- Beitritt
- 02.01.2002
- Beiträge
- 2.436
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 26
The Highwayman
»Nicht wegfahren, halt!«, keuchte Sylvie, während sie auf ihren hohen Absätzen die Straße entlangstolperte. Ihre Rufe verhallten. Mit Tränen in den Augen sah das Mädchen, wie sich die Türen schlossen und der Bus schließlich anfuhr.
»So eine Scheiße!«
Es war bereits das dritte Mal in diesem Monat, dass Sylvie nach der Disco den letzten Anschlussbus verpasste. Ihr Vater würde sie umbringen. Oder ihr zumindest Hausarrest verpassen - und zwar bis an ihr Lebensende. Sylvie wünschte sich, sie hätte eine frühere Bahn von der Discothek hierhin genommen. Dann hätte sie den Anschlussbus nicht verpasst und wäre bereits auf dem Weg nach Hause.
Nach Hause. Sylvie fröstelte. Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie kalt es war. Mitternacht war längst vorbei und ein böiger Herbstwind fuhr durch die Bäume. Bestimmt würde es auch noch anfangen zu regnen. Sylvie verschränkte die Arme ineinander. Ihr graute es bei dem Gedanken daran, ihren Vater um diese Uhrzeit aus dem Bett zu klingeln. Aber es musste wohl sein. Etwa hundert Meter vor der Bushaltestellte stand eine Telefonzelle. Ein glücklicher Zufall, denn Sylvie hatte wieder einmal ihr Handy zuhause vergessen, obwohl ihre Mutter ihr immer wieder einschärfte, es einzustecken. Seufzend setzte sich das Mädchen in Bewegung und trabte auf die Zelle zu. Sylvies Finger klaubten in der Jackentasche das restliche Kleingeld zusammen. Hoffentlich würde ihr Vater nicht so sehr schimpfen wie beim letzten Mal. Hoffentlich würde sie nächste Woche zum Geburtstag ihrer Freundin Tatjana gehen dürfen. Hoffentlich ... Sylvie erstarrte. Die Scheibe der Telefonzelle war eingeschlagen, der Hörer baumelte in der Luft herum. Oh Gott, bitte, bitte lass das Telefon nicht kaputt sein!, flehte Sylvie und riss die Tür auf. Mit klopfendem Herzen nahm sie den Hörer in die Hand und drückte auf die Gabel. Nichts. Sylvie drückte nochmal und nochmal, obwohl sie bereits wusste, dass es keinen Sinn hatte.
Wie in Trance hängte das Mädchen den Hörer ein. Es gab kein anderes Telefon hier in der Nähe. Keine Gaststätte, bei der man sein Glück hätte versuchen können, keine Discothek, kein Kino, einfach gar nichts. Nur ein paar Einfamilienhäuser standen verstreut an einer Seite des Straßenrands. Auf der anderen Seite lag der Wald. Sollte sie bei einem der Häuser klingeln und darum bitten, telefonieren zu dürfen? Aber in keinem der Häuser brannte Licht. Wer würde ihr um diese Zeit noch öffnen? Und selbst wenn, was würden die Leute ihrem Vater sagen? Sylvie wurde ganz elend. Nein, es hatte keinen Sinn. Sie musste einen anderen Weg finden, nach Hause zu kommen - einen Weg, bei dem ihre Eltern nichts erfahren würden.
Eigentlich war es ganz einfach. Sylvie hatte schon oft in Filmen gesehen, wie so etwas funktionierte. Und Tatjana hatte es auch schon einmal gemacht. Sie brauchte nur ein bisschen Glück, das war alles.
*
Sylvie stand bereits ein paar Minuten am Straßenrand, als sich das erste Auto näherte. So weit sie konnte, reckte sie den Daumen heraus und bemühte sich um ein freundliches Lächeln. Der Fahrer des roten Corsa fuhr vorbei ohne anzuhalten. »Blödmann!«, rief Sylvie ihm hinterher. Wenn das so weiterging, konnte sie ebensogut zu Fuß nach Hause laufen. Sylvie sehnte sich nach ihrem Bett und nach einer Wärmeflasche. Ihre Füße schmerzten in den hochhackigen Schuhen und auf ihren Armen bildete sich langsam eine Gänsehaut.
Ein weiteres Auto fuhr an ihr vorbei. Zwei Autos innerhalb von zehn Minuten, die keine Anstalten machten, sie mitzunehmen - bei diesen Aussichten war sie ein Eiszapfen, wenn sich endlich der erste Fahrer erbarmte, dachte Sylvie grimmig. Sie warf einen Blick auf die dunklen Häuser. Es wäre Wahnsinn, dort zu klingeln und ihren Vater anzurufen. Zuhause würde sie die größte Standpauke erwarten, seit dieser Geschichte mit dem Schulfest damals.
Aber war es nicht ebensolcher Wahnsinn, hier mitten in der Nacht auf ein Auto zu hoffen, das einen mitnahm? Sylvie hatte schon von Verrückten gelesen, die auf junge Tramperinnen lauerten. Von Psychopathen, die es auf Frauen an einsamen Straßen abgesehen hatten. Ihre Eltern wären verrückt vor Angst, wenn sie wüssten, dass sie jetzt hier stand und zu einem Fremden ins Auto steigen wollte. Sylvie schämte sich beinahe für ihren Plan. Egal was Tatjana gesagt hatte, sie durfte dieses Risiko nicht eingehen. Es war schon dumm genug, den Bus zu verpassen, jetzt musste sie nicht etwas noch Dümmeres anstellen. Schweren Herzens ging Sylvie auf die Häuser in der Ferne zu.
Mit jedem Schritt fürchtete sie sich mehr vor der Reaktion der Bewohner und besonders vor der ihres Vaters. Tausend mögliche Entschuldigungen spukten in ihrem Kopf herum, doch keine einzige konnte sie vor dem Donnerwetter bewahren. Hoffentlich würde alles nicht so schlimm werden. Und hoffentlich war überhaupt jemand in diesen Häusern zuhause! Hoffentlich ... Sylvie blieb wie angewurzelt stehen. Vor einem der Häuser parkte ein Auto, das vor ein paar Minuten dort noch nicht gestanden hatte. Und nicht nur das - die Scheinwerfer brannten. Vielleicht ein gerade erst heimgekehrter Bewohner? Sylvies Herz machte einen Sprung. Sie beschleunigte ihre Schritte. Als sie näherkam, entdeckte sie einen Mann nebem dem Auto. Er stand mit dem Rücken zu ihr. Sylvie räusperte sich.
»Hallo?«
Der Mann reagierte nicht. Sylvie rief etwas lauter.
»Hallo?«
Mit einer langsamen Bewegung drehte sich der Mann zu dem Mädchen. Sein Gesicht lag im Dunkeln. Nach wenigen Sekunden war Sylvie bei ihm.
»Entschuldigen Sie, gehören Sie zu diesem Haus? Wissen Sie, ich muss dringend telefonieren«, sprudelte es aus ihr heraus.
Der Mann schüttelte den Kopf.
»Tut mir Leid. Ich habe hier nur kurz angehalten und fahre gleich weiter.«
»Ach.« Sylvie spürte, wie ihr Tränen der Enttäuschung in die Augen stiegen. »So ein Mist. Und ich dachte ...« Sie biss sich auf die Lippen.
Der Fremde sah sie schweigend an.
»Es ist nur, ich habe den Bus verpasst und weiß nicht, wie ich nach Hause komme«, schniefte Sylvie und wischte sich über die Nase. All ihre sorgfältig zurechtgelegten Worte waren dahin. »Nach Dellbrück muss ich. Die Telefonzelle hier ist kaputt und ich muss meinen Vater anrufen. Aber um die Zeit macht mir doch keiner die Tür auf ...« Sie brach ab und schluchzte.
»Tatsächlich«, sagte der Mann. In seiner Stimme lag etwas, das Sylvie nicht deuten konnte. Aber es klang nicht unfreundlich. Das Mädchen schöpfte neue Hoffnung.
»Ja ... so ist das. Wohin - wohin fahren Sie?«
»Wohin ich fahre?«, wiederholte der Mann, als müsse er darüber erst nachdenken. »Nun, ich fahre an Dellbrück vorbei, falls du das wissen willst.« Sylvie meinte, ein Lächeln auf seinem Gesicht zu erkennen. »Weit ist es ja nicht mit dem Auto. Ein Handy habe ich leider nicht, aber ich kann dich mitnehmen. Und ich wäre ein sehr schlechter Mensch, wenn ich dich hier alleine zurücklassen würde, oder?«
Sylvie atmete auf. »Es wäre fantastisch, wenn Sie mich mitnehmen könnten. Es ist nur etwa eine Viertelstunde mit dem Auto von hier, den Rest kann ich dann zu Fuß gehen.«
Der Mann nickte.
»In Ordnung. Warum nicht.« Sylvie hatte fast den Eindruck, er spräche mit sich selbst. »Dann habe ich ein bisschen Gesellschaft. Warum nicht.«
Er bedeutete dem Mädchen einzusteigen und Sylvie machte es sich auf dem Beifahrersitz bequem. Zitternd wärmte sie ihre klammen Finger an der Heizung auf. Erst hier im Warmen spürte sie, wie kalt es draußen gewesen war. Zuhause musste sie sofort ins Bett, sonst hatte sie morgen eine saubere Erkältung.
Der Mann startete den Wagen und fuhr los. Sylvie schätzte ihn ungefähr auf Mitte Vierzig. Er war gut gekleidet, wenn seine Sachen auch ein wenig unordentlich saßen und fleckig wirkten. Vielleicht hatte er schon eine lange Fahrt hinter sich und deshalb die Pause eingelegt. Sylvie gestand es sich nicht gerne ein, aber beim Einsteigen hatte sie darauf geachtet, ob der Fremde sie länger als notwendig angesehen hatte. Das war nicht der Fall gewesen; im Gegenteil, sie war sich nicht einmal sicher, ob er ihr Aussehen überhaupt wahrgenommen hatte. Das beruhigte sie. Ein Triebtäter, der es auf junge Mädchen abgesehen hatte, wäre nicht so unbeteiligt geblieben, da war sie sicher. Erleichtert lehnte sie sich zurück.
»Sind Sie schon lange unterwegs?«, erkundigte sie sich. Durch ein kleines Gespräch verging die Zeit bestimmt schneller. Und es würde ihr helfen, die restliche Nervosität zu überbrücken.
Es dauerte einen Augenblick, bis der Mann antwortete.
»Ja, schon recht lange«, sagte er. »Ein paar Stunden sind es sicher ...« Sein Blick verlor sich in der Ferne. Sylvie wusste jetzt, wie der Mann auf sie von Beginn an gewirkt hatte. Er wirkte müde. So müde, als hätte er bereits einen langen, vielleicht zu langen Tag hinter sich. Hoffentlich kann er noch anständig Auto fahren, dachte Sylvie. Müdigkeit am Steuer war gefährlich. Wenigstens lief Musik. Sylvie hatte gehört, dass man dabei besser wach blieb. Sie summte die Melodie leise mit.
»Wie heißt das Lied?«
»The Highwayman«, gab der Mann zurück. Täuschte sich Sylvie oder glitzerten tatsächlich Tränen in seinen Augen? Auch Sylvie fand das Lied sehr traurig. Schön und traurig zugleich. Doch so traurig, dass er fast weinen musste? Hastig wandte sich Sylvie ab. Der Mann sollte nicht merken, dass es ihr aufgefallen war.
»The wind was a torrent of darkness among the gusty trees,
The moon was a ghostly galleon tossed upon cloudy seas.«
Sylvie starrte in die Dunkelheit. Ein passendes Lied zu einer Herbstnacht. Die Äste rechts und links von der Straße wiegten sich im Wind. Der Mond schaute hinter dunklen Wolken hervor.
»The road was a ribbon of moonlight looping the purple moor,
And the highwayman came riding
Riding riding
The highwayman came riding, up to the old inn door.«
»Es ist ein Liebeslied«, sagte der Mann unerwartet. Sylvie schrak zusammen.
»Das merkt man«, murmelte sie. »Es klingt traurig.«
Der Fahrer nickte. Nach ein paar Sekunden sagte er:
»Es war das Lied von mir und meiner Frau.«
Sylvies Kopf fuhr herum. »Bitte?«
»Unser Lied. Wir lernten uns kennen bei Loreena McKennitts 'Highwayman'.«
Sylvie wusste nichts zu sagen. Der Mann sprach weiter, ohne auf sie zu achten.
»1998 auf einer Weihnachtsfeier. Jemand hatte eine CD von Loreena McKennitt aufgelegt. Bei 'The Highwayman' forderte ich meine Frau zum Tanz auf.« Er schwieg einen Augenblick. »Wir heirateten im Jahr darauf. Fünf Jahre Ehe, fünf Jahre - und jetzt ist es zuende.«
Sylvie rutschte auf ihrem Sitz hin und her. Die Straßen sahen in der Dunkelheit alle gleich aus. Bald musste die Abzweigung zu Dellbrück auftauchen.
»Das tut mir Leid«, sagte sie linkisch, um überhaupt etwas zu sagen. Plötzlich begann der Mann zu zittern.
»Es hätte so schön sein können«, flüsterte er. »Wir hätten glücklich sein können. Nicht so wie in dem Lied. Wir hätten glücklich sein können.«
Sylvie blieb stumm. Was hätte sie auch sagen sollen. Der Mann bewegte die Lippen zu den nächsten Zeilen.
»But the landlord's black-eyed daughter
Bess, the landlord's daughter
Plaiting a dark red love-knot into her long black hair.«
»Sie sah aus wie diese Frau aus dem Lied. Bess. Genauso. Schwarze Haare und schwarze Augen. Keine andere hatte so schwarze Haare und so dunkle Augen. Jeder sagte das zu ihr.«
»Das tut mir alles sehr Leid«, wiederholte Sylvie mechanisch. »Hören Sie, bald müssten wir da sein, oder? Ich glaube ...«
»Schwarze Haare, genau wie Bess, die Tochter des Gutsherrn. Und sie war so verdammt schön. Aber ich wusste, dass es nicht gutgehen würde. Ging es in dem Lied auch nicht. Wir lernten uns bei dem Lied kennen und sie sah aus wie Bess. Wie hätte es gut gehen können.«
Sylvie sah aus dem Fenster. Die Straße war schwarz, überall nur schwarz. Sie erkannte kein Schild, kein Haus, kein anderes Auto. Fuhren sie überhaupt in die richtige Richtung?
»Das mit Ihnen und Ihrer Frau tut mir Leid«, sagte sie schwach. »Vielleicht machen Sie das Lied besser aus, wenn es Sie daran erinnert ...«
Der Mann schluchzte auf.
»Hör doch«, sagte er mit zitternder Stimme. »Hör doch.«
»Yet, if they press me sharply, and harry me through the day,
Then look for me by moonlight, watch for me by moonlight,
I'll come to thee by moonlight, though hell should bar the way.«
»All das habe ich ihr auch versprochen«, murmelte er heiser. Er schlug mit der Faust auf das Lenkrad. Zwei Sekunden lang geriet das Auto ins Schlingern. Sylvie krallte ihre Finger in den Sitz. Das Herz hämmerte ihr in der Brust.
Der Fahrer starrte sie an, als sähe er sie zum ersten Mal.
»Sie sah aus wie Bess, doch sie war nicht wie sie. Bess ist gestorben, weil sie ihren Geliebten retten wollte. Meine Frau war nicht wie Bess.« Er atmete schwer aus. Sein Blick war wieder auf die Straße gerichtet.
»Ich habe sie trotzdem beschützen wollen«, sagte er so leise, dass Sylvie ihn kaum verstand. »Auch wenn sie es nicht verdient hatte. Der andere Kerl wollte sie nicht glücklich machen. Ich konnte sie nicht zu ihm gehen lassen. Ich konnte nicht.«
Sylvie spürte, wie ihr schwindelig wurde. Wie durch eine Wand hindurch drangen seine Worte zu ihr. Sein Gesicht war eine unbewegte Maske.
»But they gagged his daughter and bound her to the foot of her narrow bed ...«
»... nicht wehtun wollen ...«
Sylvie rüttelte an der Autotür. Vegeblich. Gott, nein. Bitte mach, dass das nicht wahr ist ...
»They bound a musket beside her, with the barrel beneath her breast ...«
»... zu ihrem Besten ...«
Ihre Finger krallten sich in das harte Plastik, bis ein Nagel abbrach. Sie schluchzte.
»She writhed her hands till her fingers were wet with sweat or blood ...«
»... begriffen hätte, dass ich es gut meinte ...«
Mit beiden Fäusten hämmerte das Mädchen auf die Scheibe ein.
»He did not know who stood bowed, with her head o'er the musket, drenched with her own red blood ...«
»... überall rot ... «
Unaussprechliche Bilder stiegen in Sylvies Kopf auf. Sie presste die Hände auf ihren rebellierenden Magen. Statt einem Schrei brachte sie nur ein Keuchen heraus. Der schmale Körper bebte und Tränen liefen über das verschmierte Gesicht. Immer wieder und wieder schüttelte sie den Kopf. Mutter ... Vater ... Gott, hilf mir ...
»Hat alles nichts genutzt«, flüsterte der Mann, »hat alles nichts genutzt ...« Seine Augen glänzten feucht.
»A highwayman comes riding ... riding ... riding ...«
Er riss das Lenkrad herum.
Erst als das Auto über die Böschung stürzte, fand das Mädchen die Kraft zu schreien.
(c) Gedicht «The Highwayman« by Alfred Noyes