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- 24.04.2003
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Thema des Monats Januar
Manchmal schaue ich in Augen, die so außerordentlich sind, dass man in ihrem Blick ertrinken möchte.
Ich frage mich dann: Warum sind es nicht meine Augen?
Die Gäste, vielmehr die Besucher der Party, starrten in weite Ferne, als wären sie überall, bloß nicht hier; an der Bar, am Pool, in bester Gesellschaft.
Es wurde viel gemunkelt, seit Professor Stromgaard seine Tätigkeiten unfreiwillig hatte einstellen müssen.
Der Schlaganfall war zu einer Art Schauergeschichte geworden, die man sich unter hervorgehaltener Hand erzählte, wenn man wusste, zu was er geworden war.
"Sekunden entscheiden über Schicksale."
Paul Mortensen lehnte sich gegen den steinernen Tresen und lächelte mich an.
"Schicksale passieren", erwiderte ich. - "Die Sekunden verstreichen indess."
Jetzt lachte er.
"Markus. Wir sollten darüber miteinander reden."
"Dann tun wir das."
"Gehen wir eine Runde?"
"Gern."
Während Wagners Klänge uns den Rücken streichelten, spazierten wir an Leuten vorbei, deren festgefrorenes Lächeln sonst wöchentlich in Illustrierten zur Schau gestellt wurde.
Ein muskelbepackter Mann sprang ins Wasser, und weibliches Gekicher folgte ihm.
"Jetzt", begann Mortensen, "wo er nicht mehr da ist, da müssen wir uns umschauen. Die Genetik erschafft sich nicht von alleine, oder?"
"Tut sie das nicht?"
Er schüttelte den Kopf und fuhr sich durch die schwarzen Haare, die heute fettig waren.
"Zu langsam. Sie wissen das. Natürlichkeit ist vollkommen, aber sie lässt sich Zeit damit."
"Verhandeln wir gerade?"
Er wandte den Blick ab, ließ ihn an einer Blondine mit Tablett haften, und winkte sie herbei.
"Champagner."
Sie nickte und reichte uns zwei Gläser.
Golden schien mir ihr Haar. Obwohl die Sonne bereits untergegangen war, so klebten einzelne Strahlen noch in den langen Strähnen, oder ich bildete es mir ein.
Ich bekam Sodbrennen von dem prickelnden Getränk.
"Nein. Keine Verhandlung. Ich setze die Maßstäbe, und Sie entscheiden, ob Sie damit einverstanden sind."
Ich musste aufstoßen.
"Champagner vertrage ich nicht."
Wagner steigerte sich in ungeahnte Höhen.
Mortensen trank sein Glas in einem Zug leer.
"Ich auch nicht", sagte er dann. - "Überlegen Sie es sich?"
"Mache ich bereits."
Wieder lächelte er.
"Genießen Sie die Party, mein Guter, und denken Sie daran: Stromgaards Nachfolge ist das Thema des Monats Januar im Konzern."
***
Ohne Zeitgefühl kann man in einem Zug reisen, solange man will. Problematisch wird es erst, wenn die Endstation erreicht ist.
Aber wer macht sich darüber schon Gedanken?
Sie sah mich an, und wieder vergaß ich in den Wellen ihrer Kraft zu schwimmen.
Unter Wasser reflektierte sich das Licht der Pupillen tausendschön und ich freute mich, als ich einen Fisch für sie fing.
Sie schwomm an mir vorbei, meine kleine Meerjungfrau.
Da erwachte ich.
Schweiß, Magenprobleme.
Der Wecker sprang an.
Ein mechanischer Wachhund, der dafür sorgt, dass die Routine nicht durcheinander gerät.
Böse kann er sein, aber auch lieb.
Unter der Dusche musste ich an Mortensens Angebot denken. Eigentlich tat ich das die ganze Zeit.
Wieso dieser Blick, an dem alles klebte?
Kann ein ganzes Universum an dir hängen, ohne dich dabei groß zu machen?
Ich vermisste die sanften Klänge, die Dramatik.
Auch im realen Leben sollte es Filmmusik geben, denn angedeutete Gefühle können ohne Zündung nicht durchstarten.
Wie Silvesterraketen. Doch nein, dies ist ein viel zu primitiver Vergleich.
Das Telefon klingelte. Mortensens Photographie erschien auf dem Display. Dieser Mann lächelte ungern.
Ich hob ab und das Bild verschwand.
"Guten Morgen", sagte er. - "Hat das Gehirn einen Entschluss gefasst?"
"Das Unterbewusste ist zu einer Einigung gekommen, und hat sie an mich weitergeleitet."
"Also kann ich auf Sie zählen?"
"Das können Sie."
Es entstand eine kurze Pause. Im Hintergrund hörte ich klackende Geräusche.
"Ich habe soeben Ihren Zugangspegel erweitert. Wenn Sie nachher kommen, wird der Lift Sie gleich in die oberste Etage bringen."
***
Ohne Zeitgefühl reise ich jeden Morgen in dem Zug, und ertrinke in ihrem fremden Blick. Die Frau ohne Namen, die mir oft gegenüber sitzt, manchmal auch im Waggon steht, und sich an eine Haltestange klammert.
Wenn es sehr voll ist, dann kann es vorkommen, dass ich sie im Gedränge gar nicht sehe. Dann bilde ich mir ein, sie zu riechen, und hinter transparenten Individueen einen flüchtigen Blick auf das Gesicht zu werfen, das ich mir nie merken kann. Denn wenn sie aussteigt, ist es so, als wäre sie nie dagewesen.
Ein Hirngespinst, getragen von meiner Hochachtung. Wenn jemand so schönes in der Nähe ist, dann wünsche ich mir Filmmusik.
Aber da ist nur das harte Geräusch von Waggons, die über stählerne Schienen fahren, und keine andere Richtung kennen, als die Wege, die von den Weichen zugelassen sind.
Es gab eine Zeit, in der die Menschen glücklich waren.
Hatte sie mir das gerade ins Ohr geflüstert, oder war es gestern, vielleicht sogar letzte Woche gewesen?
Hatte sie überhaupt zu mir geflüstert? Jemals?
***
"Guten Morgen Markus. Ihr Zugangspegel wurde geändert. Doktor Mortensen hat veranlasst, dass ich Sie in die einhundertachtzigste Etage befördere. Herzlichen Glückwunsch für Ihren Karriereaufstieg, Markus."
Durch das gepanzerte Glas des Fahrstuhls offenbarte sich mir die wahre Tragweite des Ghettos. Es musste dutzende Kilometer breit sein, denn ein Ende war nicht in Sicht, und so verschmolzen die eckigen Hochbauten mit dem Horizont. Was wohl dahinter lag?
Die Sonne ging gerade auf. Mir kamen all die Menschen in den Sinn, die aus ihrem Leben nichts gemacht hatten. Weshalb zogen sie ein Leben in der Mittelschicht vor?
Die Türen öffneten sich. Mortensen kam mir mit ausgestreckter Hand und einem Glas Cognac entgegen.
"Es scheint, als hätte die Welt einen neuen Schöpfer", sagte er.
"Mir scheint, als wenn es mir gut gehen sollte", gab ich zurück.
Er zog die rechte Augenbraue hoch.
"Da scheinen Sie aber richtig zu liegen. Können wir anfangen?"
"Gern."
Er wehrte ab.
"Aber trinken Sie doch erst Ihren Cognac, und dann noch einen, und noch einen."
Ich lächelte.
"Die Genetik erschafft sich nicht von allein, hm?"
Mortensen füllte mein Glas auf.
"Viel zu langsam. Wir tun gar nichts, außer warten."
"Worauf?"
"Na, auf den Feierabend. Na kommen Sie schon, trinken Sie noch einen."
***
Ohne Zeitgefühl verliert sich die wahrnehmbare Realität in einem Zustand von Ewigkeit. Es ist zu Eis gefrorene Routine.
Wenn da nicht sie wäre, welchen Grund könnte es geben, aufzustehen?
Da sitzt sie, die Frau ohne Namen. Ich kann sie nicht anstarren, aber den Blick will ich niemals abwenden.
Mein Quell der Inspiration.
Gleich wird sie aussteigen. Vorher fixiert sie mich noch, und ich starre doch.
Ob sie aus den Ghettos kommt?
Ein lautes Quietschen kündigt an, dass der Zug gleich halten wird. Plötzlich drängt sie sich an den anderen Fahrgästen vorbei, und legt mir ihre Hände auf die Knie.
"Wer bist du", will sie wissen, und die aufgebrachte, helle Stimme passt so gar nicht zu dem, was ich mir von ihr vorgestellt habe.
Ich zittere, weiß keine passende Antwort. Die Leute sehen in unsere Richtung.
"Ich bin ..."
"Zeit?"
Sie fleht mich an. - "Bist du Zeit?"
"Ich ... keine Ahnung."
Ihr Griff verstärkt sich, die schlanken Hände umklammern meine Oberschenkel.
"Bitte! Der Zug ist immer am Anfang, egal, wann ich aussteige. Eine Endlosschleife. Was treibt ihr für ein Spiel da oben?"
Das aufgekommene Gemurmel verstummt, als sich ein Schutzmann zu uns durchgedrückt hat. Er packt sie fest an den Schultern und legt ihr Handschellen an.
"Das reicht jetzt. Entschuldigen Sie die Belästigung."
Mir fehlen die Worte auch dann noch, als er längst mit ihr verschwunden ist. Die Leute schauen nicht mehr.
***
"Guten Morgen Markus. Ich fahre Sie nach oben."
"Ja, und am Abend fährst du mich wieder nach unten."
"Dafür bin ich da."
Mortensen macht ein trauriges Gesicht.
"Stromgaard ist verstorben. Sein Gehirn wollte nicht mehr. Die Leber, Sie verstehen?"
Ich nicke.
"Trinken wir einen?"
"Was ist Zeit", frage ich ihn.
Mortensen hält sich den Zeigefinger vor die Lippen.
"Psst! Die Mikrophone hier drin sind wachsam. Wie kommen Sie bloß auf dieses scheußliche Wort? Es grenzt ein, beschränkt das Dasein, aber dies sollte Ihnen bekannt sein."
Er verschränkt die Arme in den Seiten und seufzt laut.
"Ach, was solls. Kommen Sie."
Er legt mir seinen Arm um die Schulter und führt mich zu der breiten Glasfront. Währenddessen reicht er mir eine Flasche Cognac.
"Sehen Sie, Markus! Da draußen!"
"Die Ghettos?"
Er lächelt schüchtern.
"Haben Sie sich je gefragt, was dahinter ist, hinter dem Horizont?"
"Ja."
"Nun, aber da ist nichts. Nur noch mehr Ghettos, verstehen Sie? Die Ghettos umspannen die Welt, und wir sind die Oberen, damit die Leute Hoffnung haben."
"Zeit ist aber doch ohne Orientierung, oder etwa nicht?"
Er führt mich zu einem Schrank, der von der braunen Holzvertäfelung der Wände kaum zu unterscheiden ist.
Dann zieht er eine Schublade heraus.
"Wissen Sie, was das ist?"
Ich sehe mir den seltsamen Gegenstand genau an.
"Ist das ... eine Uhr?"
Mortensen streichelt über meinen Rücken.
"Sie können sie anziehen, aber dann wird der Fahrstuhl Sie nicht mehr nach oben bringen. Das wollen Sie doch wohl nicht wirklich, oder?"
***
Wann war gestern?
Es gab eine Zeit, in der die Menschen glücklich waren.
Woher ich diesen Satz kenne ... das weiß ich nicht.
In meinen Träumen schwimmt eine Meerjungfrau um mich herum, der ich keinen Fisch fangen kann, da der Ozean leer und still ist.
Festgefroren.
Der Zug fährt wie jeden Tag, vorbei an den verrosteten Weichen, hinter denen sich mit Unkraut überwucherte Schienen befinden. Zwei Stationen gibt es. Die, bei der ich einsteige, und die, bei der ich aussteige.
So steht es auch auf dem Fahrplan.
"Guten Morgen Markus. Ich werde Sie nach oben gefahren haben."
"Das wusste ich. Und gestern Abend wirst du mich nach unten fahren."
"Dafür war ich da."
Mortensen lacht, als er mir den Cognac reichte und mich um Wartezeit beten möchte.
"Wir werden einen langen Weg gegangen sein, als wir jetzt hier sind."
Ich schaue zu den Ghettos, die sich nie verändern, und deren Ende der Anfang ist.
"Sie sind da."
"Werden sie immer sein."
"Was liegt hinter dem Horizont?"
"Der Anfang dieses Wolkengebäudes."
"Was ist mit der unbekannten Frau?"
Er lacht.
"Stillstand, mein Freund, Stillstand. Früher könntest du sie geliebt haben. Heute sind es Schatten. Es geht uns doch gut, oder etwa nicht?"