Taxi
Freitagnachmittag. Vor dem Hauptbahnhof in Berlin fährt ein Taxi in halsbrecherischer Geschwindigkeit ein. Ruckartig bremst der Wagen und ein Mann, der es offensichtlich ziemlich eilig hatte, stürzte aus dem Auto. Hastigen Schrittes und seine Kleider ordnend rannte er fast über den Bahnhofsvorplatz. Der Mann war über vierzig, untersetzt und trug einen altmodischen braunen Cordanzug, der schon bessere Zeiten gesehen hatte. In der Eingangshalle blieb er kurz stehen um sich zu orientieren. Dabei fuhr er sich nervös durch seine grauen Haare, die seltsam lang und strähnig auf seinem Kopf lagen. Verwirrt studierte er die Anfahrtszeiten, dann leuchteten seine Augen auf und er ging großen Schrittes wieder los. Auf der Rolltreppe stürzte er fast, konnte sich aber noch am Aktenkoffer seines Vordermannes festhalten, von dem er einen vernichtenden Blick erntete.
Auf dem Bahnsteig angelangt, kramte er in seinen verbeulten Taschen, holte einen ziemlich zerknitterten Zettel heraus und überprüfte die Anzeige. Leise fluchend stellte er fest, dass er wirklich verdammt spät dran war. Dass würde er mit mindestens 5 Stunden eisigen Schweigens bezahlen müssen. Fast wünschte er sich, er hätte sich dieses mal nicht wieder überreden lassen. Aber nun war es zu spät, und er hob suchend den Kopf. Er lief dreimal den Bahnsteig hoch und runter, ehe er sie fand. Mit verschränkten Armen und blitzenden Augen stand sie neben dem Aufzug. Er trat mit geöffneten Armen auf sie zu, doch sie schaute ihn nur verachtend an und bückte sich nach ihrem Koffer.
„Hallo Sofie, tut mir wirklich leid das ich so spät dran bin, aber ich habe noch gearbeitet und dabei die Zeit völlig vergessen…"
Ein grummeln war die einzige Antwort, die er bekam.
„Nicht doch, lass mich den Koffer tragen, der ist sicher schwer."
Wortlos lies sie den Koffer fallen und trat zurück.
„Weißt du, ich hab doch die Story über die Geiselnahme beim Bankraub in Schwerin bekommen. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie schwer es ist, herauszubekommen was da wirklich passiert ist. Die Polizei schweigt und keiner kann etwas Genaues sagen."
Hilflos plapperte er weiter vor sich hin, während sie durch den Bahnhof Richtung Taxistände liefen. Sofie schaute weiterhin stur geradeaus und sagte kein Wort. Sie hatten kein Glück und mussten auf ein Taxi warten. Unsicher trat der Mann von einer Stelle auf die andere und warf der jungen Frau immer wieder verzweifelte Seitenblicke zu. Ein Taxi fuhr an und sie stiegen ein.
Der Fahrer drehte sich kurz um, musterte seine Fahrgäste und fragte schließlich „Wo darf ick ´se denn hinkutschier`n?"
Der Mann nannte die Adresse und sie fuhren los. Eine Weile herrschte eisiges Schweigen im Wagen. Der Taxifahrer warf den beiden Blicke durch den Rückspiegel zu und runzelte vielsagend die Stirn.
Irgendwann sagte sie „Ich soll dir Grüße von Mama ausrichten".
Er nickte nur. Nachdenklich schaute er aus dem Fenster. Was hatte er nur falsch gemacht? Warum hatte er es nicht mitbekommen, als sich alles begann aufzulösen. Sein ganzes Leben war nur noch ein einziges Chaos, und er versuchte dem zu entfliehen, indem arbeitete, stundenlang.
„Du musst Sofie dieses Wochenende nehmen! Eine Tochter braucht ihren Vater!" hatte sie gesagt. „Du muss endlich lernen, Verantwortung zu übernehmen. Ich habe keine Zeit für sie. Ich fahre doch mit Mark in den Urlaub. Ich will nicht, dass Sofie allein ist. In der Woche kümmert sich ihre Tante um sie, doch für das Wochenende habe ich niemanden gefunden."
„Sie hasst mich. Außerdem ist sie fast 19 Jahre alt, meinst du nicht, dass sie es mal genießt, ihre Ruhe zu haben?"
„Heinz", sagte sie in dem ungeduldigen Ton, den er so gut von ihr kannte. Wenn sie so mit ihm redete, wusste er schon, dass er verloren hatte. Es könnte eine lange erbitterte Schlacht geben, wenn er ihr jetzt widersprach, aber letztenendes bekam sie ihren Willen.
„Wenn du nie versuchst, auf sie einzugehen und ihr das Gefühl zu geben, dass du dich um sie kümmerst, werdet ihr nie ein normales Verhältnis haben."
„Ich versuche doch schon seit Jahren, an sie ranzukommen. Es bringt einfach nichts Amelie."
„Du musst es weiterversuchen. Irgendwann wirst du zu ihr vordringen."
Damit war die Diskussion für sie beendet. Sie hatte ihm noch die Ankunftszeit gesagt und ihm viel Spaß gewünscht.
In dem Taxi war es beklemmend. Das eisige Schweigen und die stickige Luft machten ihm schwer zu schaffen. Mit einem Mal war er sich nicht mehr sicher, ob der Plan, den er für das Wochenende gemacht hatte, auch das Richtige war. Er wusste, dass sie alles schweigend über sich ergehen lassen würde. Und der Artikel, er musste bis Montag fertig werden. Einen zweiseitigen Bericht schreibt man nicht eben so einfach an einem Sonntagabend. Frustriert stellte er fest, dass er der ganzen Situation nicht gewachsen war. Wie immer.
In Berlin an einem Freitagnachmittag mitten in der City nicht in die Rush Hour zu geraten, war praktisch unmöglich. Irgendwo in der Nähe des Brandenburger Tors kamen sie schließlich vollständig zum stehen. Der Taxifahrer trommelte ungeduldig auf dem Lenkrad. Vor ihnen stand ein Bus. Er wünschte sich nichts sehnlicher als einen Kaffee, eine Zigarette und die sichere Geborgenheit seines Büros.
Sofie schaute stur aus dem Fenster.
„Ich hab wirklich tolle Sachen geplant, dieses Wochenende…" begann er.
Keine Reaktion.
„Hab ziemlich lange überlegt, was ich dir so zu bieten habe, aber ich denke ich habe das Richtige gefunden, es wird dir Spaß machen." Er hoffte, dass seine Stimme nicht allzu sehr zitterte. Sie drehte ihren Kopf langsam in seine Richtung und schaute ihn mit leeren Augen an.
„Mir etwas bieten?", fragte sie. „Jetzt willst du mir etwas bieten? Schön, dass dir das jetzt auffällt. Aber wie sagt man immer, besser spät als nie." Sie schaute ihn herausfordernd an.
Er überlegte kurz, wie er jetzt reagieren sollte. Er wusste es nicht.
„Hör zu, ich weiß ich war und bin nicht immer der beste Vater, aber ich…" stammelte er hilflos. Ja, was eigentlich?
„Soll ich dir mal was sagen?" fauchte sie. „Du bist kein guter Vater, du bist miserabel. Schau dich doch mal an. Was bist du nur für eine armselige Kreatur. Du siehst aus als wenn du auf der Straße wohnst, mit deinem speckigen Anzug, völlig ungepflegt. Wann hast du das letzte Mal einen Friseur von innen gesehen?"
In diesem Moment klingelte sein Handy. Hastig wühlte er in seiner Tasche und hätte es dabei fast fallen gelassen. Es war Richard, sein Redakteur. Er machte Druck wegen des Artikels. Jetzt schon. Er ließ alles über sich ergehen. Als er aufgelegt hatte, schaute ihn seine Tochter resigniert an. Sie schüttelte den Kopf. „Lass mich raten, du musst ganz dringend diese Story fertig schreiben. Und? Gibst du mir wieder Geld und schickst mich los? „
Er breitete verzweifelt seine Hände aus. „Was soll ich machen Sofie? Der Job ist hart. Ich bin froh überhaupt einen zu haben. Hab doch wenigsten ein bisschen Verständnis."
„Ich soll Verständnis haben? Mein ganzes Leben lang hast du Verständnis von mir abgefordert. Findest du nicht, es reicht langsam? Aber so war es euch beiden ja schon immer recht. Ihr habt euch gegenseitig den schwarzen Peter zugeschoben. Während Mama jetzt faul am Strand liegt, muss ich mich hier mit dir rumschlagen. Ich habe es satt."
Er wusste, dass dieses Gespräch zu nichts führte. Und schwieg. Auf der Spur neben ihnen ging es im Schneckentempo weiter und ein Auto mit knatterndem Auspuff gesellte sich neben ihnen. Der Taxifahrer fuhr seine Antennen wieder ein. Während des Gesprächs hatte er angestrengt so getan, als würde er nicht zuhören.
Er hatte Kopfschmerzen. Seine Brust schnürte sich zu. Ihm taten sämtliche Glieder weh. Scheiß Tag, dachte er. Es roch merkwürdig in dem Taxi. Irgendwie nach vergorenem Apfelsaft.
„Weißt du, ist schon komisch." fing sie wieder an und schaute dabei abwesend aus dem Fenster. Sie sah traurig aus. „Ich erschrecke vor mir selbst. Du bist mir völlig egal. Ich hasse dich nicht einmal mehr. Ich denke das ist schlimmer. Wenn man nur noch Gleichgültigkeit empfindet."
Er schaute sie an. In ihm brach etwas. Das passiert nicht wirklich. Er spürte wie alles weiter den Bach runter ging. Sie hatte Recht, er war armselig. Er war allein und kam nicht zurecht. Es war paradox, sein Leben lang hatte er geglaubt, er sei ein gestandener Mann. Er hatte schließlich seine Familie ernährt. Aber dass das nicht genug war, wurde ihm klar.
„Ich hab es verbockt." sagte er leise. „Ich hab doch tatsächlich ganz einfach versagt." Sie sah ihn nicht an. „Ich hab auch keine Chance mehr, das wieder gut zu machen, oder?"
Sie schüttelte den Kopf. Seine Brust schmerzte jetzt höllisch. Er war müde. Wann hatte er das letzte Mal richtig ausgeschlafen? Es schien Ewigkeiten her. Die Luft wurde ihm knapp. Schwarze Punkte tanzten vor seinen Augen. War das die Hitze?
„Ich muss mal meine Augen für eine Weile zumachen. Ich bin so müde…" murmelte er.
Was sie daraufhin sagte, würde er nie mehr erfahren. Sein Herz war müde gewesen. Und letztenendes zerbrach es.