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Teufelskrallen
Teufelskrallen
Madame Rubin war eine Dame. Tadellos ihre Garderobe, tadellos ihr Benehmen. Madame Gaspé dagegen trat mit schlafwandlerischer Sicherheit in jedes Fettnäpfchen. Alle fragten sich, was die zwei Frauen wohl verbindet.
Zum Souper erschien Madame Rubin in einem cremefarbenen Organzakleid, Madame Gaspé hingegen trug ein schreiend buntes Gewand und ein turbanähnliches Gebilde auf dem Kopf. Madame Rubins Odeur erinnerte an Vanille und Zimt, während Madame Gaspé wie eine Haremsdame duftete. Madame Rubin bediente sich gepflegter Konversationen, Madame Gaspé beschallte den Speisesaal mit ihrer Fistelstimme.
Am frühen Morgen hatten sie urplötzlich auf dem Steg gestanden. Der Nebel hatte die Ebene vollkommen ausgefüllt, kurz vor der Anlegestelle hatte er sich gelichtet. Madame Rubin war wie in Stein gemeißelt, nicht einmal ihre langen schwarzen Haare hatten sich bewegt. Auf einem der zahlreichen Koffer hatte Madame Gaspé gesessen und schirmwedelnd um Beachtung gebeten.
Gegen Mittag setzte sich die Sonne durch. Die Cappadocia fuhr gemächlich an abgeernteten Weizenfeldern vorbei. Schwarz-weiße Kühe versammelten sich zum Mittagsschlaf unter einer Lindenbaumgruppe. Hoch am Himmel schwebte ein Milan, am Ufer des Grünen Flusses standen die Möwen in Reih und Glied. Die Passagiere spielten an Deck Boccia und Bridge, sonnten sich. Madame Rubin saß auf einem Rattanstuhl, trank grünen Tee aus einem chinesischen Porzellantässchen, knabberte gelegentlich an einem Ingwerplätzchen und las Madame Bovary. Madame Gaspé zog es vor, mittels einer Kugel Kegel umzuwerfen. Bei jedem Treffer sprang sie kreischend in die Höhe. Als es ihr gelang, alle Neune zu kippen, fiel sie einem Mitspieler jubelnd um den Hals, sodass ihr Florentinerhut verrutschte und die Bermudashorts ungebührlich in Bewegung gerieten.
Die Cappadocia verließ die Ebene, fuhr den Roten Fluss stromaufwärts Richtung Hauptstadt. Sie barg hinter der historischen Stadtmauer die Gemäldesammlung des kürzlich verstorbenen Reeders und die einzige romanische Kirche des Landes. Am Renaissancerathaus dehnte sich der Stadtpark aus, den ein Landschaftsplaner mit extravaganten Brunnen, exotischen Pflanzen und außergewöhnlichen Skulpturen gestaltet hatte. Die Stadt lockte wenige Besucher an, allen Sehenswürdigkeiten zum Trotz. Die Fahrt auf dem Roten Fluss mit den Riffen, den Strudeln, den Sandbänken, den schroffen Felsen, die beidseitig aufragten, bot zahlreiche Gefahren. Die Rückfahrt barg das größte Risiko. Geriet der Kapitän in die falsche Fahrrinne, schlug die Steuerung in den Grünen Fluss fehl. Das Schiff trieb in die Stromschnellen des Roten Flusses und war rettungslos verloren.
In einer Bucht, backbord, rückte ein verfallenes Haus ins Blickfeld. Auf der Wiese daneben blühten vereinzelte Teufelskrallen, am morschen Steg dümpelten Fragmente eines Kahns.
Zum Abschluss des Essens reichten wieselflinke Stewards Mocca, Tee und Bloody Mary. Die Sonne raffte ihre Glut, beschien die mit Krüppelkiefern bewachsenen Felsen, verwandelte Madame Rubins Kleid in ein purpurnes Kunstwerk.
Madame Gaspé warf ihre Bloody Mary um, infolgedessen wurde aus Madams Verhüllung ein ordinärer Fleckenfetzen. Madame Rubin bemerkte nonchalant, zur Soiree sei ein Wechsel der Garderobe ausdrücklich erwünscht, erhob sich und verließ in tadelloser Haltung den Speisesaal. Madame Gaspé rief lautstark einen Steward, sah ungerührt den Krähen zu, die sich in der Dämmerung auf einer Sandbank sammelten.
Während der Kapitän Nachricht über einen Maschinenschaden erhielt, lauschten die Passagiere im Salon Brahms Tragischer Ouvertüre. Einige suchten nach dem Kunstgenuss ihre Kajüten auf, andere genehmigten sich einen Schlaftrunk an der Bar. Madame Rubin nippte an einem Tom Collins, während Madame Gaspé einem Daicquiri zusprach. Ihr Blick fiel auf ein Denkmal, das, in fahles Mondlicht gehüllt, steuerbord auf dem höchsten Felsen thronte. Es stellte ausnahmsweise keinen schwertschwingenden Helden zur Schau, sondern zeigte zwei Herren , die einen Vogel und dessen Gelege begutachteten. Es handelte sich um Brüder, die durch ihre Reisen in unerforschtes Gebiet weltweit Aufsehen erregt hatten.
Zu später Stunde, nach dem Genuss weiterer Cocktails, bewegten sich die Damen Richtung Kabine. Verwundert stellten sie fest, dass das Denkmal unverändert vis á vis den Felsen zierte. Sie baten den Kapitän, der zufällig ihren Weg kreuzte, um eine Erklärung. Er sagte, eine Maschine hätte den Dienst quittiert. Die Ersatzteile träfen bereits morgen in aller Herrgottsfrühe ein. Nach der Reparatur würde die Reise fortgesetzt, es gäbe keinen Grund zur Besorgnis.
Der Kapitän wälzte sich unruhig in seiner Koje, dann machte er sich auf den Weg zur Brücke. Das Denkmal war verschwunden! Auf dem Achterdeck traf er die Wachen im Tiefschlaf an. Am Ufer, im Zwielicht, zwischen Nebelfetzen, sah er Madame Rubin und Madame Gaspé in einem Ruderboot sitzen. Er entriss einem regungslosen Matrosen das Fernglas. Der Mond versteckte sich hinter einer Wolke, eine Nebelwand baute sich auf, vergeblich suchte er den Fluss ab, Nichts und Niemand war zu sehen. Ein leichte Brise brachte das Tosen, Zischen und Gurgeln der Stromschnellen mit.