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The Times They Are A-Changin’ Stullen-Siggis alter Kiez

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19.08.2009
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The Times They Are A-Changin’ Stullen-Siggis alter Kiez

Der rote „Harry-Brotkorb“ wirkt klein auf dem massigen Körper von Stullen-Siggi, als er Freitagabend die Kneipe betritt. „Wie kost’ die Frikadelle?“ fragt ein Gast im Goldenen Handschuh auf dem Hamburger Berg. „1,70, Senf ist umsonst“, raunzt Siggi und verfrachtet seinen Brotkorb mit einem lauten Knall auf die alte Holztheke, ohne den potenziellen Kunden auch nur eines Blickes zu würdigen. „Machst mir ein Töpfchen, mein Schatz?“ fragt Siggi die Bardame Irene und verfällt dabei in einen deutlich freundlicheren Ton. Der junge Kneipengast wartet geduldig auf den Tausch Geld gegen Ware. Siggi leert in einem Zug sein halbes Weizen und übergibt schließlich fast widerwillig Frikadelle und Senf. Das Wechselgeld rückt er erst auf Nachfrage raus. „Früher waren hier nur bekannte Gesichter, jeder kannte jeden“, sagt Siggi und spricht dabei zu allen Gästen, aber schaut dabei konsequent in Richtung der vergilbten Gardinen, durch die eine alte Holsten-Edel-Werbetafel schimmert.

Seit 20 Jahren hat Siggi nun selbst gemachte Ei-, Käse- und Mettstullen rund um die Reeperbahn verkauft. Damals noch mit seiner Frau, die vor zehn Jahren an Brustkrebs starb. Heute macht er alles selbst. „Als Hafenarbeiter ham se mir den Rücken kaputt gemacht. Seitdem lauf ich meine Tour. Das waren gute Jahre mit den Kiezianern hier. Das sind gute Leute. Sterben aber alle weg“. Siggi leert das Weizenglas, rückt seine Hose zurecht und winkt in Richtung DJ ab. „Für uns alte Paulianer ist das hier nix mehr. Nur noch Jungvolk, Leichtmatrosen oder Fickfrösche, wie Stephan immer gesagt hat“. Siggi meint Stephan Hentschel, den in der Kultkneipe „Ritze“ erhängt aufgefundenen Zuhälter, bekannt aus diversen TV-Sendungen, Zeitungsreportagen und aus dem Internet.

„Ich mach weiter, halt die Stellung, Irenchen“. Siggi hat seinen festen Ablauf an jedem Freitag- und Samstagabend. Um 23 Uhr verlässt er mit den Stullen seine Zwei-Zimmer-Wohnung in der Simon-von-Utrecht-Straße und flaniert über die Große Freiheit, bevor die „neuen“ Kiezianer, das Ruder übernehmen. Die Tänzerinnen in Susis Show Bar freuen sich auf die belegten Brötchen. „Niemand gibt mehr Trinkgeld als die leichten Mädchen“, weiß Siggi. Der Besuch des Goldenen Handschuhs bleibt für ihn weiter Pflichtprogramm, ein Relikt aus alten Kiezzeiten. „Guck doch mal, so ein geiler Laden. Aber eingekesselt von diesem Kentucky-Schreit-Ficken und dem ganzen Disko-Gedöns“. Nach dem Handschuh hat Siggi sein drittes Bier intus und zieht weiter in die Hein-Hoyer-Straße. Es riecht nach Bier und Urin. Die Davidwache ist wohl die einzige Konstante am Ende der ehemaligen Kneipenstraße. Heute läuft Siggi hier an Fressbuden und Sex-Shops vorbei.

„Karins Treff kann man aber auch noch machen“, sagt Siggi und knallt auch hier seinen Korb auf den Tresen. „Moin Siggi, biste morgen auf Harrys Beerdigung?“, fragt ein Gast. Kurzes Nicken, neues Töpfchen, Siggi zieht weiter. „Um 1 Uhr bin ich immer spätestens im Utspann. Harry, der Besitzer, ist letzte Woche an Prostata gestorben. Sein Bild steht hier in einem schwarzen Holzrahmen auf dem Tresen. „Harry ist mal grade 47 geworden. Die Leute, die hier aufgewachsen sind und den Kiez von Anfang an mitgemacht haben, sterben früher. Das sind echte Halunken gewesen, im Positiven. Wenn du mit denen gesoffen hast, dann richtig. Dann hast du dich per Handschlag zum Frühschoppen verabredet und dann stand man da auf der Matte. Die kleinen Jungs, die hier heute rein laufen, sind voll, wenn sie hier ankommen. Dann randalieren die nur noch und naja…“

Der Hamburger Kiez hat Schlagseite bekommen. Die alte Kneipenkultur ist längst von Studentenclubs, Szene-Bars und Fressbuden abgelöst worden. Das Durchschnittsalter der Wochenendbesucher steigert sich mit 20 Jahren in der Großen Freiheit, 22 Jahren auf dem Hamburger Berg und 25 Jahren auf dem Hans-Albers-Platz nur marginal. „Ich kann hier nur noch in zwei, drei Läden mein Töpfchen trinken“, sagt Siggi. „Und die Fickfrösche kommen auch immer öfter in meine Läden rein. Weil das Bier hier billig ist!“ Nach dem siebten Bier wird Siggi müde. Er verkauft noch seine letzten Eibrötchen an zwei Studentinnen aus Lüneburg, bevor er seinen halbvollen, roten „Harry-Brotkorb“ schultert. „Ich geh pennen, morgen werd’ ich länger machen. Erst Harrys Beerdigung und dann ne kleine Tour mit meiner Crew. Noch reichen die zwei, drei Läden. Bald gibt’s uns eh nich mehr“.

 

Hallo Thing,

und herzlich willkommen hier.
Dein Titel kündigt es ja schon an, zusammengesetzt aus einem alten Dylan-Song mit deutschen Suffix, beides deutet sentimentalen Rückblick an, obwohl das Lied von Dylan eher die Aufforderung enthält, die Veränderungen der Zeit nicht zu verpassen.
Leider habe ich das Gefühl, dass dein Text über die Klage "Früher war alles besser" nicht hinausgeht. Das wäre weiter nicht schlimm, nur habe ich nach der Lekture weder vom alten noch vom neuen Kiez wirklich eine bildhafte Vorstellung. Ein paar typische Namen werden abgehakt, zwei Todesfälle, die für den Tod der Meile stehen, dabei wäre es doch viel eher der Tod des Kiez, wenn keine Jüngeren folgten. Die Wachablösung muss sein und die Strukturveränderungen haben dem Kiez in den letzten Jahren zu einem neuen "In-Status" verholfen.
Ich kann schon, egal ob beim Kiez oder anderenorts, verstehen, dass es schwer ist, immer von vorne anzufangen, sich auf vertrautem Terrain fremd zu fühlen, weil die Alten gegangen sind und so viele Neue kommen, die man nicht kennt, die vor allem aber einen selbst nicht kennen, vor denen die eigene Legende nichts mehr zählt.
Nur würde ich dem nachgeben, könnte ich dir hier zum Beispiel keinen Kommentar schreiben, sondern müsste mich grämen, dass die Autoren nicht mehr da sind, die in meiner Anfangszeit hier liebe Kollegen wurden.
Wäre doch schade oder?

Lieben Gruß
sim

 

Mit Sim

Ich denke, jeder Mensch kennt diese Art von Trauer über Zeiten, die nicht mehr (und deswegen in der Erinnerung vielleicht "umso schöner" gewesen?) sind.
Jedoch ... wenn diese Trauer lähmt, blockiert und nur die Erinnerung an "jene Zeiten" kurzfristig "leuchtende Augen" entfacht, während es den Anschein erweckt, als ob die Realität lediglich stagnierend ertragen wird, solange es noch geht ... dann bekommt diese Trauer (durch die mangelnde, verweigerte, in jedem Fall nicht stattfindende Auseinandersetzung mit der Realität) etwas Pathetisches.

Auch mir fehlt hier der "Kontext". = Das Eingebettet- oder/und auch Einsamsein dieser Person im Bezug auf ihr Umfeld.
Mir fehlen die wertenden Reaktionen von Anderen - sowohl von Wohlgesonnenen, wie Ablehnern.
Irgendwie hängt diese Darstellung im blutleeren, phantastisierenden Raum.
Das ist schade, denn die Figur ansich läßt so einiges an Reaktionen zu.

"Harry doesn´t mind" ... ich hoffe mal: "Thing, too"!

Fritzi

 

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