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Theresa
Peng! Die Tür ist zu. Gerade will sich die junge Frau erleichtert aufs Sofa plumpsen lassen, als es draussen ohrenbetäubend poltert. Erschrocken reisst sie die Wohnungstüre wieder auf und brüllt ins Treppenhaus:
„Kathrin?“
Stille. Dann leises Wimmern.
Ein graues Bündel liegt unten zwischen Kinderwagen und gestapelten Zeitungen.
Strumpfsockig saust Theresa ins Erdgeschoss, sieht die Frau, greift sie unter den Armen und dreht sie um. Die ungepflegten Haare hängen wirr und grau. Ihr Gesicht ist voller Blut.
„Mensch, Kathrin“, stammelt sie entsetzt.
„Wei - meine Füsse“, stöhnt diese.
„Was ist passiert?“
„Bin geflogen.“
„Bleib ruhig liegen, ich ruf einen Arzt!“
Theresa schiebt der Alten ihren Wollpullover unter den Nacken. Mit Puddingknien wankt sie treppauf, zurück in die Wohnung, sucht fahrig das Mobilteil und tippt mit zitternden Fingern die Notfallzahlen.
„Hilfe, kommen Sie schnell.... in den Schneewittchenweg, Schneewittchenweg 22 .... ja... ein Treppensturz, schwere Kopfverletzungen... Ohnsorg.“
Dann klemmt sie eine Decke unter den Arm und hastet zurück ins Treppenhaus.
„Nein, das glaub ich nicht, ich glaubs einfach nicht.“
Die Hand deckt Stirn und Augen. Und gibt sie nach Sekunden
wieder frei.
Der verwaiste Unfallort. Blutige Flecken sind noch an der Wand, davor ihr verschmierter Pullover.
Kreidebleich stürzt die junge Frau ins Freie.
„Kathrin, Kathrin, gleich kommt der Arzt!“
Verzweifelte Tränen.
„Lass mich doch nicht schon wieder sitzen!“
Zurück im Haus klingelt sie bei Schrauds. Sie wohnen im Erdgeschoss.
Eine ungepflegte Frau öffnet sofort. Schon bricht die Schimpfkaskade los: „Studentenschlampe, du Hurentochter ....“.
Theresa senkt den Kopf. Die Steinfliesen unter ihren Strümpfen sind kalt.
„Können Sie mir helfen?“
„Die Polizei kann ich rufen!“
Die Tür knallt zu. Sie lässt die Decke auf den Boden gleiten.
Wenig später kommen die Männer von der Notfallhilfe. Sie bringen eine Krankentrage mit. Einer hat einen Koffer. Es ist der Arzt.
„Wir wollen zu Ohnsorg“, sagt er.
„Das bin ich. Eine Frau ist die Treppe hinunter gefallen“. Theresa zeigt auf die blutigen Stellen.
„Sie hat mehrere Verletzungen am Kopf.“
„Wo ist sie jetzt,“ will der Arzt wissen. Unfälle darf man doch nicht bewegen. Kennen Sie die Frau? Haben sie sie fortgeschafft ?“
„Ich weiss, studiere Medizin. Nein, kann Ihnen nicht sagen, wo sie hin ist, sie war plötzlich weg.“
Sie holt kurz Atem.
„Kennen ist zuviel gesagt.“
Musternden Blicks zieht der Doktor die Brauen zusammen. Theresa betrachtet ihre Füsse. Die Socken haben ein Loch.
Jetzt werden seine Lippen schmal.
„Sie haben Nerven, rufen wegen eines Notfalls an. Der nimmt dann einfach so seine Beine in die Hand und geht spazieren. Glasauge sei wachsam! Da stimmt was nicht!“ Sein Blick durchbohrt die junge Frau. Dann wendet er sich an einen Sanitäter.
„Ruf die Kollegen von der Polizei, sie sollen vorbeischauen!“
Der Mann nickt und geht zum Wagen.
„In der Tat, hier stimmt gar nichts“, bricht es aus Theresa, „ich hab keine Nerven, wirklich nicht, holen Sie die Polizei, anstatt zu helfen! Ich versteh Sie nicht, Sie haben einen Eid geschworen!“
Eisiges Schweigen. Betroffen starrt sie auf die weissen Arztschuhe. Blitzsauber. Nach einer Zeit kommt der Rettungsmann zurück.
„Helmut, pass auf, die Polizei hat unsere Frau drüben im Lindenpark aufgesammelt.
Sie ist betrunken, hat randaliert und ist verletzt. Ich hab ihnen gesagt, dass die Verletzungen wohl von einem Treppensturz kommen. “
„Natürlich, der Lindenpark“, sagt Theresa.
Dann ergänzt sie leise: „Kathrins zu Hause.“
„Also ab!“ brummt Helmut. „Fahren wir rüber die Alkoholleiche verarzten!“
„Sie ist nicht nur betrunken“, flüstert die junge Frau.
Ohne einen weiteren Blick, machen sich die Helfer auf den Weg, schieben die leere Trage in den Wagen und verrammeln die Tür. Der Rettungswagen fährt ab.
Schneeflocken tanzen im Wind.
Theresa rennt los, setzt einen Schritt vor den anderen, läuft über die Strasse, den Gehweg entlang, biegt in die schmale Gasse, springt die Treppe hinauf; sie rennt und rennt gegen die kleinen Eiskristalle. Dann sieht sie die Blaulichtszene und holt kurz Atem. Mit grossen Schritten geht sie darauf zu. Auf der Bahre liegt Kathrin. Sie ist festgebunden und brüllt unverständliche Laute. Polizisten und Sanitäter umstehen sie. Jetzt hat die Alte Theresa entdeckt. Sie hebt den Kopf und spuckt im hohen Bogen in ihre Richtung.
„Auch du – bist eine Verräterin“ keucht sie heiser.
„Die wollen mich zu den Spinnen sperren. Haben mir die Gebärmutter herausgerissen. Du schweigst! Der Sender in meinem Bauch ist für die Befehle. Hörst du seinen Klang?“
Ihr schriller hoher Singsang zerreisst die kalte Luft.
Theresa starrt auf ihre Socken. Sie sind nass.
Eine Hand fasst sie an der Schulter. Sie gehört dem Menschen hinter ihr. Er zeigt ein besorgtes Gesicht.
„Paul, gottseidank! Sie war bei mir. Ist sturzbetrunken. Ich habe die Nerven verloren. Sie soll doch wenigstens halbwegs nüchtern sein, wenn sie kommt. Das hab ich ihr endlich gesagt. Da hat sie getobt und ist gegangen – wie immer. In ihrem Rausch ist sie gefallen.“
Der junge Mann fasst Theresas Hände.
„Es ist gut so. Sei froh. Kathrin hat lang genug auf der Strasse gelebt.
Fünfzehn Jahre. Jetzt kommt sie in die Klinik. Diesmal muss der Richter das Arzt- gutachten ernst nehmen. Wir können ihr helfen, Theresa. Sie ist Anfang fünfzig und kann noch viele Jahre leben. Sie wird uns dankbar sein, Theresa.“
Kathrins Klagen weichen leisem Weinen. Die junge Frau tritt zu ihr und streicht fettige Haarsträhnen aus dem verschmierten Gesicht.
„Schau, sie haben deine Wunden versorgt. Von heut an wird alles gut.“
„Du Dreck!“ faucht die Alte.
„Kommen Sie bitte gleich mit, wir brauchen ihre Aussage.“
Ein Mann von der Polizei geht auf Theresa zu.
„Woher kennen Sie die Obdachlose,“ will er wissen.
Theresa presst die Lippen aufeinander. Ihr Blick wandert unstet von Kathrin zum Arzt, schweift in die Ferne und verliert sich im glitzernden Weiss.
„Sie ist meine Mutter,“ sagt sie, verloren in sich selbst.
Da bäumt sich Kathrin auf - auf ihrer Bahre.
„Du Dreck - bist nicht mehr meine Tochter,“ zischen die blauen Lippen mit letzter Kraft. Schon zieht der Doktor seine Spritze auf und die Alte fängt an zu wimmern.
Dann schieben sie die Kranke in den Wagen. Paul schliesst die hintere Türe, er steigt ein und es geht los.
Theresa bleibt zurück mit den Männern von der Polizei.
Betreten mustert einer ihren Bauch.
„Das tut mir leid, glauben sie mir,“ murmelt er.
Sie steht nur da und hört ihn nicht.
Eine grosse, haarige Spinne hält ihren Blick gefangen. Das Wesen huscht unbeeindruckt von der Kälte über den Schnee – auf Beutesuche?
Jetzt kriecht es in die Bierdose neben der Parkbank.
Theresa Ohnsorg presst schützend beide Hände auf den Bauch.