Tief oder drei mal hinauf und zwei mal hinunter bitte!
„Tief, nicht wahr?“, fragte er und setzte sich neben mich.
Mehr als einen verwirrten Blick als Antwort brachte ich nicht zusammen.
„Du weißt, ich meine nicht die Flasche“, und verzog dabei sein Gesicht kein bisschen. War es jetzt schon so weit gekommen, dass mich wildfremde Menschen beleidigten? Was zum...
„...Teufel? Nein, der hat damit nun echt nichts zu tun. Ich bin ein Geschenk Gottes, ich bin da, um dir Trost zu spenden und dir bei zu stehen“, oh, jetzt war mir alles klar. Wie bitte? Beistehen? Was?
Ganz unverschämt zeigte er mit seinen langgliedrigen, knöchrigen Fingern auf meine Begleiterin, ein hübsches kleines Ding, ganz nach meinem Geschmack. Doch wie egal sie mir war...
„Und du glaubst, du bist ihr wichtig? Sie denkt in diesem Moment darüber nach, ob sie dich heute Abend noch einmal ran lassen soll oder ob sie einfach nur „auf Nimmerwiedersehen“ sagt“, langsam ging mir dieser Kerl auf die Nerven.
Gerade als ich anfing, ihn zu mustern, zwecks der Entscheidung „Faustschlag oder Argumentieren“, meldete sich meine Freundin zu Wort.
„Hey...“, und ich hoffte auf eine geistreiche, ja vielleicht sogar nette Meldung, „...ich muss kurz auf die Toilette, ja?“, womit das kurzzeitige Aufflackern meiner Moral wieder erloschen war.
Sie geht pissen, na wie toll. Zumindest eine Möglichkeit, Tacheles mit diesem komischen Kauz zu reden. Warum hatte sie ihn überhaupt nicht beachtet, man könnte fast sagen, absichtlich übersehen? Kannten die sich, war er ihr Ex?
„Bedeutet sie dir was?“, meinte er ganz nebenbei, während er seine Nase in meinen Bierkrug versenkte.
Klar ärgerte mich das, doch die Frage brachte mich auch auf den letzten Gedanken zurück. Der Typ war hundertprozentig ihr Ex.
Gerade als ich überlegte, ob ich ihn vor die Tür bitten oder ihm gleich hier eine mitgeben sollte, packte er mich am Oberarm und zerrte mich vom Barhocker. „Selber schuld“, dachte ich, wer zögert, den bestraft das Leben. Da er mich ganz akkurat am rechten Arm festhielt, und ich mit dem linken nur wie ein Mädchen zuschlagen konnte, musste ich mir anders helfen. Es ging alles ziemlich schnell, war kurz und schmerzvoll.
Ich wuchtete meinen Kopf in den Nacken, ja, mein Fußballtrainer wäre stolz auf mich gewesen, und zack!, nach vor, mit der Stirn in sein Gesicht. Einen Ball hätte ich nie so gut erwischt, doch ihn traf ich. Mitten auf den Höcker, ach, wie fein! Und dann kam es.
Er stolperte kurz, drehte mir den Rücken zu, verlagerte sein Gewicht auf ein Bein und kickte mir aus der Drehung mit der Ferse des anderen Fußes in die Rippen, quasi aus dem selben Bewegungsimpuls heraus, den ich ihm versetzt hatte.
Wie wusste der Typ so gut, wo er mich treffen musste?
Schmerz, stechender Schmerz, ich kniete am Boden und rang nach Luft.
Tage zuvor hatte ich bei einem eher harmlosen Zusammenstoß mit meinem Nachbarn, klar, es stand ein Fußball zwischen uns, einen Stoß auf den Brustkorb bekommen, auf die rechte Seite. Genau dorthin traf er.
Ich spürte einen Schuh zwischen meinen Schultern, er drückte mich zu Boden. Die Schuhspitze wanderte über meinen Rücken und wanderte zur besagten Stelle, überm rechten Lungenflügel, und vollzog dort einen Tanz. Nein, es war mehr so, als ob sie dort einen Zigarettenstummel ausdrückte.
„Freut mich, ich heiße Winston. Bist du jetzt bereit, mir zu folgen?“, anscheinend wusste der Mensch, wie man mich nehmen musste.
Galant, muss man sagen, beugte er sich zu mir hinunter und griff mir unter den Arm, um mir hoch zu helfen. Netter weise wählte er den linken, ein guter Mann.
„Was...?“, schon der Versuch, etwas zu sagen, ließ mich leiden.
„Frag mich später, du darfst mich dann auf ein Bier einladen“, also, obwohl ich Prügel von diesem Typen bezogen hatte, war er mir nicht unsympathisch. Vom Aussehen her erinnerte er mich stark an den Sänger von Panic! At the Disco, gepflegter und geschminkter Mensch.
Schon standen wir gemeinsam, Arm in Arm, in der Mädchentoilette. Dort hätte ich mit ihm landen können, auch ohne Prügel zu beziehen. Nur, wer möchte schon dabei gesehen werden, wie er mit einem unbekannten auf ein öffentliches WC verschwindet? Mal abgesehen davon, dass ich nicht schwul bin.
„... ja, es tut mir leid. Ich weiß, heute wär’ unser Abend gewesen, aber er wollte mich sehen... Scheiße!“, jedes Mal, wenn sie eine Atempause einlegte, um der Stimme am anderen Ende der Leitung zu lauschen, hörte man sie beschleunigt atmen. Zusammen mit ihrem Tonfall ergab das ein eindeutiges Bild, ob sie mit einem anderen sprach, musste ich mich gar nicht erst fragen.
„Ja, schon gut, O.K. Ich bin in einer halben Stunde zuhause, ich wart dann dort“, da fragte ich mich, ob sie das ernsthaft meinte. Da hätte sie einen neuen Langstreckenrekord laufen müssen, um es in der Frist zu sich nach hause zu schaffen. Aber scheinbar konnte sie es nicht erwarten, ihn zu sehen.
Somit war auch klar, dass sie zu mir noch höchstens „tschüss“ würde sagen können, mehr würde sich kaum ausgehen. Wozu sollte sie sich denn um mich kümmern, wenn bei ihr schon ein anderer auf der Matte stand? Wut stieg auf in mir.
Das Schloss ihrer Kabinentüre klickte, und ich riss mich gerade noch rechtzeitig aus meinen dunklen Gedanken, sprang in die nächstgelegene Kabine und zog sachte die Tür hinter mir zu. Ein Wolkensturm tobte in meinem Hirn, ich gab mir äußerste Mühe, ihn auch dort zu behalten. Nicht aus der Kabine stürmen. „Bleib drinnen“, betete ich mir immer wieder vor, „es hat keinen Sinn“, ich hatte es satt, Kämpfe immer von verlorenen Posten aus auszufechten.
Gerade noch konnte ich ein Röcheln unterdrücken, denn mein mitgenommener Brustkorb versorgte mich nur dürftig mit Luft, doch ich schaffte es, leise zu bleiben. Als die Tür des Toilettenraums zufiel, stürzte ich aus meinem Versteck hinaus, und mich verließ die Kraft. In einer halben Stunde würde sie unter einem anderen liegen. Mich störte nicht die Tatsache, dass sie wen anderen mochte. Im Grunde lag mir nicht viel an ihr. Beziehung, anfängliche Sympathie, Anziehung, Sex, doch Liebe war bei mir in dieser Geschichte nicht dabei. Es machte mich bloß kaputt, dass sie mich verließ, bevor ich die Gelegenheit hatte, sie zu verlassen.
In dem Lokal hatte ich nichts mehr verloren, es zog mich heim. Kurz alle Taschen abgecheckt, ja, hatte alles dabei... und beinahe hätte ich vergessen, die Rechnung zu bezahlen. Sie war nicht mehr da, meine Freundin, aber die Rechnung schon. Wäre ja auch zu schön gewesen, ich faltete das Zettelchen in einen 20 Euro Schein und legte alles auf den Tresen. Restgeld wollte ich keines, echt keinen Bock auf Erbsenzählerei in dem Moment.
Komisch, nur ich wünschte mir jemanden, der mir Gesellschaft leistet, und der erste an den ich dachte war: richtig, Winston, doch der war auf den ersten Blick nicht zu sehen, suchen wollte ich nicht. Was hatte es mit dem Typen auf sich?
Der Parkplatz hinter dem Lokal war nur spärlich beleuchtet, ein perfekter Ort, um Liebe zu machen oder ausgeraubt zu werden.
Da Bewegungen mit dem rechten Arm immer Schmerze als Begleiterscheinungen auslösten, griff ich mit der linken Hand in meine rechte Hosentasche und zog den Autoschlüssel heraus. Bestimmt sah ich ziemlich behindert aus in dem Moment, wie ich mich verrenkte, doch zum Glück war außer mir keiner da, der mich hätte auslachen können.
Per Knopf löste ich die Zentralverriegelung aus, und freute mich schon unglaublich darauf, endlich im Fahrersitz zu versinken, doch Pustekuchen!
„Hallo. Nimm auf dem Beifahrersitz Platz“, Winston schmolz förmlich dahin vor lauter Höflichkeit. Ja, spinnt der? Mein Auto, mein Sitz, nur ich fahre!
Noch bevor ich ein „Ähm“ herausbringen konnte, schälte er sich aus dem Sitz, und ich legte meine Arme um die Brust, automatischer Schutzmechanismus.
„Hast Recht, dein Auto, du fährst“, warf er mir zu, bevor er um den Wagen herumging und es sich auf dem Rücksitz bequem machte. Eigentlich wäre ich in dem Moment bereit gewesen, Plätze zu tauschen, denn ich wusste nicht, inwiefern ich überhaupt in der Lage war zu fahren.
Außerdem lag ich gerne hinten, wenn jemand anders fuhr, nur das spielte gerade keine Rolle.
„Komm schon, du bist ein guter Fahrer, du kriegst das schon hin. Nach zwei Bierchen fährst du wie Schumacher“, und bei der Bemerkung zuckte ich, kaum merklich, zusammen. Das war meine Redewendung, um nervöse Fahrzeuginsassen zu beruhigen. In etwa so: „Hey, keine Sorge, nach zwei Bier fahr’ ich wie Schumi“, was war das für ein Mensch? Was ...
„...ich bin? Frag nicht, fahr nur nach Hause, dort können wir reden“, mich wunderte es gar weiter, dass er meine Gedanken lesen konnte. Was soll’s.
„Ich fahre nicht nach Hause“, und ich war mir nicht sicher, ob ich das nun laut gesagt hatte oder nicht, doch ich bekam eine Antwort. Also doch laut gesagt...?
„Fahr nicht zu ihr. Du weißt genau, was du dort sehen wirst. Du weißt es, und ich weiß es noch besser“, langsam machte er mich sauer.
Keiner schrieb mir vor, was ich tun sollte, auch nicht, wenn es zu meinem Besten war.
„Fick dich! Wer bist du, dass...“, wieder unterbrach er mich.
„Stell keine Fragen, nein, ich mache dir keine Vorschriften. Es war nur ein Rat. Erspar dir selbst was, fahr nach hause. Und frag nicht noch einmal, wer oder was ich bin. Komm klar damit, dass ich hier bin oder bring dich um“, eine starke Ansage, so wie ich es mochte. Sein Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass von uns beiden er die Autoritätsperson war.
Trotzdem beschloss ich, nicht auf ihn zu hören, und drückte das Gaspedal demonstrativ nach unten.
Eigentlich hatte ich Lust, das Radio voll aufzudrehen, ich beließ es aber bei zwei Drittel der Maximallautstärke, da der Klang bei höherer Leistung von den eher schwachen Lautsprechern verzerrt würde.
Nummer zwei auf meiner Liste, neue Lautsprecher einbauen, gleich nachdem ich meinen Rausch ausgeschlafen hatte. Den zu verursachen war das erste, das auf meiner imaginären Liste stand, gleich nachdem ich meine Freundin in flagranti erwischte.
Sie wohnte im Donauturm, einem tollen Konstrukt aus Stahl und Glas, das am Ufer der Donau lag. Bei Tag sah die Donau ekelhaft aus, doch in der Dunkelheit ist vieles schöner als bei Licht, so auch die Donauinsel und ihr Turm.
Der Lift, mit dem ich zu ihrer Etage hinauftingelte, hatte einen verstärkten Glasboden, der trotz seiner Dicke den Blick nach unten nicht trübte.
Insgeheim hoffte ich, er würde einbrechen und mich der Erdgravitation zur Ungnade überlassen, denn ich fühlte mich schäbig. Wegen dem, was war, wegen dem, was sein würde.
Wieso war ich auf die Toilette gegangen? Wieso hatte ich ihr Gespräch mitangehört?
Warum hatte ich nicht einfach dumm und glücklich bleiben können?
Kurz zögerte ich, dann war mein Finger schon auf der Türklingel. Sie klang wie der Klingelton meines Handys, natürlich war mir das schon bei früheren Besuchen aufgefallen, und natürlich spielte es keine Rolle in dem Moment.
Egal. Die Tür ging auf, und sie stand vor mir. Sarah, mit ihren wunderschönen, schwarzen Haaren, den rosa Panties, die ich nur allzu gut kannte, und... meinem weißen T-Shirt. In MEINEM T-Shirt, und vorher hatte sie noch mit dem anderen Typen rumgemacht. Sie hatte es sicher erst angezogen, nachdem sie mit ihm fertig war!
„Was willst du hier?“, nun, ich hatte mir auch keine freundlichere Begrüßung erwartet.
Scheiß drauf, ich war sauer.
“Tu’ es!“, Winston flüsterte mit über die Schulter, harsch, bestimmt.
Ohne weiter nach zu denken griff ich ihr mit beiden Händen an den Kragen, und unterzog das Leibchen einer Zerreißprobe, die es nicht bestand. Es riss, und gab ihre toll geformten Brüste, 80 B, meinem Blick preis.
Für einen kurzen Moment war ich glücklich, nicht wegen dem Anblick ihrer Titten, sondern weil sie mein T-Shirt nie wieder würde anziehen können.
Eine Hand in meinem Gesicht, zack!, ich war noch zu berauscht von all den herumschwirrenden Gefühlen, um eine Reaktion zu zeigen.
Schmerz!, die Schlampe hatte nicht nur mit der flachen Hand durchgezogen, sie hatte zudem mit ihren immer fein Manikürten Fingernägeln ein paar, vom ersten Gefühl her ziemlich tiefe Furchen gezogen. Wehe, wenn mir Narben davon blieben!
Da stand ich und blutete wie Sau. Obwohl in mir drinnen Vulkane tobten, eine Eruption auf die andere folgte, blieb ich gefasst, alte Kavaliersschule.
Als sie mir die Türe vor der Nase zuschlagen wollte, hielt ich einen Fuß rein, auch da ließ der Schmerz nicht lange auf sich warten.
Sie wollte die Tür abermals zuschlagen, doch daran hinderte ich sie.
Mit einem Arm stemmte ich mich gegen die Türe, mit dem anderen stieß ich das Mädchen nach hinten.
So hätte es nicht kommen müssen, ich wollte ihr ja eigentlich nichts tun. Im Grunde ging es mir bloß darum, meinen Nachfolger zu sehen, den Jungen, wegen dem sie mich in der Stadt hatte sitzen lassen. Mit dem sich mich wohl seit geraumer Zeit betrog.
Da ich sie etwas fester als beabsichtigt gestoßen hatte, war sie nach hinten gestolpert und unsanft auf dem Hintern gelandet. Sie hatte nur knapp den Couchtisch verfehlt, das freute mich natürlich. Bevor ich auf dem dazugehörigen Sofa Platz nahm, zog ich im Vorbeigehen noch den Stecker des Festnetztelefons, sicher ist sicher.
Das Sofa erinnerte mich an die vielen Stunden, die ich mit Sarah verbracht hatte. Es weckte in mir das Bedürfnis, mich aus zu ziehen, doc ich spürte, dass das in dem Moment unangebracht gewesen wäre.
Sie weinte, obwohl dazu keine Not bestand, doch sie ließ sich nicht reinreden und flennte munter vor sich hin. Warum ich kein Mitgefühl zeigte? Das hatte bei spätestens zu dem Zeitpunkt aufgehört, an dem ich bemerkt hatte, das Tränen von Frauen oft nur als Mittel zum Zweck verwendet werden. Und Männer, wir dumme Spezies von Mensch, fielen schon viel zu oft auf feuchte Augen herein. Scheiß drauf.
Mit ihren zerzausten Haaren, der sich auflösenden Maskara, dem beinahe völlig entblößten Oberkörper und diesem rosa Höschen sah sie so schutzbedürftig, so begehrenswert aus!
Meine Phantasie wurde durchschnitten vom Gedanken daran, dass sie sich wahrscheinlich gerade eben einem anderen hingegeben hatte, so wie sie war. Vielleicht hatte sie auch da geweint, doch warum hätte sie sollen?
„Ich wollte das alles nicht, aber...“, sie schniefte und musste schlucken, diese Verschnaufpause nutzte ich, um mir eine Zigarette an zu zünden.
„...du warst nicht da, als ich aus’m Klo draußen war, und ich wusste nicht...“, an der Stelle unterbrach ich sie.
Ich war ja nicht eine Stunde lang in der Toilette gewesen, was für eine fiese Ausrede. Doch allein die Tatsache, dass sie versuchte sich heraus zu reden zeigte: entweder lag ihr unheimlich viel an mir, oder ich hatte ihr Angst gemacht.
„Wo ist er und wer ist er?“, endlich war ich dazu gekommen, die zwei Fragen zu stellen, die mich am brennendsten interessierten. Sie gab mir einen Blick, als ob zu dem Zeitpunkt ihr Hirn ausgesetzt hätte, weil die Meerschweinchen in ihren Laufrädern den Dienst im Kopf quittiert hatten.
„WAS?“, ach, sie wollte also lügen oder sich blöd stellen.
In kurzen Sätzen, um sie nicht zu überfordern, beschrieb ich ihr, wie ich das Telefonat auf der Toilette mitgehört hatte.
„Du warst in der Toilette? Warum läufst du mir nach, was wolltest du, was...?“, sie überschlug verbal sich vor lauter Protest.
Um den heißen Brei herum zu reden war nie meine Sache.
„Und warum betrügst du mich?“, tja, nun schwieg sie. Es verschaffte mir trotzdem keine Genugtuung. Immerhin fand ich es unbezahlbar, wie sich ihr Gesicht von einer Sekunde auf die andere veränderte. So wie das eines Schauspielers, nachdem die letzte Klappe gefallen war.
„Ich liebe dich doch“, keuchte sie mehr als das sie es sagte, bevor sie wieder in Tränen ausbrach.
Ja, das hatte ich mir nicht erwartet. Klar war ich überrascht, ich mag auch nicht leugnen, dass ich berührt war. Ihre Worte änderten aber nichts daran, dass sie mich hatte sitzen lassen, um sich mit einem anderen zu treffen.
In diesem Moment hörte ich Schritte am Gang, die Tür stand ja noch immer offen. Jemand würde Sekunden später auf der Matte stehen. Bei dem Krach, den wir beide hier veranstalteten, um die Uhrzeit, hatte es mich ein wenig gewundert, dass es so lange gedauert hatte.
Ich zog meinen Sweater aus und warf ihn dem Mädchen zu, bevor ich zur Türe sprang und diese ins Schloss warf.
Geistesanwesend, stellte ich mich zu ihr und trocknete ihr Gesicht mit meinem Unterhemd, und stieß sie dazu an, schnell meinen Pulli überzustreifen.
Wie das ging, wusste ich nicht, doch ganz auf einmal stand ihr Vater hinter mir und bedachte mich mit einem speziellen Blick, den nur Männer in der Art deuten können.
Eine Frau würde sagen, er war überrascht, vielleicht schwer irritiert oder angepisst. Ich wusste jedoch: er ließ bloß seiner Wut zeit, um seinen Geist vollständig ein zu nehmen. Es sind Momente, in denen MANN spürt, dass ein potentieller Schlag in der Luft liegt, Kraft sammelt, um sich im Gesicht des Gegenübers zu entladen.
Obwohl ich mich nie zu den harten Jungs gezählt hatte, war ich auch nicht einer, der vor einer berechtigten Schlägerei davon lief. Trotzdem wusste ich: ein Vater, der für seine Tochter kämpft, könnte auch einen Riesen, der ich ohnehin nicht war, fällen.
Der Mann, obwohl nicht von sonderlich massiver Statur, füllte in dem Moment das ansonsten geräumige Wohnzimmer vollständig mit seiner Präsenz aus. Und ganz nebenbei versperrte er den Weg zur schon viel zitierten Wohnungstüre.
Seine Worte, die nun kamen, kann ich noch heute, Monate später, unverfälscht zitieren.
„Was geht hier vor? Was macht dieser Spast hier?“, die Beleidigung ließ ich ohne Kommentar über mich ergehen. So fühlte ich mich ja auch.
„Hab’ ich dir nicht gesagt, wie oft, du sollst ihn nie wieder heimbringen? Du machst einen Arsch aus mir, was sollte der Scheiß-Anruf dann vorher? Tut mir leid, hast du gesagt, er wollte mich sehen, es passiert nie wieder, hast du gesagt!“, seine Halsschlagader stand bedenklich weit hervor, ich hätte sie mit der bloßen Hand umgreifen können.
Meine grauen Zellen, die seit Stunden auf Eis lagen, begannen zu rotieren. Ich begann zu verstehen.
„Du kleines Miststück, du Lügnerin!“, er schonte sie wahrlich nicht und ging sodann ohne Übergang zu mir über.
„Und du? Du, du kleiner Pseudo-Hippie, du elendiger Tschusch, schleich dich und wag es nicht, noch mal in ihre Nähe zu kommen! Hörst du? Nicht mal in die Nähe!“, so standen wir, sein Gesicht nur Zentimeter von meinem entfernt.
Er erhob die Hand, und ich war nach der vorangegangen Ansage viel zu fertig, um zu reagieren. Meine Gedanken waren bei Sarah.
Sie hatte keinen anderen! Ihr Benehmen, sie war die ganze Zeit über, auch in den Tagen vorher, nur wegen ihrem Vater so seltsam drauf. Meine Güte, scheinbar liebte sie mich wirklich!
Das war mein letzter Gedanke, bevor ich mich am Boden liegend wiederfand, mit brummendem Schädel, meine Wange brannte.
Scheißegal, es war nur gewöhnlicher, vergänglicher Schmerz. Obwohl ich zu seinen Füßen lag, fühlte ich mich als Sieger. Sarah liebte mich scheinbar, zum Teufel!
Mein Mädchen, ja, sie stellte sich zwischen uns, kniete sich zu mir, um mich zu schützen, obwohl ich das nicht gebraucht hätte. Ein weiterer Schlag, oder ein Tritt, hätte mir in dem Zustand nichts ausgemacht. Ich war glücklich.
„Raus hier, raus mit euch, beide!“, ein Befehl des dummen Arschlochs, den zumindest ich gerne befolgte. Sarah stützte mich, da ich doch ziemlich benommen war vom präzise gesetzten Faustschlag auf die Schläfe. Zumindest war ich nicht ohnmächtig.
Zu dem Zeitpunkt war mir mein Wohlbefinden, gelinde gesagt, wurscht.
An erster Stelle dachte ich an SIE, Sarah, meine Sarah! Wie sehr hatte ich dir Unrecht getan?
Warum hatte ich angenommen, dass du genau so bist wie alle anderen, die mich früher oder später verraten haben?
„Armer Junge“, hörte ich Winston hinter mir, was mich nicht weiter überraschte, mir aber nicht im Geringsten in den Kram passte. Er hatte mir diese Scheiße eingebrockt!
„Wärst du nicht hergekommen, hättest du dir so viel erspart. Ja, du wärst ein paar Tage lang down gewesen, aber dann hättest du wieder so wie vorher weiter machen können. Ein neuer Tag, eine neue Schlampe, die für dich die Beine breit macht. Menschen wie du und ich brauchen nicht mehr als das. Wir leben, um anderen das zu besorgen, was sie woanders nicht bekommen, ihnen das zu sagen, was ihnen von anderen nicht gesagt wird. Willst du jetzt alles umkrempeln, nur weil sie VIELLEICHT eine Ausnahme ist? Kannst du dir sicher sein?“, es war so, als ob er in meinem Kopf drinnen säße, und munter die Schubladen mit meinen innersten Phobien und Automatismen auf und zu zog.
„Bist du dir sicher, dass sie das wert ist? Willst du verletzt werden, verlassen, im Stich gelassen, dann wenn du sie am meisten brauchst? Liebe verläuft nicht linear, irgendwann muss es bergab gehen, auch nach den höchsten Gefühlen, du weißt das! Wie oft dachtest du, dass du auf die richtige gestoßen bist? Wie viele von denen hatten dich noch interessiert, nachdem du sie geknallt hattest? WIE VIELE?“, er schrie, ich hielt mir die geballten Fäuste an den Kopf, der explodieren wollte. So viele Gefühle, Logik, eingefahrene Handlungsmuster, dabei stand doch nur eines fest: ICH WILL GELIEBT WERDEN! Nein, noch mehr, ich will lieben können!
„Halt’s Maul, du Nutte!“, schrie ich aus Leibeskräften und erhob die Faust, doch er verschwand. Ehe mein Atem in der kalten Nachtluft verdampft war, erkannte ich, was ich getan hatte.
In meiner Verwirrung, oder gar im geistigen Selbstgespräch mit Winston hatte ich überhört, wie sich Sarah an mich gewandt hatte.
Und nun stand ich vor ihr, nachdem ihr Vater uns beide rausgeschmissen hatte, beschimpfte sie und drohte ihr mit der Faust. Meine Güte, so musste das ausgesehen haben!
Ihre Augen, die noch immer rot waren vom den vielen Tränen, verklärten sich noch ein wenig mehr. Sie schaute jetzt genau so traurig und entsetzt wie in dem Moment, als ich vor ihrer Tür gestanden war und ihr Betrug vorgeworfen hatte.
Die folgende Ohrfeige hatte ich mir verdient, die saß nicht schlechter, als die ihrer Vaters. So schuldig, wie ich mich fühlte, hätte ich auch hundert weitere Watschen entgegen genommen, dankend.
„Du Psycho, du verfluchter Trottel! Scheiße, ich bin so blöd! Scheiße, du... du liebst nur dich selbst, das gibt’s ja nicht! Du...“, zum Glück geriet sie an der Stelle ins Stocken, ihre Stimme versagte, oder sie bekam keine Luft, auf jeden Fall schrie sie nicht mehr.
Dann ließ sie mich wieder sitzen und lief ins Haus, wahrscheinlich wollte sie ihren Vater um Verzeihung bitten, was ich nur allzu gut verstand. Ich hatte alles gefickt, dass war nicht zu übersehen.
Wahrscheinlich, nein, ziemlich sicher hatte ich eben ihre Gefühle ad absurdum geführt gehabt, ihre ehrlichen, aufrichtigen Gefühle, meine Psychose hatte alles dahin gerafft.
„Hatte ich es dir nicht gesagt? Scheiße, der Satz, ich weiß, passt aber. Wenn du nicht hergekommen wärst, hättest du dir so viel erspart. Am Ende dieses Abends bist du ja wieder allein, nur wenn du heimgefahren wärst anstatt zu ihr, wäre dieser Schmerz, den du jetzt spürst, nicht halb so stark. Und, brummt der Schädel?“, die Dialoge mit Winston waren ein Genuss, nur hatte ich jetzt echt keine Lust auf vorgespielte Fürsorge.
Und hatte er, am Ende des Tages nun Recht oder nicht?
Ich sage nein. Zwar hatte ich einiges auf den Kopf bekommen, doch nun war ich schlauer. Emotional gesehen. Nicht alle Menschen sind schlecht, und ja, es gibt echte Gefühle wohl doch.
„Spinnst du, Alter? Krieg dich ein. Schau, sie war eine Ausnahme. Das hast du ja gemerkt, aber selbst dann hast du damit nicht umgehen können. Wie oft hast du in deinem Leben Menschen wehgetan? Glaubst du wirklich, dass du dir irgendeine Art von Glück verdient hast? Du hattest deine Chance, aber deine Paranoia war stärker als du selbst. DU kannst nicht lieben, früher oder später tust du doch jedem weh!“, jedes Wort aus seinem Mund schlug in meinem Hirn ein, riss Krater, wie eine verfickte Atombombe.
Ein Leben ohne Liebe brauchte ich nicht. Da hatte er wieder mal völlig Recht, der liebe Winston. Wie ich ihn dafür verabscheute! Schreckliches Gefühl, wenn man erkennt, dass die schönsten Gefühle auf Erden einen nicht erreichen können. Dass man für Liebe nicht empfänglich ist, so wenig wie verdörrte Erde für frische Samen. Auf mir, in mir würde nichts mehr wachsen, wohl niemals.
Integrität war mir immer wichtig, mir selber treu bleiben meine Lebensmaxime. Ich wusste immer, wo meine Grenzen lagen. Diesmal beschloss ich aber, mich selbst zu verraten und über diese Grenzen zu gehen, zu springen.
Während Winston es sich in meinem Kopf wieder bequem machte, vielleicht sogar schlafen ging, betrat ich das Gebäude neben mir, von Sarah war hier keine Spur. Winston sprach nicht mehr, doch ich spürte ihn, und allein seine Präsenz, die Tatsache, dass er existierte, machte mich fertig. Mein Körper bebte, ich zitterte wie ein kleines Kind, dass eben seine Mutter verloren hatte und nun die ganze Kälte der Welt spüren musste.
Der Lift tingelte ganz gemächlich hinauf, mir ging das nicht schnell genug, immer wieder drückte ich auf den Knopf, es sollte ja keiner einsteigen und mich in der Verfassung sehen. Also fuhr ich schon zum dritten Mal mit dem Lift das Gebäude hinauf und war auch zwei Mal herunter gefahren. Ein drittes Mal war nicht eingeplant. Nicht für den Tag. Nicht für die Nacht. Nicht für dieses Leben.