Theodor
...und auch wenn ich mich noch so sehr anstrenge, ich kann mich im Zusammenhang mit diesem Mann an keinen anderen Anblick erinnern als den, wie er in seinem Bett liegt und hinauf zur Decke starrt; ich weiß bis heute nicht, ob er dabei in den Tag hineinträumte oder sein Kopf einfach nur leer war.
Theodor hatte bereits ein überdurchschnittliches Alter von 93 Jahren erreicht und war wohl schon sehr lange in diesem Zustand völliger Apathie; jedenfalls hatte man mir das erzählt als man mich an meinem ersten Tag herumführte und ich zum ersten Mal sein Zimmer betrat; ich war Pfleger in dem Altenheim, in dem Theodor den Rest seines Lebens verbringen sollte.
Mein Umgang mit ihm war kein inniger oder liebevoller, noch nicht einmal respektvoll, dass muss ich mir jetzt selber eingestehen. Für mich war er nur eine lästige Aufgabe auf einer langen Liste von lästigen Aufgaben, die man zu erledigen hatten und die mich von der Kaffeepause mit den Kollegen im Aufenthaltsraum abhielt oder von einem frühen Feierabend. Da musste schon mal die Körperpflege etwas ruppiger und oberflächlicher ausfallen, denn man wollte ja nicht zum Abendessen mit der Freundin oder zum Kinobesuch zu spät kommen. Theodor war dabei eine Hürde auf der Strecke zu diesem meinem Ziel, dem Ziel möglichst schnell die Liste abzuarbeiten.
Neben mir gab es nur noch einen anderen männlichen Pfleger bei uns, und Thomas war absolut rücksichtslos im Umgang mit unseren Kunden, und im Rückblick glaube ich sogar, es hat ihm eine gewisse Befriedigung verschafft, diese alten Menschen schlecht zu behandeln. Vielleicht versuchte er damit seine eigenen Unzulänglichkeiten zu kompensieren, seine kurzen Beine, die ihn gerade mal auf eine Körpergröße von 1,62m emporhoben, sein Übergewicht und sein überproportional großer Kopf, geschmückt von einem ungepflegten und schütteren Haupthaar. All diese körperlichen Unzulänglichkeiten waren wohl auch der Grund dafür, dass er nie eine echte Beziehung zu einer Frau gehabt hatte. Ich habe ihn jedenfalls nie mit einer Frau gesehen, auch hörte ich ihn niemals über „seine“ Freundin sprechen. Thomas war ein Sadist, das ist mir aber erst später klar geworden. Er schaffte es aber immer wieder, seine Missbräuche als Unfälle zu verkaufen. So wie die ausgekugelte Schulter einer älteren Dame, die er auf die Renitenz eben jener Kundin schob. Ich war dabei gewesen und habe das Funkeln in seinen Augen gesehen als er diese arme alte Frau brutal aus dem Bett stieß. Warum ich ihn damals nicht gemeldet habe, ist mir bis zum heutigen Tage ein Rätsel. Ich hätte ihn nicht decken und behaupten sollen, sie sei aus eigenem Verschulden aus dem Bett gefallen. Er wurde jedenfalls nur verwarnt. Gewöhnlich war Thomas raffiniert genug seine Misshandlungen geschickt zu tarnen. Blaue Flecken konnten schließlich auch durch den gelegentlichen Verlust des Gleichgewichtsinnes der Alten selbst herrühren. Es kam -Dank meines Zutuns oder besser „Nichtstuns“- nie zu einer näheren Untersuchung der Umstände oder gar zu seiner Kündigung. Ich glaube sogar, dass er heute noch dort arbeitet.
Falls Thomas jemals das entsprechende Alter erreichen sollte, so wünsche ich ihm, dass er in den Genuss einer ähnlichen Behandlung kommt, die er seinen anvertrauten Alten zukommen lässt. Allerdings bin ich nicht sicher, ob das jemals geschehen wird. Ich sah ihn nämlich neulich beim Einkaufen im Supermarkt. Seit dem Tag, an dem ich gekündigt habe, hat er schätzungsweise noch einmal rund 20 kg zugelegt und sein rotes, aufgeschwollenes Gesicht lässt vermuten, dass er wohl bald Bekanntschaft mit einer Sache namens Herzinfarkt machen wird.
Im Rückblick habe ich mich aber auch nicht besser verhalten, denn Gleichgültigkeit und Respektlosigkeit können ebenso eine Art von Missbrauch sein. Gibt es wirklich einen so großen Unterschied zwischen dem direkten Missbrauch durch physische oder psychische Gewalt zur Befriedigung der eigenen kranken Triebe und dem indirekten Missbrauch durch Gleichgültigkeit, der physische oder psychische Schäden zur Folge haben kann? Ist das nun eine philosophische oder juristische Frage?
Ich –und nicht nur ich allein- habe Theodor oft relativ ruppig behandelt, bei der Körperpflege zum Beispiel. Beim Füttern musste (...die Freundin wartet schließlich zu Hause mit dem Essen) schon mal ein viel zu voller Löffel im Rachen dieses Mannes entladen werden und Zeit zum Kauen oder Runterschlucken gab es nicht (...ich wollte schließlich mit meiner Freundin nach dem Essen noch ausgehen). So kam es auch schon einmal vor, dass ich Theodor ausgeschimpft habe, wenn er sich mal wieder beim Waschen und Anziehen völlig steif gemacht oder das Essen wieder ausgespuckt hat, so dass sich die ganze Prozedur verlangsamt und ich MEIN Essen erst etwas später einnehmen konnte. Wenn man sich wie ich um Menschen kümmert, dann darf man einfach keinem Stundenplan folgen. Menschlichkeit lässt sich nicht in Minuten ausdrücken. Ich selbst jedenfalls habe meine Handlungen nie als eine Form der Misshandlung empfunden und auch Theodor selbst hat nie versucht, mir sein Leid mitzuteilen. Vielleicht wollte ich die Zeichen aber auch nur nicht sehen.
Als Theodor eines Morgens tot in seinem Bett gefunden wurde, mit offenen Augen zur Decke starrend, und man am selben Tag seinen Schrank ausräumte, fand man unter einigen Kleidungsstücken am Boden des Kleiderschrankes eine Serviette, auf der folgendes geschrieben stand:
Ihr dachtet, ich hörte euch nicht reden über mich. Ihr dachtet, ich sei nur eine Pflicht, die euch von eurer Untätigkeit abhält. Ihr dachtet, ich sei bereits schwachsinnig, nur noch ein leerer Körper, eine Hülle, die es galt am Leben zu halten, als unliebsame Pflicht, bezahlt von meinem Sohn und meiner Schwiegertochter, die mich schlug.
Ich war bei Sinnen, immer, die ganze Zeit, ich war bei Sinnen, als ihr über mich gescherzt habt, über mich geschimpft und beleidigt habt. Ich habe die Schmerzen gespürt, aber kein Leid geklagt, als ihr mich roh und respektlos behandelt habt.
Ich habe diesen Brief als einer der ersten gelesen und noch am selben Tag meine Kündigung eingereicht.
Was Theodor in seinem eigenen Haus durchgemacht haben muss, bevor er zu uns kam, das weiß ich nicht. Aber offenbar ist seine Schwiegertochter gewalttätig ihm gegenüber gewesen, und um nicht ihren Zorn auf sich zu ziehen, hatte Theodor sich wohl entschieden, den apathischen Alten zu mimen. Eine wunderliche Entscheidung, hätte er doch zu seinem Sohn gehen und ihm alles berichten können. Vielleicht hat er dies auch getan und damit sein Leiden noch verstärkt, aber vielleicht hatte er auch einfach nur Angst, sein Sohn würde ihm nicht glauben. Seine Schwiegertochter hatte es dann geschafft ihren Mann davon zu überzeugen, dass sein Vater ein Pflegefall geworden sei und in ein Heim gehöre, und so kam Theodor zu uns.
Und was ist die Moral dieser Geschichte? Ganz einfach: Esst mehr Schokolade!