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Technisch einwandfrei
Technisch einwandfrei
Sie steht neben der kleinen schlichten Tür, die zu der großen Bühne führt. Mit den zarten aber kräftigen Fingerchen hält sie ihre Geige vorsichtig, aber routiniert und lehnt sich an die Wand. Jetzt spielt ein Junge, nicht übel, aber sie hört die kleinen Unsauberkeiten in seinem Spiel. Ihr Optimismus wächst. Sie fühlt sich wohl in ihrem schönen dunkelroten Kleid, das sie wie eine Dame aussehen lässt. Die junge Haut wurde von der Mutter gepudert und die Haare wurden hochgesteckt. Sie hat es genossen, im Mittelpunkt zu stehen und nun freut sie sich auf ihren Auftritt. Es sei nicht schlimm, hat ihr Geigenlehrer immer wiederholt. Es seien zwar viele Menschen, aber es sei schön, für sie zu spielen und zudem habe sie sehr gute Chancen. Das glauben alle. Und sie glaubt es auch. Mit ihren 11 Jahren spielt sie bestimmt so gut wie eine 15 Jährige. Und auch wenn dies einer der bedeutendsten Wettbewerbe in Europa ist, wird kaum ein Kind so schön spielen wie sie.
Sie wird die Violinsonate in c-Moll von Johann Sebastian Bach spielen. Diese Sonate gefällt ihr besonders. Bachs Musik hat immer etwas leichtes, sie schwebt förmlich über dem Boden.
Plötzlich geht die Tür auf. Sie richtet sich auf und wartet. Aufgeregt ist sie vielleicht ein kleines bisschen, aber sie glaubt ihrem Lehrer. Es wird nicht schlimm sein. Der Junge kommt durch die Tür. Er sieht enttäuscht aus, beinahe zerstört, aber sie weiß, dass sie besser spielen wird. Noch ein paar Sekunden vergehen, dann bekommt sie das Zeichen. Gerade und stolz tritt sie aus der Dunkelheit des Vorraumes hervor auf die große leere Bühne.
Irgendwo in der Ecke steht der Flügel, an dem sie ein recht unbekannter Mann begleitet. Sie hatten bloß einmal zusammen geprobt. Sie spielt auswendig, hat also noch nicht einmal einen Notenständer als Anhaltspunkt. Sie stellt sich in die Mitte, wie vorher besprochen. Unbeholfen wartet sie. Soll sie einfach beginnen, zählt jemand an, wie ihre Lehrer es immer tut? Dann hört sie aus der Ecke ein leises „und eins, zwei, drei, vier“.
Ihre Finger beginnen zu spielen, technisch einwandfrei, aber sie kann sich nicht selber zuhören. Sie schaut ins Publikum, ängstlich und verloren. Ihr eigenes Spiel blendet sie aus, nimmt es nicht wahr. Sie spielt nicht, sondern ihre Finger spielen und sie steht nur daneben und hat Angst, Angst vor dem allein sein.
Plötzlich wissen ihre Finger nicht mehr weiter. Sie stoppt. Wo war sie stehen geblieben? Sie weiß es nicht. Der Pianist schaut sie fragend an. Sie wird immer kleiner, würde am liebsten davonrennen, kann sich aber nicht rühren. Ihr Köper beginnt zu zittern und Tränen steigen in ihre Augen. Sie steht einfach nur dort, weiß nicht was sie tun soll und niemand hilft ihr. Niemand, nicht ihr Vater, nicht ihre Mutter, nicht ihr Lehrer, nicht der Pianist in der Ecke. Alle schauen sie nur an, glotzen sie förmlich an und die Eltern der anderen Teilnehmer scheinen sich zu freuen, dass nun die größte Konkurrentin ausgeschieden ist.
Eine Ewigkeit steht sie dort, verlassen und allein. Schließlich kommt ihr Vater auf die Bühne, legt schützend seinen Arm um sie und verlasst mit ihr die Bühne.
Jetzt kann sie die Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie strömen über ihr Gesicht und verschmieren die Wimperntusche. Fröstelt und schluchzend lässt sie sich von ihrem Vater führen. Sie achtet nicht auf den Weg, den sie zurücklegen, Hauptsache fort von der schrecklichen Einsamkeit. Ihr Vater hat ihr die Geige abgenommen. Es steigt eine Wut in ihr auf. Eine Wut auf die Geige, auf die Musik, auf ihre Finger und auf sie selber. Sie will die Geige zerschmettern, sie will das Geräusch hören, wie sie in tausend kleine Splitter zerspringt. Aber die Geige ist sicher in der Hand des Vaters und sie kann sie nicht erreichen.
Aber sie hat beschlossen, dass sie mit dieser Geige nicht weiterleben wird. Sie will morgen nicht ihr Spiel von heute analysieren, die Fehler erkennen müssen. Es gibt keine falsche und richtige Musik. Mit diesem Leistungsdruck ist es unmöglich, die Musik wirklich zu spüren. Sie musste immer nur üben, seit dem sie denken kann. Andere Kinder spielten auf dem Spielplatz und sie musste üben. Fehler und "falsche Töne" wurden nicht geduldet. Immer mit dem Ticken des Metronoms im Hintergrund verbrachte sie so Stunden in dem kleinen Musikzimmer. Unter diesen Umständen wird sie ihre Geige nicht mehr anrühren.