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Teilzeitdiktator
Wie jeden Sonntag, saß ich auch an diesem Sonntag in meinem Lieblingscafé, schlürfte Cappuccino, genoss die noch scheue Frühlingswärme und las die Annoncen aus der Tageszeitung vom Vortag. Zwischen all den Überschriften für Haustiere, Werkzeug, Autoersatzteile, Tanzunterricht, sah ich etwas, dessen Sinn ich zunächst nicht völlig verstand, nämlich: „Land sucht Diktator.“
Darunter ein knapper Text:
Sie sind ehrgeizig, flexibel, dominant, besitzen Führungsqualitäten, Durchsetzungsvermögen und Führerschein der Klasse B? Dann erfüllen Sie alle wichtigen Voraussetzungen, um ein erfolgreicher Diktator zu werden. Unser Land bietet Ihnen einen relativ sicheren Arbeitsplatz, kreatives Aufgabengebiet, diverse Weiterbildungsmöglichkeiten, und vor allem: absolute Entscheidungsmacht. Entlohnung erfolgt nach Vereinbarung.
Interessiert? Dann nehmen Sie bitte kurzfristig Kontakt mit uns auf.
Unterhalb stand tatsächlich eine Telefonnummer, welche man zwischen sechs und siebzehn Uhr anrufen solle. Bevor ich das tat, las ich noch schnell mein Horoskop: Baldige berufliche Veränderung. Mars unterstützt Sie dabei. Nützen Sie die Chance.
Schon am Abend saß ich im Flieger, machte es mir für einen siebzehnstündigen Flug bequem – Togghu (so hieß die Insel) ich komme!
Nach der Landung in der Hauptstadt fuhr ich mit dem Taxi direkt zum Regierungsgebäude. Dort erwarte mich Mr. L. Akai, der gleich nach einer freundlichen Begrüßung aus seiner Aktentasche einen dicken Stapel Formulare hervorkramte.
„Sie heißen?“
„Paul Müllers. Aber Freunde nennen mich Pulli.“
„Pulli ist zu weich.“
„Na ja, kommt auf das Material an …“
„Nein, das meinte ich nicht. Der Name ist zu weich für einen Diktator.“
„Ach so.“
„Was machen sie beruflich?“
„Ich bin Rauchfangkehrer.“
„Rauchwas?“
„Rauchfangkehrer, kennen Sie bestimmt. Ich reinige Schornsteine.“
„Ist mir unbekannt. Egal. Warum haben Sie sich bei uns beworben?“
„Hmm, wenn ich ehrlich bin, weiß ich das selber nicht so genau. Ich dachte, ich versuch’s mal hiermit. Ich war noch nie ein Diktator.“
„Soso, Sie haben also keine Erfahrung?“
„Als Rauchfangkehrer schon, aber nicht so, was Sie hier suchen.“
„Kennen Sie sich wenigstens mit Unterdrückung, Repression, Kriegsführung aus?“
„Nicht so sehr, nein.“
Mr. L. Akai kritzelte mit viel Eifer die von mir gegebene Antworten in die Formularkästchen hinein, wischte sich mit einem Taschentuch energisch den Schweiß von der Stirn ab, dann fragte er: „Führerschein?“
„Ja.“
„Verheiratet?“
„Nein.“
„Kinder?“
„Keine.“
„Geschlechtskrankheiten?“
„Hmm … Nein!“
„Baden oder duschen?“
„Baden.“
„Schokolade oder Vanille?“
„Vanille.“
“Norma Jean?”
“Marilyn Monroe.”
„Krieg und Frieden?“
„Tolstoi.“
„Ein Neger mit Gazelle zagt im Regen nie?“
„An Omar liegt -geil!- Ramona!“
„Cornix cornici numquam oculos effodit?“
„Maiore tormento pecunia possidetur quam quaeritur.”
“I can’t get no...?”
“Satisfaction.”
“Gut, gut”, sagte Mr. L. Akai, „Sie sind sehr spontan, aber auch schlagfertig. Das gefällt mir.“ Plötzlich sprang er auf, schrie voller Entsetzen, so, als hätte man ihm eine Wunde mit Säure übergoßen, griff sich mit beiden Händen ans Herz, röchelte ein paar Mal nachdrücklich und fiel abschließend zu Boden.
Dort blieb er wenige Sekunden liegen, richtete sich dann aber erneut auf, nahm von seinem Schreibtisch ein Glas mit Wasser und schüttete sich dessen Inhalt ins Gesicht. Er fiel wieder um und blieb reglos auf dem Teppich liegen. Mit großer Spannung, allerdings ohne mich vom Fleck zu rühren, beobachtete ich das, was sich vor meinen Augen abspielte.
„Bravo!“ Mr. L. Akai war schon auf den Beinen und klatschte begeistert. „Sie haben wunderbar reagiert: kühl, desinteressiert, beinahe gelangweilt. Ich bin überwältigt. Der letzte Kandidat, was für ein grässliches Benehmen, wollte mich mit einem ... Zungenkuss oder Ähnlichem, retten. Sie dagegen waren sensationell.“
Er sah mich mit großer Bewunderung an, als wäre ich sein Lieblingssänger, dem er endlich mal die Hand schütteln durfte.
„Mr. L. Akai erlauben Sie mir bitte eine Frage. Aus welchem Grund benötigen sie hier einen Diktator?“
Sein Gesichtausdruck veränderte sich, durch die beiden Nasenlöcher sog er geräuschvoll die Luft ein, seine Hände versteckte er wie ein nervöser Prüfling hinter dem Rücken. „Unser Land“, begann er zu deklamirien, „wurde schon immer von Diktatoren regiert. Es ist eine jahrzehntlange Tradition, auf die wir voller Stolz zurückblicken können. Und die Menschen hier, sie lieben einfach ihre Präsidenten. Wissen Sie auch, warum? Weil wir Menschen nichts anderes als Gewohnheitstiere sind. Wir finden uns mit allem ab, ganz egal, wie gut oder schlecht die Situation oder Umstände sind. Außerdem wollen wir angelogen werden. Je größer und dreister die Lügen, umso lieber sind sie uns. Schauen Sie doch nur die Länder an, in denen die angebliche Demokratie herrscht: Alle sind unzufrieden und benehmen sich wie verhätschelte Kinder. Diktatur, mein lieber Freund, ist wie eine schlechte Ehe: sie wird lange geduldet. Also werden Sie den Posten übernehmen?“
„Oh … so schnell? Ich … ich hätte nicht damit gerechnet, dass … „
„Ich finde Sie sehr sympathisch, außerdem haben Sie interessante Eigenschaften, wenn Sie wollen, können Sie sofort anfangen.“
„Ja. Von mir aus.“
„Ausgezeichnet! Ich freue mich sehr, Sie als neuen Diktator begrüßen zu können.“ Er schüttelte mir kräftig die Hand, ließ sie aber nicht los, sondern sprach konzentriert weiter: „Ihre Arbeitszeit bestimmen Sie selbst, Überstunden müssen Sie kaum machen, nur bei Bedarf ... allerdings kommen Militärputschs hier selten vor. Es stehen Ihnen außerdem sechs Wochen Urlaub zu - pro Jahresquartal, Sozial- und Krankenversicherung sind selbstverständlich inbegriffen. Das Gehalt richtet sich üblicherweise nach Ihrem Körpergewicht, wobei Sie, als frisch gekürter Diktator, anfangs in Silbermünzen entlohnt werden.
Später, wenn die sechsmonatige Probezeit vorüber ist, wird Ihr Gehalt selbstverständlich in Gold abgewogen. Irgendwelche Fragen?“
„Ähm, was ist mit meinem Vorgänger passiert?“
„Mr. L. Akai räusperte sich verlegen, dann sagte er: „Er wird Ihr Butler sein.“
„Wie schön! Was wäre also meine erste Amtshandlung?“
„Ein Fotoshooting!“
Mit einem Zahnstocher im Mundwinkel – ich war Nichtraucher -, einer zu groß geratenen Uniform, weißen Lederhandschuhen und Reitgerte, posierte ich vor einer Fototapete mit paradiesischen Motiven im Stile von Zeugen Jehovas. Zwei große Ventilatoren sorgten dafür, dass meine Haare, sowie die Mähne des Löwen, der mir knurrend zu Füssen lag, imposant flatterte. Der Fotograf, ein abgemergelter
Franzose, mit einem hautengen T-Shirt und bunten Leggins, schoss unzählige Bilder von mir und dem schon sichtlich nervös gewordenen Raubtier. Während er abknipste, befahl er mit einer Little Richard ähnlichen Stimme: „Come on, Baby, give it to me.“
Nach zwei Stunden war mein Fotoshooting schon zu Ende, wohl auch deshalb, weil man den Löwen betäuben musste, da er meinen Make-up Stylisten, als dieser versucht hatte, mir den Schweiß von der Nase abzutupfen, anfiel und ihm beinahe das Genick brach.
Nun hingen überall im Land meine Poster. Ich grinste mit meinem Zahnstocher aus den Schaufenstern, von den Fassaden großer Gebäuden, in Krankenhäusern, Kasernen, Schulen, Bordellen, einfach überall. Außerdem abslovierte ich nahezu täglich medienwirksame Auftritte in irgendwelchen Talkshows und Quizsendungen, gab intime Einblicke in mein Privatleben für auflagenstarke Boulevardmagazine, glänzte mit Gastauftritten in verschiedenen Daily Soaps und Sitcoms und moderierte sogar einmal eine beliebte interaktive Kochsendung. Als mir dann Mr. L. Akai die erste, mir nachempfundene Actionfigur präsentierte, wusste ich, dass ich auf dem besten Weg war, ein anständiger Diktator zu werden.
Nicht alle Veränderungen, die mir unzählige Berater vorschlugen, nahm ich auch bereitwillig an, doch ich musste zugeben, dass sich „Titanum“ viel wirkungsvoller, viel passender, nahezu epischer anhörte, als Pulli beispielsweise. Auch an die grüne Uniform, die mich wie einen unerfahrenen Förster aussehen ließ, pastellfarbene Krawatten, weiße Rüschenhemden, schwarze Reiterstiefel gewöhnte ich mich langsam und fand sogar gefallen daran, all das täglich zu tragen.
Schon sehr bald kamen auch die ersten ausländischen Staatsmänner und bekundeten Interesse am Aufbau bilateraler diplomatischer und wirtschaftlicher Beziehungen, denn mein Inselstaat war der größte Kokosnussproduzent weltweit und beherrscht den hartumkämpften Kokosnussmarkt als unbestrittener Marktführer.
Wenn ich nicht gerade damit beschäftigt war, neue Gesetze zu entwerfen, wöchentliche Reden zu halten, im Internet meine Silbermünzen in Onlinecasinos zu verzocken, ging ich zu Entspannung regelmäßig jagen. Es wunderte mich anfangs, dass jeder von mir abgefeuerte Schuss ausnahmslos ein Wildschwein oder eine Kuh mit tödlicher Präzision traf, bis ich eines Tages dahinter kam, dass zwei Heckenschützen die Tiere für mich zur Strecke brachten. Nach einer Weile verlor das Jagen, aber auch das Fischen mit Dynamit seinen Reiz, und ich begann mich zu langweilen.
Unzufrieden befahl ich meinen Ministern die aktuelle Nationalhymne zu ändern. Innerhalb von zwei Wochen wechselten sie zehnmal das Loblied – allerdings ohne sichtlichen Erfolg. Schließlich ging ich selber ins Tonstudio und nahm dort ein selbstkomponiertes Lied auf. Zugegeben, die ersten Takte erinnerten frappant an „Smoke on the Water“, doch zum ersten Mal in der Geschichte des Staates verkauften sich über eine halbe Million Exemplare einer Landeshymne. Ich stürmte damit die Charts und trat sogar einige Male bei großen Open-Air Events auf.
Danach führte ich ein Dutzend neuer Feiertage ein. Zu den wichtigsten zählten der Titanumstag (also mein Geburtstag), Wiedervereinigung (der Gruppe Eagels), Präsidententag (mein erster Tag als Diktator), Wahrheitsmontag (ein beliebter Feiertag im Juli, an dem jeder seine Meinung zwischen 23.55 und 00.00 Uhr frei äußern durfte). Der Höhepunkt des Wahrheitsmontags war allseitsbeliebte Mitternachtsverbrennung meistgehasster Bücher und Musikplatten). Damit die Religion auch nicht zu kurz kam, erfand ich einen schönen Festtag, eine gelungene Mischung aus Weihnachten und ausgelassener Straßenparty (das Letztere war abgekupfert von einem Musikfest aus Deutschland).
Als ich am Gipfel meiner Macht und meines Erfolgs stand, holte ich Mr. L. Akai zu mir in meine Arbeitsvilla.
„Was munkelt das Volk?“, fragte ich ihn und bot ihm ein bisschen Kaviar an.
„Danke, ich habe gerade gefrühstückt. Nun, die Lage sieht nicht sehr rosig aus, Sir.“
„Diese verdammten Hummer werden immer kleiner. Schauen Sie sich das an, Mr. L. Akai!“
„Das sind Skorpione, Eure Exzellenz. Jemand versucht seit Wochen Sie umzubringen. Das wäre schon die nächste Sache, die ich mit Ihnen besprechen wollte. Sie sind so unbeliebt, wie noch nie.“
„Ich? Ich soll unbeliebt sein? Hören Sie auf, so unverschämt zu lügen! Sonst schreibe ich eine Biographie. Wollen Sie das? Hä?“
„Nn ... Nein, Mr. Titanum, bitte nicht … „
„Ach“, sagte ich gelangweilt, „man kann es euch kaum recht machen. Ganz egal, was ich tue, irgendwo gibt es immer Zweifler und Buhrufer.“ Ich ließ die Skorpione entfernen und hob die nächste Glocke. „O nein! Seit wann esse ich Aale?“
„Nicht bewegen“, flüsterte Mr. L. Akai, „das ist kein Aal, sondern eine Kobra.“ Blitzschnell, wie ein routinierter Fakir, packte er die giftige Schlange und warf sie aus dem Fenster.
„Sie dürfen die Zeichen nicht übersehen“, Mr. L. Akai nahm wieder Platz und fuhr dann fort: „Ist Ihnen vielleicht aufgefallen, dass die Anzahl Ihrer Vorkoster auf achtundzwanzig pro Monat angestiegen ist?“
„Na ja, jeder erfolgreiche Präsident hat nun mal Neider, da ist nichts zu machen. Wichtig ist, dass das Volk mit mir zufrieden ist.“
Mr. L. Akai hustete zweimal betont. „Ihre Reformen, geschätzter Herr Präsident, sind durchaus erfrischend gewesen und…“
„Erfrischend? Was ist das für ein Ausdruck? Mir alleine ist es zu verdanken, dass wir keine alten und gebrechlichen Menschen mehr auf der Insel haben. Dadurch, dass wir diese verbannt haben, konnten wir immense Summen einsparen. Außerdem erleben wir einen wahren Babyboom, seitdem wir für einen Pharmakonzern die Potenzpillen testen. Vergessen Sie auch nicht, Mr. L. Akai, dass ich schon zum zweiten Mal zum Sexiest Dictator Alive gewählt worden bin. Und meinen Blockbuster, den ich im Sommer in heimischen Kinos gelandet habe, dürfen Sie ebenfalls nicht so leichtfertig ignorieren. Nirgendwo auf der Welt stürmten mehr Menschen die Kinosäle, um sich eine zweistündige Dokumentation über einen gewöhnlichen Präsidenten anzuschauen, als hier auf der Insel. Doch das sind alles Kleinigkeiten, Peanuts, im Vergleich dazu, was uns demnächst erwartet. Jetzt, im Zenit meiner Karriere, plane ich etwas wirklich Grandioses.“
„Bitte, Mr. Titanum, wenn Sie Ihr Comeback als Maler meinen ... die Nummer zieht bestimmt nicht mehr. Die Leute haben Ihre Kunst nicht verstanden.“
„Nein, das ist es nicht. Ich … Ich werde die ganze Welt erpressen. Ha, ha, hahaha!“
„Wie? Was? Die ganze Welt? Du lieber Himmel … „
„Ja, genau, die ganze Welt. Die Zeit der Unterdrückung und Ausbeutung ist endgültig vorbei. Eine neue Ära ist angebrochen. Ab morgen erhöhen wir drastisch die Preise unserer Kokosnüsse. Die feinen Herren werden schon sehen, wenn es keine billigen Kokosnüsse mehr gibt, dann wird es auch keine Kokosraspeln für die Weihnachtsbäckerei geben, keine Kokosmilch, Kokoschips, und das Wichtigste …“
Mr. L. Akai vollendete voller Schaudern den Satz: „Keine Piña Colada! Oh, nein, Mr. Titanum, das dürfen Sie nicht machen. Es ist grausam.“
„Beruhigen Sie sich, Mr. L. Akai, die Welt wird uns den hohen Preis schon zahlen. Stellen Sie sich nur die empörten Hausfrauen weltweit vor, wenn ihnen die ganzen Kokosnussprodukte ausgehen. Nur Geduld und wir werden schon bekommen, was wir verlangen. Nun, ich werde morgen eine Pressekonferenz abhalten. Bereiten Sie bitte alles vor.“
Ich drehte mich um, nahm mein Glas vom Tisch und erhob ihn feierlich. „Wollen wir noch zum Schluss mit diesem exotischen Getränk anstoßen?“
„Das ist Schwefelsäure, Mr. Präsident.“
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, befand ich mich auf einem Fischfrachter – irgendwo im Pazifik. Mein Kopf, schwer wie eine Marmorplatte, brummte regelrecht. Ich trug noch meine alten Klamotten und konnte überhaupt nicht verstehen, wie ich zum Teufel hierhin gelandet bin. Neben mir lag eine Tageszeitung. Als ich sie aufschlug, sah ich sofort eine mit rotem Stift eingekreiste Anzeige: Kanditaten für „The Next Pontifex maximus“ gesucht. Jetzt bewerben!