„Wir haben dich!“ Zwei weitere Mädchen kamen herangelaufen. Eines von ihnen, das anscheinend gleichaltrige, hatte die selben, bunten Augen.
Aurelie lachte auf, „Nein! Noch nicht!“, und rannte los. Die anderen folgten ihr und nach einem kurzen Augenblick, erfüllt von hellem Kinderlachen, waren Lennert und die Frau wieder alleine.

„Ihr Großvater nannte jeden Kumpel. Auch mich.“
„Sie können meinen Großvater gar nicht gekannt haben. Er ist schon lange tot.“
Alice Augen leuchteten auf und fixierten Lennert.
„Interessant. Wie fand er den Tod, wenn ich fragen darf?“
„Das geht Sie gar nichts an!“, gab Lennert scharf zurück, dem das ganze abstrakte Schauspiel, das sich vor seinen Augen darbot, langsam aber sicher an den Rand des Wahnsinns brachte.
„Schade eigentlich. Aber egal. Was mich vielmehr interessiert ist, ob sie der Letzte sind?“
„Der Letzte von was?“
„Der letzte Lennert? Aber es muss so sein, sonst hätte ich nicht hierher gekonnt!“
Er strich sich seine Uniform glatt und bemühte sich um Haltung.
„Mir reicht es! Wissen Sie was? Bleiben Sie von mir aus so lange hier drin, wie sie wollen. Ich gehe jetzt da rüber, lasse die Leute aus ihren Zellen und schließe alles ab. Wenn Sie dann noch hier drin sind, geht mich das nichts an. Sie sind ja total durchgeknallt!“
Ohne die Frau anzublicken drehte Lennert sich um und marschierte mit einem großen Kloß im Hals auf den Eingang zum Nordtrakt zu. Im Stillen flehte er, dass diese Verrückte ihm nicht folgte und das er so schnell wie möglich diesen ganzen albtraumhaften Tag hinter sich bringen konnte, aber als er nur noch wenige Meter von der rettenden Tür entfernt war, tauchte aus einem Schatten die Gestalt eines Kindes auf. Es war Aurelie, die sich mit ausgebreiteten Armen vor ihn stellte und den Weg abschnitt.
„Papa...Großpapa“, rief sie lachend und schlang ihre kurzen Arme um Lennerts Beine.
„Was zum...?“
„Du darfst nicht einfach gehen“, forderte das Mädchen mit trotziger Stimme.
„Papa sagt, dass du bei ihm bleiben musst. Ihr habt noch was zu klären.“
Aurelie stemmte ihre Hände in die Hüften und machte ein ernstes Gesicht.
„Erwachsenensache, sagt er.“
„Ich weiß nicht was du meinst, Kleines! Und jetzt lass mich in Ruhe!“
Lennert konnte seine Stimme nicht mehr kontrollieren und er war immer lauter geworden. So laut, dass das Kind erschrocken zurückwich und seine Mundwinkel leicht bebten.
„Schreist du mich an?“ Eine Träne lief ihr aus dem linken, blauen Auge.
„Muss ich ja wohl!“, schrie Lennert jetzt tatsächlich mit voller Absicht, „wenn du sonst nicht verschwindest!“
Aurelie kam wie aus heiterem Himmel auf Lennert zugerannt, der so überrascht war, dass er dem Tritt des Mädchens nicht ausweichen konnte. Aber als ihr Fuß sein Schienbein traf, da spürte er nichts.
„Du darfst mich nicht anschreien!“, zeterte das Mädchen und begann nun mit ihren kleinen Händen nach dem großen Mann zu schlagen, aber auch davon bekam Lennert nichts mit. Er sah ihre Bewegungen und er sah, wie sie auf ihn einschlug, aber den Schlag selbst konnte er nicht spüren und als er versuchte das Mädchen von sich zu drücken, da glitt seine Hand einfach durch sie hindurch.
Mit einem Mal begann es in Lennerts Schädel laut zu pochen und er spürte, wie selbst sein Magen gegen die gesamte Situation rebellierte.
„Oh, mein Gott“, stammelte er und verlor fast das Gleichgewicht.
„Sie sind tot, Lennert. Alle sind sie tot. Sie sind verbrannt. Von mir aus kannst du sie Geister nennen. Körperlos.“
Lennerts Augen suchten nach Halt, aber sie stoben nur unkontrolliert in seinen Höhlen von links nach rechts und als ihn der erste Schlag der Frau traf, da wusste er, dass sie nicht wie die Kinder war. Die Wucht des Aufpralls ließ ihn taumeln und für einen Moment verschwamm alles um ihn herum zu einer grauen Masse.
„Weißt du wie es ist, wenn es kalt in einem wird?“
Ein zweiter Schlag traf ihn mitten im Gesicht.
„Weißt du wie es ist, wenn das ganze Leben von jetzt auf gleich einen schlechten Traum gleicht?“
Lennert zog die Arme hoch, doch die Frau, die viel kleiner war als er, hatte mehr Kraft, als er ihr zugetraut hätte und so riss ihn der dritte Schlag zu Boden.
„Weißt du wie es ist, wenn Schmerzen unerträglich werden?“
Der dumpfe Klang des Aufpralls vibrierte durch seinen ganzen Körper.
„Und in dem Staub, in dem du da gerade liegst, haben sie die Toten hier im Gefängnis vergraben. Und nun wirst auch du darin liegen bleiben. Vielleicht liegst du ja direkt über mir.“
Lennert war nicht mehr länger ein vernunftbegabtes Wesen, er war vielmehr ein Tier und so regierte alles in ihm aus einem Instinkt heraus, den er noch nie kennen gelernt hatte. Er sprang auf und die ruckvolle Bewegung riss den Staub mit in die Höhe in dem sich die Sonne spiegelte, so dass sein Körper inmitten einer glitzernden Wolke zum Stehen kam. Ohne nachzudenken rannte er auf die Tür zu, die zur Küche führte. Vor ihm baute sich wieder die kleine Gestalt des Kindes auf, doch Lennert rannte einfach durch sie hindurch, überquerte die Schwelle und schob die massive Tür ins Schloss. Es klickte und er stand inmitten eines dunklen Ganges. Vor seinen Augen tanzten gelbe Flecken und als er hörte, wie ein Schlüssel in das Schloss gesteckt wurde, wartete er nicht darauf, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnten, sondern stolperte fast blind vorwärts, so als wäre der Teufel selbst hinter ihm her.

„Ich will dir jetzt mal etwas erklären“, hallte die Frauenstimme durch die Dunkelheit, während Lennert mit rasselndem Atem nach einem Versteck in der Küche suchte.
„Du kommst hier nicht mehr raus. Ich habe einfach zu lange darauf gewartet. Also warum ersparst du dir diese Rennerei nicht und kommst direkt zu mir?“
Was wollte diese Verrückte bloß von ihm? Wahrscheinlich hatte sie sich in die Besuchergruppe eingeschlichen, um ihm ans Leder zu gehen, aber Lennert konnte sich einfach nicht erklären, was der Grund dafür war.

Seine Augen hatten sich langsam an das Zwielicht gewöhnt und nun suchte er verzweifelt nach einem Ausgang. Wie konnte es überhaupt sein, dass diese Frau sich in dem Gefängnis besser auskannte als er und warum schien sie Dinge zu wissen, über die man eigentlich nur im Verborgenen munkelte?
„Opa!“ Aurelies glockenhelle Stimme wurde metallisch von den vielen Töpfen und Blechschränken zurückgeworfen.
„Spielst du jetzt mit uns Verstecken? Papa sagt, dass wir dich suchen sollen!“
Ein Scheppern war zu hören, als einer der großen Töpfe herunterfiel und gleichzeitig Unmengen von Staub aufwirbelte.
„Papa sagt immer, man muss die Dinge überblicken, wenn man alles sehen möchte“, lachte das Kind.
Lennert hob vorsichtig seinen Kopf und riskierte einen Blick über die Kante des Tisches hinweg, hinter dem er sich versteckte. Das kleine Mädchen in dem geblümten Nachthemd hatte sich in der Mitte des großen Raumes auf die Anrichte gestellt und drehte sich nun wie einen Ballerina auf den Zehenspitzen. Schnell verkroch sich Lennert wieder in seinem Versteck und versuchte nicht zu husten, als ihm der alte Staub im Hals kitzelte. Er musste sich etwas einfallen lassen. Die anderen Kinder waren bestimmt auch nicht weit weg und die Frau selbst....
Den Gedanken brachte er nicht zu Ende, denn das Bild des geisterhaften Kindes von vorhin drängte sich ihm wieder auf. Das alles durfte und konnte nicht sein. Lennert fühlte sich wie in eine Geistergeschichte versetzt und er hatte nie an solche Dinge geglaubt. Mit aller Kraft schüttelte er diese Vorstellung wieder ab und versuchte sich darauf zu konzentrieren, wie er entkommen konnte. Sein Blick fiel auf den Schlüsselbund, der an seinem Gürtel hing. Diese Frau hatte zwar den Generalschlüssel, aber er hatte noch die alten, originalen Schlüssel. Er musste irgendwohin, wo sie ihn nicht finden konnte.
Lennert dachte nach und jedes Mal, wenn er auch nur ein noch so leises Geräusch hörte, schlug ihm das Herz bis zum Hals. Am Westende der Küche befand sich eine Tür, die zu einem kleinen Treppenhaus führte und an dessen Ende befand sich der Eingang zu den Isolierzellen. Die anderen Teile im Keller des Gefängnisses waren versperrt und für Besucher nicht zugänglich. Vielleicht fand er da einen Ausweg, denn dort konnte sich die Frau auf gar keinen Fall auskennen.
Auf allen Vieren kroch Lennert um den Tisch herum und versuchte so leise wie möglich zu sein. Seine Knie und Hände hinterließen Spuren im Staub und kurz drängte sich ihm der Vergleich eines Strandes auf, wo seichte Spuren von den brandenden Wellen weggespült wurden. Mit diesem Bild vor Augen ging sein Atem etwas ruhiger und er spürte wieder einen Funken Hoffnung in sich, der ihm suggerierte heil aus dieser Sache herauszukommen und das sich am nächsten Tag alles nur als ein böser Traum offenbarte.

Die Angst lag schwer auf ihm und so drückte er sich immer tiefer auf den Boden, bis seine Nase eine weitere Spur auf dem grauen Boden hinterließ. Die rettende Tür kam immer näher und ihre Umrisse schälten sich immer deutlicher aus den Schatten des Dämmerlichts heraus. Direkt neben ihm mündete an der Decke einer der Küchenabzüge und der zarte Lichtkegel der dort hindurchfiel, ließ zwei große, runde Augen neben ihm aufblitzen.
Lennert stieß einen hellen Schrei aus, der das Lachen des Mädchens überdeckte.
„Ich hab ihn Papa“, schrie das Kind, sprang auf und winkte in die entgegengesetzte Richtung. Kurz darauf hörte Lennert leichte, fast flinke Schritte, die schnell näher kamen. Nervös fingerte er an dem Schlüsselbund, während er sich mühsam aufrappelte und blindlings nach der Türklinke griff. Die Panik in ihm schwoll wie der langsame Donner eines weit entfernten Gewitters an, denn noch nie hatte er einen dieser Schlüssel benutzt. Die metallischen, stabähnlichen Gegenstände glitten ihm immer wieder aus den Fingern und es schien ihm eine Ewigkeit zu dauern, bis der erste Schlüssel im Schloss steckte.
Er drehte ihn und hielt die Luft an. Der Staub kratzte im Hals und in der Nase und unter einem rasselnden, trockenen Husten schwang die Tür schließlich geräuschvoll auf.
Die Schritte wurden nun noch schneller und Lennert zwang sich selbst nicht in ihre Richtung zu blicken. Er schlüpfte durch den offenstehenden Spalt und warf sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Rückseite der Tür. Der dumpfe Knall, der durch das dunkle Treppenhaus vor ihm schallte, ließ ihn fast die Besinnung verlieren. Hinter ihm hörte er einen wüsten Faustschlag, der klang, als befände sich die andere Person viele Meter hinter ihm. Lennert wusste, dass er keine Zeit verlieren durfte und so hastete er die Stufen vor ihm nach unten und hoffte, dass der Keller ihm ein besseres Versteck bieten würde.
Aber als er die letzten beiden Stufen mit einem ungewollten großen Schritt zusammen hinter sich brachte und er dabei fast das Gleichgewicht verlor, glaubte Lennert, dass der Anblick vor ihm bereits das Ende seiner kurzen Flucht bedeuten würde. Ein langer Gang erstreckte sich etwa fünfzig Meter geradeaus und die nächste Tür war erst an seinem Ende zu erkennen. Das Erschreckende daran war, das dieser eine Gang durch mehrere, verschlossene Gittertüren getrennt wurde. Zitternd hielt er den riesigen Schlüsselbund in der Hand und blickte starr den Weg vor ihm hinunter. Auch im Keller gab es ein Minimum an Licht, das durch kleine Seitenschächte an den Rändern der Decke fiel. Er konnte gerade genug sehen, um sich die dunklen Silhouetten, die überall auszumachen waren, als das vorzustellen, was sie waren. Betonwände, Gitter und Kabelstränge. Sonst nichts.
Am oberen Ende der Treppe öffnete sich in diesem Augenblick eine Tür.

Lennert schob den ersten Schlüssel ins Schloss. Nichts rührte sich. Derweilen hatte Alice die ersten zwei Stufen abwärts genommen.
Der Bund klapperte und der zweite Schlüssel schob sich hastig in die dafür vorgesehene Öffnung. Es klackte. Lennert konnte sein Glück kaum fassen, als die Tür sich hinter ihm wieder schloss und er die wenigen Meter zum nächsten Hindernis in drei großen Schritten hinter sich brachte. Seine Verfolgerin betrat gerade den zweiten Teil der Treppe. Sie ließ sich Zeit, so als wüsste sie, dass es für den Gejagten keinen Ausweg gab.
Erneut wählte Lennert seinen ersten Schlüssel nach einem reinen Bauchgefühl aus. Die Möglichkeit, dass es der richtige war, wurde mit den bereits verwendeten Schlüsseln immer größer, wenn auch gering. Aber es war ein gutes Gefühl, dass diese Tatsache vermittelte.
„Kumpel, Kumpel. Eins muss man deinem Großvater lassen. Er hatte mehr Schneid als du!“
Alice Stimme war dunkler geworden, aber Lennert bemerkte es gar nicht. Er hatte viel zu sehr damit zu kämpfen, dass seine vor Angst zitternden Finger sich kontrolliert um die rettenden Schlüssel schlossen, von denen mittlerweile bereits der zweite nicht passte. Schweißtropfen liefen über seine Stirn und sammelte sich in den buschigen Augenbrauen, bevor sie ihm brennend ins Auge selber rannen. Mit dem Ärmel seiner Uniform versuchte er sich den Schweiß wegzuwischen, doch er schwitzte jetzt so stark, dass jedem entfernten Tropfen sofort ein neuer folgte.
Keuchend drehte er sich um und sah den zierlichen, halbnackten Körper der jungen Frau direkt vor dem ersten Gittertor stehen. Sie zückte fast spielerisch den Generalschlüssel und öffnete das Schloss, aber auch das Lennerts gab den Weg nun frei. Alice ließ die erste Tür hinter sich; Lennert die zweite. Die beiden standen sich nun gegenüber und sahen sich an. Alice Augen funkelten, die Lennerts wirkten eher müde.
„Ich habe einen möglichen Schlüssel,“ sie warf einen Blick auf den großen eisernen Ring in seiner Hand, „du noch ungefähr sechs mögliche. Das könnte interessant werden“, lachte Alice in einer fast maskulinen Stimme.
Lennert glaubte nicht länger, dass es sich um einen Traum handelte, denn dann wäre er längst aufgewacht. Es musste sich vielmehr um ein psychologisches Experiment handeln oder irgendetwas anderes, dass irgendwelche Messungen vornahm. Er suchte nach allen möglichen Erklärungen für alles was ihm in den letzten Minuten widerfahren war, doch als hinter ihm zum wiederholten Mal Aurelie auftauchte und in nur aus diesen bekannten, großen Kinderaugen anstarrte, verflogen alle Ausreden und Lennert wähnte sich wieder in einem nicht enden wollenden Albtraum.
Alice steckte den Generalschlüssel ins Schloss und grinste. Lennert musterte die sechs übriggebliebenen Möglichkeiten und wählte einen etwas gekrümmt aussehenden Schlüssel aus, an dem der Rost sich bereits zu schaffen gemacht hatte. Er rannte zum letzten Tor, führte ihn ein, drehte ihn und wartete auf die ausbleibende Reaktion. Er ließ sich zwar drehen, aber die Tür sprang nicht auf. Alice jedoch war nun bei ihm. Nur wenige Schritte entfernt und ihre Zähne blitzten gefährlich auf. Sie machte auf Lennert den Eindruck eines Raubtiers, das nach kurzer Jagt seine Beute in die Enge getrieben hatte und sich darauf freute den entscheidenden Schlag auszuführen.
„Papa hat dich. Papa hat dich“, krächzte Aurelies Kinderstimme, als Lennert die Augen schloss und noch einmal darauf hoffte endlich aufzuwachen.
Als es klickte, glaubte er das elektronische Summen seines Weckers zu hören und in ihm festigte sich der Gedanke, dass jeden Augenblick eine krächzende Stimme aus dem Radiowecker ertönte, welche die Morgennachrichten ansagte. So wie immer, wenn er aus dem Schlaf gerissen wurde. Um seine Mundwinkel spielte schon ein leichtes Lächeln, bis er begriff, dass die Einbildung ihm einen allerletzten Streich gespielt hatte. Kein Radiowecker. Keine Nachrichten. Aber etwas hatte geklickt und als Alice direkt vor ihm stand, da begriff Lennert woher das Geräusch gekommen war. Die Chancen hatten eins zu sechs gestanden und das Glück war schließlich einmal mehr auf seiner Seite gewesen. Der Schlüssel war krumm und angerostet und das alte Schloss hatte dem wahrscheinlich in nichts nachgestanden, deshalb hatte es sich erst jetzt aus seiner Verankerung gelöst. Wie beflügelt drehte sich Lennert auf seinem Absatz herum und stürmte durch die offene Tür, deren Scharniere sich nur widerwillig bewegten. Fast hätte ihn der unerwartete Widerstand zu Boden geworfen, doch er hatte sich mit so viel Kraft dagegen geworfen, dass es ihm gelang sein Gleichgewicht zu halten.
Alice reagierte verzögert, denn damit hatte sie nicht gerechnet. Als sie einen Satz nach vorne machte, um ihre Beute endlich zu erlegen, war Lennert schon aus ihrer Reichweite und drückte die Tür wieder zurück ins Schloss. Diesmal sah er eine Chance, die er vorher nicht gehabt hatte. Und er wunderte sich selbst über die Klarheit seines Verstandes. Die letzte Tür war anders als die vorherigen, denn die Gitterstäbe lagen um einiges enger beieinander. So dicht, dass kein Arm, bzw. keine Hand durch die schmalen Lücken passte. Er nahm ein letztes Mal den Schlüssel und steckte ihn von seiner Seite aus in das Schloss, so dass Alice ihren nicht mehr verwenden konnte. Lennert lächelte in sich hinein und machte ein paar Schritte rückwärts, wobei er die Frau mit seinen bunten Augen anschaute.
„Nein!“, schrie Alice und diesmal hatte ihre Stimme alles weibliche verloren.
„Alice? Nicht wahr? Das war doch Ihr Name? Was wollen Sie von mir.“ Lennert klang merklich gefasster.
„Ich bin nicht Alice!“
„Was reden Sie da. So hat Ihr Freund Sie doch genannt?“
„Du begreifst gar nichts, oder?“ Sie rüttelte mit ganzer Kraft an den Gitterstäben.
„Ich bin Jacques, Lennert. Na? Sagt Ihnen der Name etwas?“
„Gar nichts und es ist mir jetzt auch egal. Sie sind verrückt. Das ist alles was ich weiß und ich glaube, dass das Ganze hier nur ein böser Streich meiner Fantasie ist.“
Beide lachten gleichzeitig.
„Mir doch egal was du glaubst. Du weißt nicht was glauben ist. Der Glaube war es, der mir das hier ermöglichte. Ich glaubte so fest, dass ich wiederkommen konnte. Und als diese junge Frau hier“, Alice deutete auf sich selbst, „hier ins Gefängnis kam, konnte ich mein Glück kaum fassen. Die Frau war und ist schwach, Lennert. Kein Glaube. Keine Liebe. Nichts. Ihr Freund. Pah!“ Alice spuckte verächtlich aus.
„Willst du mal die Wahrheit über die beiden hören. Manchmal versteckt sich nämlich mehr hinter etwas als man glaubt.
Alice besteht nur aus Lügen. Das faszinierende dabei ist aber, dass ihr Freund um keinen Deut besser ist. Sie hat keine Arbeit, gibt aber jeden Morgen vor aus dem Haus zu gehen. Weißt du, was sie wirklich macht? Man kann es riechen, wenn man nahe bei ihr ist und näher als ich kann man ihr gar nicht sein!“ Alice lachte hysterisch, wobei ihr langes Haar leichte, kreisende Bewegungen beschrieb.
„Sie machts für Geld. Mit jedem! Und ihr Körper ist wie ein einziges Geschwür. Sie trägt Krankheiten in sich, Lennert. Krankheiten, die sie an jeden ihrer Freier weitergibt. Und ihr Freund hat es auch. Und das tolle dabei ist, dass er es verdient hat. Während sie in allen möglichen Betten liegt, sitzt er in seinem kleinen Büro und guckt sich Bilder von kleinen Jungen an. Beide werden sterben, Lennert. Und da ist kein Glaube, oder keine Hoffnung, oder etwas anderes das sie erretten könnte. Kein Leben nach dem Tod. Es gibt viele Möglichkeiten nach dem Ableben noch zu existieren. Glaube, Wut, Liebe. Und jedes Gefühl bringt einen auf eine andere Ebene. Glaub mir Lennert. Ich habe es gesehen. Du solltest nicht mit Wut im Bauch sterben. Es wird dir nicht gefallen. Stirbst du mit Liebe im Herzen ist es nach dem Ende fast so bunt und kitschig wie in vielen Romanen. Der Glaube an Gott bringt dich auch zu ihm. Was er dir dann gibt, steht auch nur ihm zu. Da kann ich dir leider nichts erzählen. Aber was ich weiß ist, was passiert, wenn du alles in dir trägst. Dann steht es dir frei zu wählen. Und ich habe gewählt. Ich wollte mir zurückholen was mir gehört, Lennert. Mein Leben, dass dein Großvater mir genommen hat. Ich will meine Kinder wieder glücklich sehen. Sieh nur, wie sie wieder lachen und spielen, weil sie wissen, dass bald Ruhe einkehrt.“
Lennert blickte in die Richtung in die Alice deutete und sah drei kleine Mädchen, die mit schüchternen Augen hinter ihm standen. Aber alle drei trugen ein Lächeln auf ihren Lippen.
„Wenn das Besondere nur noch meinen Kindern gehört, sind sie frei. Das war der Deal, den ich eingegangen bin. Und das Besondere liegt in der Familie, Lennert. Weißt du was ich meine?“
Aurelie löste sich von ihren Geschwistern und tappste wie ein junges, noch etwas ungeschicktes Küken an Lennert vorbei. Sie hielt direkt auf die geschlossene Tür zu. Ohne die Fähigkeit sich zu rühren, betrachtete er, was nun vor sich ging. Aurelie griff nach dem Schlüssel, aber ihre Hand glitt immer wieder durch den Gegenstand hindurch, bis sie ihn endlich zu packen bekam. Ihre Augen strahlten und dann war die Tür offen und die Kinder verschwanden.
„Ich bin kein schlechter Mensch, Lennert, aber leider muss ich es tun. Deshalb habe ich mir auch diese Frau ausgesucht. Es schadet keinem, wenn ihr was zustößt. Im Gegenteil. Man sollte sie wegsperren. Und genau das ist es, was ich auch tun werde. Die Türen oben sind jetzt von innen verriegelt und wenn sie kommen, um dich, oder sie zu suchen, dann werden sie, nachdem sie festgestellt haben, dass es nicht möglich ist, dass hier unten jemand sein kann, hier gar nicht suchen.“
Alice schloss die Tür hinter sich.
„Und hören wird dich hier auch keiner. Im Grunde ist es bereits vorbei. Nur lass ich dir die Wahl...“
Mitten im Satz drehte sich Alice um und trat gegen den immer noch im Schloss steckenden Schlüssel. Mit einem lauten Knacken brach er durch.
„Du wirst hier nicht mehr rauskommen, aber erinnerst du dich, wie Alice, oder besser gesagt, schon ein Teil von mir, dir am Anfang von dem elektrischen Stuhl berichtet hat? Es gibt ihn und er funktioniert auch noch. Du musst einfach nur dort hinten durch die große, hölzerne Tür. Langsam oder schnell, beziehungsweise, schneller sterben, Lennert? Deine Entscheidung!“
Alice drehte sich um und Lennert konnte noch einmal einen Blick auf das große, kreuzförmige Tattoo auf ihrem Rücken werfen. Die Schlange, die sich darum wickelte schien ihn anzuzischen. Plötzlich verschwand das Tattoo und die Frau sackte zu Boden. Mühevoll entrang sich ein „wo bin ich“ ihrer Kehle, aber dann bleib sie bewusstlos und ohne eine weitere Regung liegen. Nur ihr nackter Brustkorb hob und senkte sich im Rhythmus ihres Atems.
Lennert rüttelte an der Tür, trat dagegen und zog mit aller Kraft, aber nichts bewegte sich. Und als er begann zu schreien, warfen die kahlen Wände seine Stimme fast augenblicklich zu ihm zurück.
„Du bist ein netter Mensch?“, schrie er fragend und mit höhnischer Stimme. „Warum tust du dann so was?“
Wasser tropfte platschend von der Decke und innerhalb der Gemäuer war das Knarren alter Leitungen zu hören.
Lennerts Kopf schmerzte und die Aussichtslosigkeit seiner Situation überstieg seinen Verstand. Er drehte sich um und sah die hölzerne Tür, auf welche die Kabelstränge an der Decke zuliefen und bei diesem Anblick überkam ihn eine innere Kälte, die alles in ihm zur Erstarrung brachte.
„Ja“, flüsterte er. „Ich weiß wie es ist, wenn einem kalt wird.“


Jay Jay

„Hey! Jay Jay! Komm mal hier rüber. Ich glaub, wir haben ein Problem!“
Die Stimme des Mannes ging in dem Tosen, welches die Insassen in ihren Zellen verbreiteten, unter. Männer rüttelten in allen Etagen an den Gittern, die sie einschlossen und schlugen mit blechernen Tellern und Tassen dagegen. Der Klangteppich im hohen Südtrakt war eine Mischung aus einem gigantischen Wasserfall und einem hereinbrechenden Unwetter.
„Wenn ihr nicht alle sofort still seid, ergeht es euch genauso!“
Einer der Wächter schmetterte mit grober Stimme gegen den Radau an und augenblicklich verbreitete sich wellenförmig eine Stille, die in Anbetracht der Situation schon fast grotesk wirkte.
Durch die Oberlichter fiel helles Tageslicht in das Innere des Gefängnis und spiegelte sich auf den frisch gesäuberten Wänden wieder. Dennoch blieb es merkwürdig dunkel in dem Gebäude, so als befände es sich innerhalb einer ewigen Dämmerung.
„Jay Jay! Jetzt komm mal hier rüber!“
„Ist ja gut. Ist ja gut, Kumpel. Was ist denn los?“
Der junge Wärter eilte an den unteren Zellen auf eine Gruppe Männer zu, die sich im Halbkreis um etwas versammelt hatten, dass er noch nicht erkennen konnte. Die Augen der Insassen folgten seinen Bewegung mit ärgerlichen und anschuldigenden Blicken.
„Was ist denn nun?“ Er drängelte sich zwischen die anderen Wärter, die sich in ihren braunen Uniformen kaum von den Gefangenen unterschieden und warf einen neugierigen Blick auf den Boden. Ein Mann lag dort bewegungslos und aus seinem Ohr floss ein dunkles Rinnsal Blut.
„Ich glaub, wir haben wohl ein bisschen zu fest zugelangt.“
„Jepp. Das würd ich auch mal so sagen.“
„Und jetzt?“ Alle fünf Männer richteten ihre Augen fragend auf Jay Jay.
„Wieso fragt ihr immer mich? Vor allem wisst ihr doch genau, was ich dazu sage. Schnappt euch den Mistkerl und verbuddelt ihn draußen unter dem Baum. Fragt ja sowieso keiner mehr nach ihm.“
Einer von den Männer beugte sich ohne zögern herab und packte den toten Gefangenen an den Füßen. „Wo sind die Schaufeln?“
„Da wo sie immer sind Kumpel. Und jetzt lass mich in Ruhe. Ich hab noch was zu erledigen.“
„Musst du wieder zu diesem Jacques, oder wie der heißt. Mann, was hast du bloß mit dem?“
Jay Jay´s Augen funkelten bedrohlich. „Das geht dich überhaupt nichts an und jetzt seht zu, dass ihr diesen Haufen Scheiße hier wegschafft und holt euch so nen Pisser aus den Zellen, der das Blut wegwischt.“
Mit diesen Worten drehte sich Jay Jay um und eilte die eiserne Treppe an der Seite des Traktes hinauf zur dritten Ebene, wo er direkt auf die vierte Zelle zusteuerte und dort mit einem spöttischen Lächeln inne hielt.
„Hallo Kumpel!“
Jacques saß auf einer einfachen Pritsche, die das einzige Möbelstück in seinem drei Quadratmeter großen Raum war und blickte mit starrem Blick auf die trostlose graue Wand.
„Keine Bange. Du brauchst mir nicht zu antworten. Gar nicht nötig. Ich hab ne Kleinigkeit für dich vorbereitet.“
Nun sah Jacques zu ihm herüber. Über seinem linken Augen befand sich einen große, verkrustete Platzwunde und seine Lippen waren an vielen Stellen blutig aufgesprungen.
„Brauchst keine Angst zu haben. Keine Schläge diesmal. Das wird mittlerweile langweilig. Ich hab ne Überraschung für dich. Du bist doch so gläubig. Und da dachte ich mir, es wäre nett, wenn ich dir ab und zu mal eine Freude machen würde.“
Jay Jay griff an seinen Gürtel und zerrte einen riesig anmutenden Schlüsselring hervor. Geduldig suchte er darin herum und steckte schließlich den passenden in das Schloss der Zelle.
„Dann komm mal mit.“
„Warum?“
„Warum?“, äffte Jay Jay den Gefangenen nach. „Ich glaube kaum, dass du hier Fragen zu stellen hast.“
„Warum tust du das?“
„Fragst du mich das wirklich? Du hast meine Kinder verbrannt. Nur weil du mit dem Gedanken nicht klar kamst, dass sie nicht von dir waren, dabei war deine Jüngste ja sogar von dir!“
Die Worte schienen ihn nicht zu treffen.
„Selbst die Erwähnung der Kinder schafft keine Regung. Ich hasse dich schon alleine dafür. Oh, Kumpel. Ich werde dich so lange beharken, bis es mir besser geht. Und glaub mir! Das kann noch eine ganze Weile dauern!“
Jay Jay stürmte förmlich in das Innere der Zelle und griff unsanft nach Jacques Arm. Er riss ihn hoch und zog ihn wie ein Tier hinter sich her.
„Ich war es nicht! Es war ein Unfall!“
„Halts Maul, Kumpel!“
„Mir ist kalt!“
„Was soll das denn jetzt? Glaubst du, ich hol dir ne Decke, oder was?“
Jay Jay schleifte Jacques den kompletten oberen Zellentrakt hinter sich her, bis sie vor einer dunklen Tür standen, die kein Gitter und kein Sichtfenster hatte. Derweil öffnete sich die Tür, die zur Küche führte und ein großer Wagen mit Schüsseln darauf holperte scheppernd drei Etagen unter ihnen hinweg.

„Lass ihn doch in Ruhe“, tönte eine Bassstimme aus einer der Zellen, doch Jay Jay reagierte nicht darauf. Er hatte die paar Schritte mit Jacques im Schlepptau genossen. Und er freute sich darauf, was er fühlen würde, wenn er seinen Plan in der Praxis erleben durfte. Nur noch wenige Minuten und es würde soweit sein. Der Wärter mit den bunten Augen lächelte, denn er spürte, wie der Zorn in ihm wuchs, aber gleichzeitig auch befriedigt wurde. Dieser Mann, den er wie einen Hund mit sich führte, hatte seine Kinder umgebracht. Er hatte das Haus angesteckt, weil er nicht ertragen konnte, dass Melanie neben ihm noch einen anderen Mann hatte. Und nun war die Frau, die er liebte in ein tiefes psychisches Loch gestürzt, aus dem sie wohl nie mehr hinausfinden würde. Sie hatte Jay Jay abgewiesen, ihm zugeschrieen, dass sie ihn nie mehr wieder sehen will. Jacques hatte im Vollrausch alles an Liebe zerstört, was Jay Jay je besessen hatte. Er hatte sich immer vorgestellt, wie er eines Tages mit Melanie in diesem Haus leben würde und wie seine Kinder um ihn herumtanzen würde. Sie hatten die Augen seiner Familie. Sie waren etwas besonderes, genauso wie er. Melanie hätte sich bald von Jacques getrennt, dass glaubte er nicht nur, sondern er wusste es genau und dann wäre auch die Zeit gekommen, sich von seiner Frau zu trennen. Er hielt das Leben mit ihr nicht mehr aus, auch wenn sie ihm einen wunderschönen Sohn geschenkt hatte. Dennoch konnte diese Familie das Loch in seinem Herzen nicht füllen. Und nun würde es für immer ein Loch bleiben.
„Aufmachen!“ Jay Jay klopfte gegen die eiserne Tür und wartete darauf, dass man ihm öffnete. Nach wenigen Sekunden betrat er mit Jacques das Innere und musterte die Umgebung. In der Mitte des fensterlosen Raumes stand ein großer, länglicher Tisch. Davor saß ein älterer Mann mit gesenktem Kopf, dessen weißer Bart ihm fast bis auf die Brust reichte.
„Ich hoffe hier ist alles vorbereitet?“
„Ja. Wenn ich auch nicht weiß, wozu das alles gut sein soll.“
Hinter dem Mann mit dem Bart stand ein weiterer Wächter, der Jay Jay fragend anblickte, aber ihn schien das nicht weiter zu beschäftigen. Stattdessen trat er einen Schritt zur Seite, um Jacques, der gebeugt hinter ihm stand, den Blick auf den vermeidlich normalen Tisch freizumachen. Am Kopf- und Fußende besaß er jeweils zwei lederne Schlaufen, die mit einem Querverschluss doppelt gesichert werden konnten.
„So, mein lieber Jacques. Ich würde dir gerne zwei Freunde von mir vorstellen. Zum einen meinen guten Kumpel José hier,“ Jay Jay deutete auf den Mann mit dem langen Bart, „und zum anderen meinen Kumpel Jack, der ein bisschen auf dich aufpassen wird.
Du musst wissen, dass José ein hervorragender Künstler ist. Er malt für sein Leben gern. Und zwar sticht er Bilder in nackte Haut. Das Problem was wir haben, ist, dass wir ihm aus Sicherheitsgründen nicht das richtige Werkzeug stellen können. Aber da ich dir unbedingt so ein Bild schenken will und zwar ein schönes, großes Kreuz auf deinem Rücken, müssen wir über diese Sache einfach hinwegsehen.“
Jay Jay gab sich große Mühe, bei seiner Ansprache wie ein Moderator zu klingen. Er wollte die Situation vor Jacques und auch vor dem stutzig guckenden Aufseher möglichst theatralisch gestalten.
„Wir müssen dich also festschnallen, weil das wegen der Instrumente leider nicht ganz schmerzfrei wird.“
„Das kannste nicht machen Chef“, meldete sich José, „mit der Farbe und dem Gerät hier, bekommt er ne Blutvergiftung.“
Jay Jay drehte sich mit wütendem Blick dem alten Mann entgegen.
„Ich glaub schon, dass wir das können. Und wenn du das nicht machst, verbringst du deine letzten Jahre in der Einzelzelle. Ich hoffe wir haben uns verstanden?
Zudem hat der gute Jacques das verdient. Er ist doch so unglaublich gläubig.“
Jay Jay ging in die Knie und sah Jacques in die Augen, der sich mit verzerrtem Mund abwand.
„Du kannst den Anblick nicht ertragen? Was? Aber lange musst du das wohl auch nicht mehr. Denk an diese Augen, wenn dir das Kreuz gestochen wird, wenn dich dein Glaube nicht rettet, wenn du tagelang von uns hier bemalt wirst. Es sind meine Augen, die du siehst. Und es sind die Augen meiner Kinder! Nicht deiner! Du hast das Besondere genommen!“
Jay Jay stand wieder auf. Er sah müde aus, so als habe er Tage nicht mehr geschlafen.
„Ich habe sie geliebt. Ich habe sie alle geliebt und jetzt hab ich nichts mehr.“
An den noch jungen Aufseher gerichtet erhob er ein letztes Mal seine Stimme, wobei er merkte, dass ihm das Sprechen immer mehr Kraft kostete.
„Schnall ihn fest und dann holst du ihn jeden Tag für eine halbe Stunde hier hin, bis das Tattoo fertig ist.“
„Jawohl“, antwortete er nur knapp und eingeschüchtert.
Jay Jay ging hinaus und schoss die Tür hinter sich. Er stellte sich an das Geländer und schaute von oben in den Trakt hinab. Die Essensausgabe war gerade beendet und das Klappern der metallenen Teller hallte unter der hohen Decke wieder.
Jay Jay wusste um die Grausamkeit seiner Tat, doch das Loch, dass Jacques Wahnsinn in ihm hinterlassen hatte, wusste er sonst nicht zu füllen. Er erhoffte sich aus dieser Rache die einzige Möglichkeit die Leere zu besiegen.

Während er langsam zu begreifen begann, dass er den Schmerz wahrscheinlich nie ganz überwinden konnte, sondern nur diesen Schrei der Vergeltung, der unaufhörlich in seinem Kopf zu hören war, verstummen lassen konnte, drangen die ersten Schreie an sein Ohr. Er erkannte Jacques Stimme, aber jeder Schrei, egal wie hoch und wie laut er war, brachte ihm keine Befriedigung. Vielleicht, so hoffte er, würde er sie erfahren, wenn das Kreuz beendet war und dieser Mann langsam und qualvoll an dem Gift in seinem Blut, welches das Bild mit sich brachte, verenden würde. Mit den eigenen Händen wollte Jay Jay den Leichnam unter dem großen Baum im Hof vergraben und dann wollte er nur noch vergessen. Noch einmal ging er zurück, öffnete die Tür aber nur einen Spalt, so dass er das gezwungene Gesicht Josés erkennen konnte.
„Und José, mal ihm noch eine schöne Schlange an das Kreuz, damit er auch um seine Sünden weiß!“
Die Tür schloss sich wieder und Jay Jay schlenderte gedankenverloren den Weg an den Zellen vorbei. Hinter ihm wurden die Schreie dumpfer. Er hörte noch, wie Jacques etwas schrie, aber es ergab für ihn keinen wirklichen Sinn.
Der Glaube hilft immer“, konnte er noch hören und irgendetwas davon, dass er eines Tages das Besondere beenden würde, aber wen interessierte schon das Geschrei eines Gefolterten? Jay Jay bestimmt nicht mehr.

 

Stephen King lässt grüßen...

Natürlich ist King noch grausamer, aber sonst ist das schon eine ziemlich gemeine Geschichte. Ich fand die Szene, in der der Wächter verflogt wird zu langatmig, die Sündenhaftigkeit des Besucherpärchen irgendwie gekünstelt und die Geisterkinder gab es auch schon tausend Mal... alles irgendwie nichts neues, aber ich verspürte Kurzweil und war durchgehend gefesselt. King eben.

Trotzdem lässt mich die Sache unbefriedigt zurück: was kann denn der arme Enkel dafür und muss er dran glauben? Gibt es eine ausgleichende Gerechtigkeit, die Gott fördert? Gibt es Erbschuld?

Ich gratuliere Dir jedenfalls zu Deiner Geschichte und danke für die Lesefreude!

 

Hallo Dr. Winter,
ein Vergleich mit Stephen King...ich denke mal...das ist gewiss nichts schlechtes ;)
gut, ich gebe zu. die eigentlichen ideen sind sicherlich nicht die neusten. dennoch habe ich versucht durch den etwas anderen hintergrund der geschichte einen touch zu geben, der sie heraushebt.
die frage, ob es am ende eine gerechtigkeit gibt, möchte ich eigentlich unbeantwortet lassen, da ich in der kg auch nicht von einem gut und böse ausgehe.
aber stimmt schon, wenn du sagst, dass einige stellen zu langatmig geworden sind. die geschichte hat sich während des schreibens entwickelt und uferte förmlich aus.

danke, dass du dir diesen ja etwas längeren text zur brust genommen hast. und natürlich freut es mich, dass sie dir gefallen hat!

einen lieben gruß...
morti

ps: die frage ist auch noch, ob der enkel wirklich ein ende findet? sag ich das so genau ;)

 

Hi morti,

puh, ganz schön lange Geschichte. Ich habe sie in Word kopiert - 27 Seiten. Das Lesen hat sich wirklich gelohnt - die Geschichte ist sehr spannend und mit viel Liebe zum Detail geschrieben.
Manchmal war es mir sogar zu detailreich, was mich persönlich zwar nicht gestört hat, da ich so etwas mag - was aber - auf der anderen Seite schon das Tempo aus der Geschichte genommen hat.
Was die Verfolgungsszene angeht muss ich DrWinter rechtgeben: Sei war etwas zu ausführlich für meinen Geschmack. Sie hat mich außerdem tatsächlich an irgendein King-Buch erinnert, wenn ich jetzt auch nicht mehr sagen könnte, welches das war.
Sehr gut gefallen hat mir, das du die Geschichte aus mehreren Perspektiven erzählt hast. Das fand ich sehr interessant und auch gut gelungen.
Eine Weile hatte ich zwar Schwierigkeiten die vielen Personen auseinanderzuhalten, aber später war das kein Problem mehr.

Ich fand es nicht schlimm, dass der Prot. sich quasi "Nur" am Enkel rächt - er wollte eben irgendeine Art von Rache - und die hat er bekommen. Ich fand es sehr angenehm, dass deine Geschichte nicht nach gut oder böse urteilt, sondern in ihrer Auslegung relativ frei ist.

Sehr gerne gelesen.

Details:

„Währe nett, wenn Sie mal Ihre Gruppe durchzählen, bevor Sie irgendwas irgendwo abschließen.“

Wäre

„Alice“, rief Henris Stimme seine Freundin mit Nachdruck.

"Rief Henris Stimme" finde ich etwas komisch. Als würde seine Stimme von alleine rufen.

Mit diesen Überlegungen nahm die Kälte in ihrem inneren wieder zu.

Inneren (groß)


Er hatte ein ärgerliches Gesicht erwartete, aber sie lächelte, so als freue sie sich ihn zu sehen.

erwartet

„Alice? So hießen sie doch, oder?“

heißen

„Es hat weg getan. Dieses Bild.“

weh, oder?

Er sah ihre Bewegungen und er sah, wie sie auf ihn Einschlug, aber den Schlag selbst konnte er nicht spüren und als er versuchte das Mädchen von sich zu drücken, da glitt seine Hand einfach durch sie hindurch.

einschlug (klein)


Langsam oder schnel, beziehungsweise, schneller sterben, Lennert?

schnell

LG
Bella

 

Hi morti,

ich habe deine sehr lange Kurzgeschichte :D schon vor zwei Tagen gelesen, irgendwann um Mitternacht. Danach war ich zu müde, noch zu antworten.

Du hast sehr intensive Bilder geschaffen, spannend geschrieben.
Für eine KG, im ersten Teil, zu viele genaue Beschreibungen, die, so denke ich nicht unbedingt sein müssen. Doch wirklich gestört hat es mich nicht. ;)
Auch wenn man sich ziemlich schnell denken kann, auf was die Handlung hinausläuft, war ich gespannt, wie du es verpackst. Und das hast du, so finde ich, sehr gut gemacht.
Jede Szene war stimmig, Jacs Wut und Rachegelüste nachvollziehbar.
Obwohl der arme Lennart ja nun wirklich nichts dafür konnte.
Warum hat er sich nicht Jay geschnappt? Im Gefängnis gab es doch sicher genug labile und karakterlose Gestalten, in die Jac hätte schlüpfen können.
Nun wird Jac eine lange Zeit in der Unterwelt verbringen, ohne seinen Frieden zu haben. Irgendwann wird er wiedergeboren, mit Jay, Lennart, seinen Kindern, Alice, Henri und all den Menschen, die mit diesem Horror zu tun hatten.
Mann oh Mann, was für ein Karma. :D

Ich glaube ich werde mal anfangen King-Bücher zu lesen. Kannst du mir ein besonderes gutes empfehlen?
Noch mal, klasse geschrieben, spannend und trotz der Länge kein bisschen langweilig. :thumbsup:

ganz lieben Gruß, coleratio

 

hallo bella und coleratio,
ich habe momentan probelme etwas kurzes zu schreiben. gerade hab ich wieder eine idee, die könnte sich noch umfangreicher gestalten. wer weiß??? vielleicht reichts ja bald für ein buch ;)
es freut mich wirklich, dass die geschichte so gut ankommt (auch wenn etwas zu lang und zu detailreich), nur diese vergleiche mit king...??? soviel hab ich von dem gar nicht gelesen, dass er mich so in art und stil beeinflussen könnte, hmmm, aber ich mein, ein mann, der weltweit anerkannt ist und unmengen von büchern verkauft...was kann an diesem vergleich schlecht sein.

grandios, dass diese ?kg? trotz der länge einige leser gefunden hat. danke an euch beide!!!

einen ganz lieben gruß...
morti

 

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