Was ist neu

Technisch einwandfrei

Mitglied
Beitritt
16.07.2010
Beiträge
5
Zuletzt bearbeitet:

Technisch einwandfrei

Technisch einwandfrei

Sie steht neben der kleinen schlichten Tür, die zu der großen Bühne führt. Mit den zarten aber kräftigen Fingerchen hält sie ihre Geige vorsichtig, aber routiniert und lehnt sich an die Wand. Jetzt spielt ein Junge, nicht übel, aber sie hört die kleinen Unsauberkeiten in seinem Spiel. Ihr Optimismus wächst. Sie fühlt sich wohl in ihrem schönen dunkelroten Kleid, das sie wie eine Dame aussehen lässt. Die junge Haut wurde von der Mutter gepudert und die Haare wurden hochgesteckt. Sie hat es genossen, im Mittelpunkt zu stehen und nun freut sie sich auf ihren Auftritt. Es sei nicht schlimm, hat ihr Geigenlehrer immer wiederholt. Es seien zwar viele Menschen, aber es sei schön, für sie zu spielen und zudem habe sie sehr gute Chancen. Das glauben alle. Und sie glaubt es auch. Mit ihren 11 Jahren spielt sie bestimmt so gut wie eine 15 Jährige. Und auch wenn dies einer der bedeutendsten Wettbewerbe in Europa ist, wird kaum ein Kind so schön spielen wie sie.
Sie wird die Violinsonate in c-Moll von Johann Sebastian Bach spielen. Diese Sonate gefällt ihr besonders. Bachs Musik hat immer etwas leichtes, sie schwebt förmlich über dem Boden.
Plötzlich geht die Tür auf. Sie richtet sich auf und wartet. Aufgeregt ist sie vielleicht ein kleines bisschen, aber sie glaubt ihrem Lehrer. Es wird nicht schlimm sein. Der Junge kommt durch die Tür. Er sieht enttäuscht aus, beinahe zerstört, aber sie weiß, dass sie besser spielen wird. Noch ein paar Sekunden vergehen, dann bekommt sie das Zeichen. Gerade und stolz tritt sie aus der Dunkelheit des Vorraumes hervor auf die große leere Bühne.
Irgendwo in der Ecke steht der Flügel, an dem sie ein recht unbekannter Mann begleitet. Sie hatten bloß einmal zusammen geprobt. Sie spielt auswendig, hat also noch nicht einmal einen Notenständer als Anhaltspunkt. Sie stellt sich in die Mitte, wie vorher besprochen. Unbeholfen wartet sie. Soll sie einfach beginnen, zählt jemand an, wie ihre Lehrer es immer tut? Dann hört sie aus der Ecke ein leises „und eins, zwei, drei, vier“.
Ihre Finger beginnen zu spielen, technisch einwandfrei, aber sie kann sich nicht selber zuhören. Sie schaut ins Publikum, ängstlich und verloren. Ihr eigenes Spiel blendet sie aus, nimmt es nicht wahr. Sie spielt nicht, sondern ihre Finger spielen und sie steht nur daneben und hat Angst, Angst vor dem allein sein.
Plötzlich wissen ihre Finger nicht mehr weiter. Sie stoppt. Wo war sie stehen geblieben? Sie weiß es nicht. Der Pianist schaut sie fragend an. Sie wird immer kleiner, würde am liebsten davonrennen, kann sich aber nicht rühren. Ihr Köper beginnt zu zittern und Tränen steigen in ihre Augen. Sie steht einfach nur dort, weiß nicht was sie tun soll und niemand hilft ihr. Niemand, nicht ihr Vater, nicht ihre Mutter, nicht ihr Lehrer, nicht der Pianist in der Ecke. Alle schauen sie nur an, glotzen sie förmlich an und die Eltern der anderen Teilnehmer scheinen sich zu freuen, dass nun die größte Konkurrentin ausgeschieden ist.
Eine Ewigkeit steht sie dort, verlassen und allein. Schließlich kommt ihr Vater auf die Bühne, legt schützend seinen Arm um sie und verlasst mit ihr die Bühne.
Jetzt kann sie die Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie strömen über ihr Gesicht und verschmieren die Wimperntusche. Fröstelt und schluchzend lässt sie sich von ihrem Vater führen. Sie achtet nicht auf den Weg, den sie zurücklegen, Hauptsache fort von der schrecklichen Einsamkeit. Ihr Vater hat ihr die Geige abgenommen. Es steigt eine Wut in ihr auf. Eine Wut auf die Geige, auf die Musik, auf ihre Finger und auf sie selber. Sie will die Geige zerschmettern, sie will das Geräusch hören, wie sie in tausend kleine Splitter zerspringt. Aber die Geige ist sicher in der Hand des Vaters und sie kann sie nicht erreichen.
Aber sie hat beschlossen, dass sie mit dieser Geige nicht weiterleben wird. Sie will morgen nicht ihr Spiel von heute analysieren, die Fehler erkennen müssen. Es gibt keine falsche und richtige Musik. Mit diesem Leistungsdruck ist es unmöglich, die Musik wirklich zu spüren. Sie musste immer nur üben, seit dem sie denken kann. Andere Kinder spielten auf dem Spielplatz und sie musste üben. Fehler und "falsche Töne" wurden nicht geduldet. Immer mit dem Ticken des Metronoms im Hintergrund verbrachte sie so Stunden in dem kleinen Musikzimmer. Unter diesen Umständen wird sie ihre Geige nicht mehr anrühren.

 

Hallo Sophie,

die Musik hat es dir bei deinen Kurzgeschichten anscheinend angetan ... :)

Ich gehe davon aus, deine Protagonistin wollte nie wirklich Geige spielen, oder sie wollte zunächst, und der Leistungsdruck ist ihr dann zu groß geworden. Ihre Eltern hatten die Absicht, dass sie das Instrument beherrscht, besser als alle anderen, und das war wohl auch der Grund für den Blackout bei dem Auftritt, obwohl sie technisch bestimmt einwandfrei hätte spielen können. Ein Thema, das sich für eine gesellschaftskritische Kurzgeschichte durchaus anbietet.

Und damit bin ich auch gleich beim Titel: "Technisch einwandfrei" erschien mir im wahrsten Sinne des Wortes zunächst als zu "technisch"; im Hinblick auf den Hintergrund passt der Titel in meinen Augen dann aber irgendwie doch ganz gut.

Zur Geschichte selbst: Insbesondere im ersten Absatz war sie mir zu passiv. "Show, don't tell" trifft es ganz gut: Es würde mir weit besser gefallen, wenn du die Story nicht vom Standpunkt des Erzählers aus betrachtest, sondern stattdessen mit Handlung und Dialog füllst.

Ein Beispiel:

Es sei nicht schlimm, hat ihr Geigenlehrer immer wiederholt. Es seien zwar viele Menschen, aber es sei schön, für sie zu spielen und zudem habe sie sehr gute Chancen.
Besser:

"Es ist nicht schlimm", wiederholte ihr Geigenlehrer immer wieder. "Es werden bestimmt zwar viele Menschen da sein, aber es ist doch schön, für sie zu spielen, und aus meiner Sicht hast du sehr gute Chancen!"

Ansonsten konnte ich gut mit deiner dem Leistungsdruck ausgesetzten Protagonistin fühlen.

Ihr eigenes spiel blendet sie aus, nimmt es nicht war.
Spiel / wahr

Hoffe, du kannst mit den Anmerkungen ein bisschen was anfangen. :)

Liebe Grüße
Michael

 

Hallo Sophie

Die Geschichte gefällt mir, sie ist sympathisch zu lesen. Dennoch, der Schluss scheint mir zu wenig Effekt zu haben, etwas das nicht einfach nur abrundet, sondern ein Ah oder Oh erzeugt. Was sie da fühlt, ist korrekt, doch das gewisse Etwas gehörte noch dazu, quasi ein Kontrast zur Melodie von Bach, ein paar Takte Tschaikowski oder so.

Gruss

Anakreon

 

Hallo,

danke für eure Kritik,
Die Idee von Anakreon finde ich sehr gut.
Vielleicht kann sie hören, wie der nächste Tschaikowski spielt.
Ich habe auch lange überlegt, ob sie die Geige vielleicht doch zerstören soll. Schließlich bin ich zu dem Entschluss gekommen, dass sie es nicht machen soll, weil ihr so die Möglichkeit bleibt, später doch wieder zu spielen.
Aber vielleicht passt ein dramatischeres Ende besser. Was haltet ihr davon, wenn sie die Geige auf den Boden schlägt? Dies könnte man in Zeitlupe betrachten. Und im Hintergrund bleibt leise die Tschaikowski-Musik.

viele Grüße,
Sophie

 

Hallo Sophie!

Das ist eine feine Geschichte, ich hab sie gern gelesen. Nur das Ende gefällt mir nicht so gut, wie es mir gefallen könnte, wenn es einen kleinen, kleinen Tusch geben würde.

Dieses: Sie rührt nie wieder eine Geige an, reicht nicht. Und auch das Wort "Leistungsdruck" stört. Da bauschst du auf und stopfst und ich denke, du möchtest mir nahe bringen, dass ihr das alles zu viel wird. Nur habe ich das Gefühl, dass es verpufft.

Vor allem der Absatz hier ists:

Aber sie hat beschlossen, dass sie mit dieser Geige nicht weiterleben wird. Sie will morgen nicht ihr Spiel von heute analysieren, die Fehler erkennen müssen. Es gibt keine falsche und richtige Musik. Mit diesem Leistungsdruck ist es unmöglich, die Musik wirklich zu spüren. Sie musste immer nur üben, seit dem sie denken kann. Andere Kinder spielten auf dem Spielplatz und sie musste üben. Fehler und "falsche Töne" wurden nicht geduldet. Immer mit dem Ticken des Metronoms im Hintergrund verbrachte sie so Stunden in dem kleinen Musikzimmer. Unter diesen Umständen wird sie ihre Geige nicht mehr anrühren.

Da beginnst du schon mit "sie hat beschlossen", und damit ist es ja erledigt ... die Spannung ist weg. Und ihre Aufregung ist nicht mehr spürbar. Und auch der Spielplatz rettets nicht mehr.

Es gibt diese Regel der Kontraste. Wenn du Einsamkeit wiedergeben möchtest, suche die Freundschaft. Durch den Kontrast wirds für den Leser vorstellbar.

Irgendwie so:

Ihr Vater öffnete die Tür und sie setzte sich ins Auto - hinten, denn der Beifahrersitz war für die Geige reserviert.
Durchs Fenster sah sie den Jungen, der vor ihr gespielt hatte. Der Pokal wog schwer in seiner kleinen Hand. Die Mutter lachte und sein Vater knuffte ihn liebevoll in die Schulter.
"Papa?", sagte sie leise. Aber Papa schwieg.

Das wäre Drama am Ende und würde offenlassen, was sie tut. Es würde zeigen, dass der Leistungsdruck sie einsam gemacht hat und dass er von den Eltern ausgeübt wurde.

Natürlich kann sie DANN anfangen zu protestieren, aber das wäre dann eine längere Geschichte, wenn du den Konflikt erzählen möchtest. :)

Bis bald!

yours

 

Hallo Sophie

Die Idee von yours finde ich soweit gut, bei manchen Geschichten ist ein offenes Ende für den Leser anspruchsvoller als eine erwartete oder krass gegensätzliche Lösung. Dennoch befriedigt es mich noch nicht ganz, da die gezeigte Harmonie im Einklang mit der Musik von Bach, mit einer musikorientierten, besonderen Endung schliessen könnte.

Ich greife ungern allzu stark in die Texte und die Vorstellungen anderer Autoren ein, da ich mich als Gast wahrnehme, der dies lesen darf. Doch hier noch Anregungen, die meiner bescheidenen Ideenkiste entsprangen.

Ein kleiner Knirps kommt dazu, wie sie ihren Arm mit der Geige in der Hand hochhebt, als möchte sie diese zerschmettern. „Mach es nicht“, ruft er. „Höre erst meinen Vortrag des Finale aus dem Schwanensee an. Auf Deiner Geige müsste dies wunderbar klingen“. Der Arm von ihr sank langsam herab, in Gedanken sich die Musik von Tschaikowski vorstellend. Beim nächsten Mal würde sie es mit einem Stück von diesem Komponisten wieder versuchen.

Oder beispielsweise in Ergänzung zu yours Vorschlag:

Während ihr im Foyer des Autos noch die Tränen rollten, stieg in ihrem Kopf die Szene des sterbenden Schwans auf, während sie vermeinte die Melodie von Tschaikowski zu vernehmen.

Vielleicht findest Du auch ganz andere kreative Ideen, Hauptsache es entspricht Dir in der Formvollendung dieser Geschichte. Ich bin gespannt, und werde bei Gelegenheit wieder einmal hineinschauen.

Gruss

Anakreon

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom