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Tief
Von der Bushaltestelle benötigte Ben eine Viertelstunde zum Haus seines Großvaters. Es stand am Rande des Dorfes und war durch einen dichten Wall aus Nadelbäumen abgeschirmt. Wäre nicht der rostige Briefkasten vor den Bäumen gewesen, wäre die Adresse schwerlich zu finden, ganz zu schweigen von dem kleinen Zauntor, das von den Nadelbäumen fast zugewachsen war. Oft hatte sein Großvater wohl nicht Besuch, was an seinem Ruf als Trunkenbold liegen mochte. Auch Ben selbst fand sich nur aufgrund eines kuriosen und ziemlich dringend wirkenden Anrufes seines Opas hier wieder - und das, nachdem er jahrelang kaum etwas von ihm gehört hatte. Er presste das Zauntor gegen den Widerstand der Zweige auf und duckte sich unter dem stacheligen Geäst hindurch. Vor ihm lagen eine verwilderte Wiese und ein leicht heruntergekommenes Haus. Über einen ausgetretenen Pfad ging er zwischen den hohen Halmen und dem Gestrüpp bis zur Haustür und klingelte. Ben hörte nach einiger Zeit Schritte, die sich dem Klang nach auf einem Holzfußboden näherten, dann ging die Tür auf und er sah einem alten Mann ins Gesicht. Ihm wurde bewusst, wie lange es her war, seit er ihn das letzte Mal getroffen hatte. Damals war Ben noch ein Kind von nicht einmal zehn Jahren gewesen. Irgendwie hatte er seinen Opa immer so in Erinnerung behalten, wie er ihn damals gesehen hatte. Nun war er ein hagerer Mann, etwas kleiner als Ben, mit grauem, aber erstaunlich vollem Haar und einer kleinen Brille mit runden Gläsern.
“Hallo, Ben”, begrüßte ihn sein Gegenüber mit brüchiger Stimme und mildem Lächeln.
“Hallo, Opa”, erwiderte Ben den Gruß auf gleiche Weise.
“Komm doch erst einmal herein und nimm im Wohnzimmer Platz”, sagte sein Großvater und ging voraus.
Ben tat wie geheißen und setzte sich in einen Ohrensessel im vorwiegend mit dunklem Holz eingerichteten Wohnzimmer. Sein Großvater setzte sich ihm in einem identischen Sessel gegenüber, nachdem er ein Glas und ein Sixpack Bier auf den Tisch zwischen ihnen gestellt hatte.
”Ein Glas? Warum trinken wir nicht zusammen?”, fragte Ben.
“Oh, aber natürlich tun wir das!”, entgegnete sein Gastgeber lächelnd, während er routiniert die beiden Flaschen mit einem Feuerzeug öffnete. “Das Glas ist für dich! Prost!”
Und noch bevor Ben sich das Glas füllen konnte, setzte sein Großvater die Flasche an. Hastig trank Ben aus dem erst zu einem Viertel gefüllten Glas. Während er es anschließend gänzlich füllte, dachte er an die Geschichten, dass sein Opa — im Gegensatz zur Realität — in Arbeitszeugnissen durchaus als “sehr gesellig” bezeichnet werden könnte. Sprich: er sprach dem Alkohol gern und häufig zu. Noch während sich der Gedanke in ihm entfalten wollte, schien sein Gegenüber ihn gelesen zu haben.
“Tja, Ben, du siehst, der Alkohol ist mir kein unvertrauter Stoff.”
Ben wusste nicht, was er dazu sagen sollte.
“Aber nicht so, wie du denkst”, ergänzte sein Opa und grinste ein wenig. “Ein Säufer bin ich nicht. Aber man könnte sagen, es gehört zum Geschäft, sich zu besaufen.” Nun wirkte sein Grinsen sogar schelmisch. War es dies, worum es ging? Ben war gespannt, was nun folgen würde.
“Also, wie soll ich anfangen … es ist eigentlich eine seltsame Sache. Nein, es ist ganz und gar unglaublich.” Sein Opa blinzelte mehrfach schnell hinter den Brillengläsern. “Du hast dich sicher schon einmal richtig betrunken, Ben?”
“Ähm, ja das kam mal vor”, antwortete Ben etwas verwirrt. Was sollte das jetzt?
“Und hast du dich mal besinnungslos gesoffen?”
“Nein, so weit bin ich nicht gekommen.”
“Nun gut. Aber du kennst die Geschichten von Leuten, die das getan haben und dann einige Kilometer entfernt an einem ihnen unbekannten Ort wieder aufgewacht sind?”
Ben erinnerte sich sogar an mehrere solcher Schwänke und bei einem waren es tatsächlich um die hundert Kilometer gewesen. “Ja”, sagte er.
“Was, wenn ein Geheimnis im Alkohol liegt, für das Leute töten würden?”
“Töten?” Ben schluckte trocken. “Bitte, worauf willst du hinaus?”
“Etwas, wonach Grenzwissenschaftler seit jeher gesucht haben und was die ultimative Waffe für jeden Geheimdienst wäre.”
“Jetzt trägst du ein bisschen dick auf, oder? Sag schon!”
“Teleportation.”
So war es also, wenn man senil wurde. Musste sich komisch anfühlen.
Sein Großvater reagierte auf Bens ungläubigen, fast leeren Blick, indem er überraschend agil von seinem Ohrensessel aufsprang und sagte: “Komm mit in den Keller. Ich werde dir alles erklären und wenn du mir dann noch nicht glaubst, kannst du meinetwegen zur Hölle fahren. Oder auch nach Hause.”
Ben hakte den Tag gedanklich ab und folgte seinem Opa in den Flur, wo dieser eine weißlackierte Holztür öffnete und eine kahle Betontreppe hinunterstieg. Im muffigen kleinen Keller angekommen blieb Opa in einer dramatischen Geste stehen.
“Du betrittst nun das Allerheiligste.” Mit diesen Worten öffnete er einen Kühlschrank an der Wand — der ausgehöhlt war und direkt durch die Mauer führte. Geduckt ging er hindurch und Ben folgte ihm. Als er sich aufrichtete sah er es. Es sah aus wie eine Mischung aus einer Bibliothek und einem Spirituosenladen, getaucht in goldenes Licht, duftend nach Wein, Whiskey, schwerem Rum, fruchtigen Likören, Kräuterschnäpsen, tausend anderen geistreichen Düften und alten Büchern. Es war ein länglicher Raum mit einem Tisch und einer Landkarte aus Kunststoff am entfernten Ende. Mit einer seltsamen Mischung aus Bescheidenheit und Stolz stand sein Opa nun in der Mitte des Raumes, eine der Lampen wie einen Heiligenschein über ihm. Ben wusste nicht recht, was er sagen sollte. Doch sein Opa kam ihm ohnehin zuvor: “Dies ist das Ergebnis von über 30 Jahren Forschung. Mein Labor und meine Basis, könnte man sagen. Um also auf die Teleportation zurückzukommen: Hier und heute werde ich dir beweisen, dass es funktioniert. Und wie.”
“Wie funktioniert es denn?”, fragte Ben.
“Die Mischung macht’s. Diese Idee ist wohl außer mir noch niemandem gekommen. Aufgrund der notwendigen Genauigkeit der Mischungsverhältnisse ist es auch quasi ausgeschlossen, dass jemand zufällig einen potenten Trunk zusammenrührt. Doch wie du siehst, bin ich gut ausgestattet.” Er schloss den Raum in einer Geste ein. “Also, wenn du zum Beispiel nach Madrid möchtest …”, er lief zu der Landkarte aus Kunststoff an der hinteren Wand, “dann musst du, ähm …”, er legte den Zeigefinger unter Madrid, wo über dem Städtenamen mit silbernem Edding eine 37 stand, “zum Fach mit der Nummer 37 gehen, wo ich bereits ein Fläschchen mit dem entsprechenden Trunk vorbereitet habe.” Er ging zu einem Regal, das mit durchnummerierten Fächern ausgestattet war und nahm aus Fach Nummer 37 das Fläschchen und klimperte mit den Fingerknöcheln dagegen.
“Und das trinke ich dann und schwupps bin ich in Madrid?”, unterbrach Ben die Ausführungen seines Großvaters.
“Neinnein, allenfalls einen Säugling könntest du hiermit nach Madrid befördern, die Menge ist für dich zu gering, um besinnungslos zu werden. In einem solchen Fall füllt man mit purem Ethanol nach, das fungiert als neutrale Zutat.”
“Neutral, inwiefern? Was bewirken die sonstigen Zutaten?” Bens Interesse war geweckt, auch wenn er immer noch nicht an die Teleportation glaubte.
“Eine gute Frage!” Bens Opa hob den Zeigefinger und grinste ihn wie ein wohlwollender Lehrer an. “Die meisten dienen zur Festlegung der Koordinaten des Ziels. Nur für signifikante Orte wie Hauptstädte und Sehenswürdigkeiten habe ich Fläschchen vorbereitet, aber ich kann dir für jeden Ort der Welt eine Mixtur erstellen!”
“Ist es nicht lebensgefährlich, so eine Mixtur zu entwickeln? Du könntest sonst wo auftauchen und nie wieder zurückkehren können!”
“Keine Sorge. Erstens habe ich stets einen Rückkehrtrunk bei mir, der mich zu den Koordinaten meines Hauses zurückbringt. Zweitens habe ich Hilfe von meinen kleinen Freunden hier.” Sein Großvater ging zum Ende eines der Regale und blieb vor einem Käfig mit weißen Mäusen stehen. Neugierig reckten die Nager ihre hektisch schnuppernden Nasen nach oben. “Sind sie nicht niedlich? Leider müssen einige der Kameraden ganz schön was durchmachen. Wie du schon sagtest, es ist gefährlich. Wenn ich eine neue Mixtur testen will, binde ich einer Maus einen Rückkehrtrunk in einem weichen Plastikschlauch um den Bauch. Sie kann ihn mit den Zähnen erreichen, aufbeißen und aussaugen. Dann -”
“Moment”, unterbrach Ben, “woher weiß sie, dass sie das tun soll?”
“Experimente haben gezeigt, dass Mäuse genauso Alkoholiker werden können wie Menschen. In ihrem Trinkwasser ist immer etwas Alkohol, so dass sie davon abhängig geworden sind. Sie können ihn durch den Plastikschlauch wittern und werden ihn austrinken, da sie Alkohol jeder anderen Flüssigkeit vorziehen — aber lass mich nun weiter erklären: auf ihrem Rücken befestige ich einen kleinen GPS-Logger, der ihre Koordinaten alle paar Sekunden speichert. Anschließend lasse ich sie von der zu testenden Mixtur trinken. Dann geschieht das Wunder.”
“Die Maus löst sich in Luft auf?”, fragte Ben fasziniert.
“Wer weiß? Noch nie hat jemand gesehen, wie sich ein Opfer einer teleportationsfähigen Mixtur in Luft auflöst. Wie gesagt, man erzählt sich einige Geschichten über solche Fälle, aber wenn man nur einmal gesehen hätte, wie jemand einfach verschwindet … die Welt hätte kopfgestanden! Die Teleportation findet nur statt, wenn kein bewusster Beobachter zusieht — das hat nichts mit der Heisenberg’schen Unschärferelation zu tun, im Gegenteil, es ist etwas ganz anderes. Du musst dich umdrehen und langsam bis zehn zählen. Dann siehst du wieder hin und die Maus ist weg. Und mit ein wenig Glück taucht sie später dank des Rückkehrtrunks hier in der Nähe wieder auf und ich kann die Daten des GPS-Loggers auswerten.” Sein Opa stemmte sich die Hände in die Seiten und sah auf den Mäusekäfig herab.
“Das klingt absolut verrückt”, sagte Ben.
“Wem sagst du das? Ich habe dich hierher geholt, um dafür zu sorgen, dass du es trotzdem glaubst. So gefährlich diese Kunst ist, sie ist sehr wertvoll, wenn sie weise eingesetzt wird. Sie darf nicht in Vergessenheit geraten. Noch heute wirst du einen Teletrunk einnehmen und an einen Ort deiner Wahl teleportiert werden.”
“Oh Mann!”, brach es aus Ben hervor. Wo sollte er nur hinreisen? Mallorca? Zu banal. Tunesien? Zu heiß. Was wäre denn mal ein wirklich exotischer Ort, wo niemand in den Urlaub hinfährt? Er grübelte.
Sein Opa unterbrach seine Gedanken: “Du kannst übrigens auch an keinem Ort erwachen, den gerade jemand ansieht. Dann bleibst du einfach besinnungslos im Suff hier liegen und der ganze elende Kater ist für die Katz’! Haha!” Ben lachte ebenfalls kurz über den Wortwitz. “Dann sollte ich eine eher menschenleere Gegend aussuchen, verstehe.”
Er ging in Gedanken möglichst menschenarme Gegenden durch. Aber interessant sollten sie auch sein und er wollte nicht völlig verloren sein.
“Finnland”, sagte er.
“Eine gute Wahl. Witzigerweise kann ich sogar Salmiakki verwenden, um die Koordinaten zu erreichen. Ich hatte eine Maus mal zu einem Punkt in Finnland gesendet. Am besten nehme ich wieder genau die gleiche Mischung, das ist am risikoärmsten, wenn du nichts dagegen hast.”
“Oh, ist schon okay!”, winkte Ben hastig ab.
“Toll, dass du dich darauf einlässt! Hier nimm das, ist ein Anti-Brechmittel. Du wirst es brauchen”, sagte sein Großvater, während er eine Tablettenpackung aus seiner Hosentasche zog und Ben überreichte. “Eine Flasche Mineralwasser steht auf dem Tisch. Nimm besser gleich drei Tabletten, dein Magen wird sonst eine Rebellion anzetteln.”
Ben schluckte die Tabletten mit dem Wasser, während sein Opa zu einem Regal ging und einen Aktenordner herausnahm. Nach kurzem Blättern fand er, was er suchte.
“Aha! Ja, hier ist das Rezept. Ich bin ja immer froh, wenn ich ein Rezept verwenden kann. Die einzelnen Zutaten beeinflussen sich oft gegenseitig und jede weitere kann den Trunk völlig verändern. Es ist wie das Lösen einer Gleichung mit zig Unbekannten. Aber hier nehme ich einfach etwas Salmiakki …”, er stand vor einem Regal, an dessen oberstem Brett ein goldenes S hing und nahm eine Flasche aus glänzendem schwarzen Plastik heraus. ”... so, davon genau 17,3 Milliliter. Das kann man auch mit einem Messbecher nicht mehr genau abmessen. Daher habe ich das Zielgefäß auf die digitale Feinwaage gestellt und tröpfle den fehlenden Rest nur noch mit der Pipette nach.” Er bückte sich zu dem Gefäß hinab, schob sich die Brille ein wenig hinab und schielte über den oberen Rand auf die Pipette, die er über dem Gefäß und dicht vor seinen Augen hielt. Mit leicht zittrigen Fingern drückte er sie vorsichtig zusammen, während sein Blick rattenschnell zwischen dem sich langsam ablösenden schwarzen Tropfen und der Anzeige der Waage hin- und herhuschte. Der Tropfen fiel. “Gut. Genau, das richtige Gewicht. Nun zu den anderen Zutaten.”
Während sein Opa zwischen den Regalen und dem Tisch herumlief, sah sich Ben ein wenig um. Als erstes ging er zum Mäusekäfig, um sich die kleinen Nager genauer anzusehen. Sie wirkten ein wenig apathisch. Er beugte sich hinab und roch an dem Trinkwasserspender – tatsächlich, eindeutig Alkohol, wenn auch in geringer Konzentration. Etwas angewidert erhob er sich wieder und schlenderte zu einem Regal in der Nähe. Mit dem Finger glitt er über die Rücken der Bücher, die hier einsortiert waren: “Der Wert des Wermuts”, “Das Wesen des Weins” und “Die Wunder des Whiskeys”, dann folgte ein Aktenordner und die Reihe wurde wieder mit Büchern fortgesetzt. Er zog den Aktenordner hinaus und klappte ihn mittendrin auf.
“Single-Malt-Whiskey
Aufgrund der vielen Wechselwirkungen der Inhaltsstoffe eines Teletrunks, sollte ausschließlich Single-Malt-Whiskey verwendet werden. Blended Whiskeys sind reines Glücksspiel.
Wirkung: Kehrt bei einem Gewichtsanteil zwischen 5 und 8 Prozent das Vorzeichen des Breitengrades um, was allerdings nicht in Gegenwart von den meisten fruchtigen Likören gilt.
Single-Malt-Whiskey fungiert außerdem als Schlichter zwischen Kristallweizen und Sambuca, es kommt folglich nicht zu dem starken Streu-Effekt auf dem Längengrad. Er sollte hierzu mengenmäßig dem Sambuca entsprechen.”
“Ach, du heilige …”, murmelte Ben.
“Wie bitte?”, kam es aus dem hinteren Teil des Raumes zurück.
“Das ist wirklich kompliziert mit diesen Tränken.”
“Jahaaa, was du nicht sagst! Deinen habe ich übrigens gleich fertig!”
Ben ging zurück zu dem Tisch, wo sein Opa gerade den Trank durch Schwenken des Gefäßes mischte. Schließlich nickte dieser zufrieden.
“So, Ben. Nun zur essentiellen Frage: wie viel verträgst du?”
“Bis ich besinnungslos werde? Das habe ich noch nicht getestet.”
“Hm, mal sehen. Im Trunk selber ist schon reichlich Alkohol. Sicherheitshalber gieße ich noch 300 Milliliter dazu.”
Ben wurde jetzt schon mulmig. Das konnte ja buchstäblich heiter werden!
“Ben, hol deine Jacke von oben, es ist vermutlich kalt. Du wirst immerhin in Lappland, einer Gegend Finnlands, ankommen.”
Ben tat, wie geheißen. Als er zurückkam, hielt ihm sein Opa eine Literflasche aus Plastik hin.
“Dies ist der Rückkehrtrunk. Er ist absichtlich sehr großzügig bemessen, denn du musst damit unter allen Umständen besinnungslos werden können. Außerdem kann es sein, dass du mehr als einen Versuch brauchst. Denk daran, während dich jemand beobachtet, kannst du nicht teleportiert werden!”
Ben nickte unbehaglich. Hoffentlich gab es in Finnland wenigstens genug Leute, dass er im Notfall Hilfe finden und nicht jämmerlich erfrieren würde. Er hängte sich den Rückkehrtrunk, der zu diesem Zweck eine Schlaufe am Flaschenhals hatte, an den Gürtel.
Sein Großvater überreichte ihm die Flasche mit dem Teletrunk. “Also dann, Ben! Auf ex!”
Dies war das Dümmste, was er seit langem gemacht hatte, dachte Ben, während er das Gefäß mit großen Schlucken leerte. Ihm stiegen die Tränen in die Augen, die Mischung hatte bestimmt 60% Alkohol. Keuchend setzte er ab und verschnaufte einige Sekunden. Er konnte schon spüren, wie ihm der Trunk gewaltig zu Kopfe stieg. Ohne das Anti-Brechmittel hätte sich sein Magen bereits komplett nach außen gestülpt. Etwa die Hälfte hatte er geschafft, nahm er mit verschwommenem Blick wahr. Abermals setzte er an und leerte das Gefäß.
“Fast fertig”, kommentierte Opa, “es kommt darauf an, dass du so gut wie alles der Mischung trinkst.” Er goss noch etwas puren Alkohol in das Gefäß und schwenkte es. “Nun trinke noch diesen Rest.”
Ben griff fast daneben, als ihm das Getränk gereicht wurde. Mit reichlich Schwung kippte er es sich hinter die Binde. Er ließ sich unsanft auf das Hinterteil fallen, aber er spürte den Aufprall kaum. Er wurde plötzlich unglaublich müde und glitt in eine liegende Position auf dem harten, kalten Kellerboden.
Sein Großvater ging zur Tür. “Ich verlasse nun den Raum. Bis dann, ich wünsche dir eine gute Reise.”
Ben hörte die Worte, aber ihre Bedeutung drang kaum in sein Bewusstsein, das eine gallertartige Konsistenz angenommen hatte.
Es war wie Einschlafen.
Feuchtwarme Luft. Ein flackerndes Licht im verschwommenen Halbdunkel.
Eine leise männliche Stimme: “Du wirst wach. Endlich.”
“Ja …” Ben brachte sich mühsam in eine sitzende Position. Er war auf eine Liege gebettet. Bevor er seine Umgebung oder den anderen Menschen nur eines Blickes würdigte, krümmte er sich zusammen und rieb sich Augen und Gesicht.
“Du scheinst einen Kater zu haben. Einen ordentlichen”, sagte der Mann.
Nun sah Ben ihn erstmals an. Er schätzte ihn auf etwas über dreißig Jahre. Sein Gesicht war jugendlich, glatt rasiert und recht blass. Der Mann stellte die Laterne, von der das flackernde Licht herrührte, auf einen kleinen Tisch neben der Liege. “Mein Name ist Walter.” Er hielt ihm wohlwollend die Hand zum Gruß hin. Ben ergriff sie träge und verwirrt. Es dauerte ein wenig, bis er seine Gedanken soweit geordnet hatte, dass er sich auch vorstellen konnte. “Ben heiß ich. Hallo.”
Walter wartete geduldig ab, bis Ben sich weiter gesammelt hatte. Dann fragte er: “Wie kommst du hierher? Wir haben dich nahe des Flusses gefunden. Kommst du von draußen?”
Ben hatte mittlerweile verblüfft festgestellt, dass er sich in einer Höhle befand. “Ich ... ich weiß nicht.” Sein Opa, der Trank, die Teleportation. Es hatte geklappt. Er entschied, dass er es für sich behielt und sagte nichts weiter.
Walter sah zu Boden und nickte langsam und verständig. “Du musst sehr viel getrunken haben. Hoffen wir, dass dein Gedächtnis zurückkehrt. Wir würden es alle gern wissen.”
“Wir?” Anscheinend war er als Schnapsleiche schon zu einiger Bekanntheit gelangt.
Walter runzelte kurz die Stirn. “Vermutlich muss ich dir einiges erklären. Kannst du aufstehen?”
Mit viel gutem Willen verschob Ben seine Sitzposition auf den Rand der Liege und belastete seine Beine. Er stand langsam auf. Für einen kurzen Moment drehte sich die Höhle, aber er überstand ihn.
“Gut.” Walter klatschte sich auf einen Schenkel, stand von seinem Schemel auf und ergriff die Laterne. “Folge mir einfach.”
Während sie die Kammer verließen und in einen grob behauenen Gang eintraten, fiel Ben ein, dass er selbst auch einige Fragen hatte.
“Ist das hier … Finnland?”
Walter blieb stehen und sah ihn irritiert an. “Du wirst doch wenigstens wissen, in welchem Land du bist! Was musst du gesoffen haben! Ja, das hier ist Finnland. Etwa einen Kilometer unter der Oberfläche.” Er ging weiter.
Mit einem Mal fühlte sich Ben von dem Gewicht der Gesteinsmassen fast erdrückt. Er war noch niemals annähernd so tief unter der Erde gewesen. Aber wenigstens war er in Finnland. Moment. “Warum sprichst du deutsch? Und bei deinem Namen kommst du auch aus Deutschland, oder?”
“Scharf kombiniert!”, sagte Walter grinsend. “Und warte erstmal, bis du Wolfgang, Friederich und die anderen kennenlernst.” Nach kurzer Pause fügte er verschmitzt hinzu: “Die haben nämlich auch deutsche Namen.”
“Wie kommt das?”
“Nur mit der Ruhe. Ich führe dich erstmal ein bisschen herum. Morgen stelle — Vorsicht, hier ist die Decke sehr niedrig — morgen stelle ich dich offiziell vor und dann ist die Zeit für alle Fragen.”
Sie bogen links ab, dann öffnete sich der Gang zu einer niedrigen, aber sehr langen Höhle. Walter gebot ihm mit einer Geste, anzuhalten. Das flackernde Licht von Walters Laterne spiegelte sich am Boden zitternd vielfach wider. Es war ein Fluss, der kaum hörbar dahinplätscherte.
“Dies ist der Fluss, neben dem wir dich gefunden haben.”
“Wo kommt er her?”
“Keine Ahnung. Weiter oben tritt der Fluss in diese Höhle ein. Die Höhlendecke liegt dort unter der Wasseroberfläche. Hier unten verschwindet der Fluss auf die gleiche Weise.” Mit diesen Worten ging Walter ein paar Schritte flussabwärts und hielt die Laterne tiefer. Ben konnte sehen, wie ein kurzes Stück weiter die Höhlendecke sich steil nach unten neigte und die Wasseroberfläche durchbrach. Die Reflexionen vom Wasser warfen flackernde Schemen auf sie.
“Der Fluss mündet in einen See in der Haupthöhle, der tief unten einen Abfluss hat. Hier in der Strömung und Enge des Flusses können wir Fische viel komfortabler fangen als im See.” Walter deutete auf einige Reusen, die im Wasser hingen. “Ohne sie könnten wir hier nicht überleben. Unsere Lampen würden ohne den Fischtran auch nicht funktionieren.” Er klopfte an die Laterne. Anschließend ging er mit Ben zurück zu der Stelle, wo sie links abgebogen waren. Von dort war es nur ein kurzes Wegstück bis zu einer wesentlich geräumigeren Höhle, die eine feuchte Luft hatte. Und erbärmlich stank.
“Nicht besonders angenehm hier, was?”, bemerkte Walter. “Das hier ist unsere Pilzzucht, unsere zweite wichtige Nahrungsquelle. Wir halten sie mit Fischresten und anderen organischen Abfällen am Laufen.”
Trotz des Gestanks trat Ben interessiert näher. Die Pilze waren weiß und ungewöhnlich groß. Eine solche Art hatte er noch nie gesehen.
“An dieser Stelle”, sagte Walter, “pausieren wir fürs erste. Du wirst morgen noch mit Neuem überschwemmt werden und solltest dich ausruhen.” Ben nickte stumm und zusammen gingen sie zurück in die Kammer, in der er erwacht war. Vor seiner Liege fand sich eine Schüssel mit dampfender Suppe. “Wie du siehst, wird für dich gesorgt”, sagte Walter und zündete, wie um diese Worte zu unterstreichen, eine Fischtranlampe auf dem kleinen Tisch neben der Liege an. Bens Magen grummelte vernehmlich, was Walter zu einem kurzen Lächeln veranlasste. “So, ich muss noch den Termin für die Versammlung morgen vereinbaren. Ruh’ dich aus, du solltest schlafen. In frühestens acht Stunden ist es soweit.”
“In Ordnung”, sagte Ben und musste gähnen.
Walter verließ die Kammer und zog einen einfachen Vorhang im Eingang zu.
Ben setzte sich mit krummem Rücken auf den Rand der Liege und löffelte die Suppe. Sie bestand aus Fischen und Pilzen, was ihn nicht weiter verwunderte. Es schmeckte ihm, aber das konnte auch wegen des Hungers sein, der ja bekanntlich der beste Koch ist.
Gesättigt und zufrieden legte er sich schließlich nieder. Seine Gedanken kreisten um die Merkwürdigkeiten dieses Tages. War überhaupt noch der gleiche Tag, an dem er aufgebrochen war? Er hatte eine ganze Weile in Besinnungslosigkeit und Schlaf verbracht. Sehr wahrscheinlich, so sagte ihm sein Zeitgefühl, war jetzt Abend, was mindestens der Abend des nächsten Tages sein musste. Unbewusst griff er zu seinem Handy, das er stets als Uhr benutzte. Millisekunden später riss er es sich förmlich aus der Tasche und wollte sofort seinen Opa anrufen. Kein Empfang. Natürlich. Er schaltete es aus, damit wenigstens der Akku länger hielt und steckte es zurück in die Tasche. Mit einem flauen Gefühl im Bauch suchte er nach dem Rückkehrtrunk. Er fand ihn auf einem kleinen knöchernen Regal stehend. Das musste er sich einprägen. Seine Gedanken trieben weiter. Wie viele Leute mochten hier leben? Und vor allem: warum? Was würde ihm morgen noch gezeigt werden? Trotz aller Gedanken glitt er langsam in den Schlaf. Er merkte nicht mehr, wie jemand hereinkam und die Tranlampe behutsam löschte.
“Aufgestanden!” Walter stand im Eingang.
Er bedeutete Ben, zu folgen, und so mühte er sich auf die Beine und wankte schlaftrunken hinterher. Nach einer Weile betraten sie eine sehr große Höhle, die an den Wänden und zentral mit Laternen beleuchtet war. Außerdem machte Ben noch einige rechteckige Lichtquellen aus, die anscheinend von kleinen Steinhäuschen kamen.
“Man könnte dies unseren Versammlungsplatz nennen. Hier spielt sich das öffentliche Leben ab”, erläuterte sein Fremdenführer.
Etwa ein Dutzend Leute saß bereits in der Mitte auf grob behauenen Steinblöcken, die in einem Kreis angeordnet waren. Zwei Plätze waren noch frei. Walter wies einladend auf einen der beiden Blöcke und setzte sich nach Ben ebenfalls hin. Ben sah sich um. Es gab nur eine Frau in der Runde, die anderen Personen waren ältere Männer und einige im mittleren Alter. Einer war ganz besonders alt, vielleicht neunzig Jahre. Walter war mit seinen etwa dreißig Jahren anscheinend der jüngste. Sie alle waren so blass wie man es bei einem Leben in dieser Umgebung erwarten würde. Und sie hatten, Ben traute seinen Augen kaum, abgetragene Wehrmachtsuniformen an. Er drehte sich verblüfft zu Walter — auch dieser hatte eine Uniform an, was Ben in seiner Müdigkeit bisher nicht aufgefallen war. Lediglich die Frau trug ein einfaches Gewand. Der Älteste, der ihm im Steinkreis gegenüber saß, grinste schief und zeigte dabei seine schlechten Zähne.
“Ben, das ist der Rat”, stellte Walter die Gruppe vor. Ben nickte vorsichtig.
Walter wies der Reihe nach auf die Leute und nannte ihre Namen: “Unser Ältester Gustav, Friederich, Gerhard, Peter, Hermann, Oskar, Susanne, Harald, Georg, Christoph und Wolfgang.”
Friederich war fast so alt wie Gustav und ihm fehlte das linke Bein.
“Ich habe dem Rat bereits von dir so viel berichtet, wie ich weiß”, sagte Walter, “Als erstes wiederhole ich die wohl wichtigste Frage von gestern: wie bist du hierher gekommen?”
Die Gruppe wurde plötzlich so still als würden alle den Atem anhalten.
“Ich weiß nicht”, sagte Ben und versuchte, dabei nicht zu zögerlich zu wirken. Seit gestern Abend war er noch nicht dazu gekommen, sich eine plausibel klingende Erklärung zu überlegen. Die Wahrheit konnte er auch nicht sagen, egal, wie er sie formulieren würde. Ein Bestehen auf der Wahrheit könnte seine Gastgeber sogar beleidigen, da sie sich auf offensichtliche Weise belogen fühlen würden.
Walter seufzte fast unmerklich. “Das wäre auch nicht das Einzige, was uns interessiert. Du kannst uns aber sicher sagen, was mit dem Krieg ist. Ich nehme an, dass er vorbei ist. Wie ist es ausgegangen?”
Ben schluckte. Er saß hier im Kreise von Menschen in Wehrmachtsuniformen, deren Gesinnung schwer einzuschätzen war. Natürlich war Walter zu jung, um den Krieg miterlebt haben zu können, aber auch er trug mit Stolz eine Wehrmachtsuniform, die wohl von seinem Vater oder eher Großvater stammte. Gustav, der Älteste, war mit Sicherheit im Krieg gewesen, Friederich ebenfalls.
“Deutschland hat verloren.”
Gustav sah auf seine Füße, Friederich hustete und die anderen murmelten einige betroffene Worte oder Flüche. Anschließend hatte Ben ein langes, aber nicht unangenehmes Gespräch mit der Gruppe, die ihn mit Fragen löcherte. Als erstes musste er versichern, dass es Deutschland gut ging und es nicht besetzt war. Bereitwillig erklärte er alles, was er wusste. Er hielt es jedoch für klüger, den Holocaust nicht zu erwähnen, versuchte aber sonst, bei der Wahrheit zu bleiben. Es stellte sich heraus, dass die Älteren, die im Krieg gekämpft hatten, schon damals nicht besonders überzeugt von der Sache gewesen waren. Sie waren 1944 in Lappland stationiert und kämpften gemeinsam mit den Finnen gegen die Sowjetunion, die bereits Teile Finnlands erobert hatte. Letztendlich kam es jedoch zu einem Waffenstillstand zwischen der Sowjetunion und Finnland, weshalb die Deutschen nicht länger in Finnland bleiben durften. Gustav versteckte sich mit seinen Kameraden in einer Höhle, um einem zahlenmäßig weit überlegenen finnischen Trupp zu entgehen. Einige Granaten brachten die Höhle weiträumig zum Einsturz und machten eine Rückkehr unmöglich. Auf der Suche nach einem anderen Ausgang fanden sie drei finnische Bäuerinnen, die mit einigen Schafen in tiefere Regionen der Höhle geflüchtet waren. Dies sollte sich als der Wendepunkt ihrer Situation herausstellen. Dem sicheren Tod durch Verhungern in der Höhle konnten sie vorerst mit dem Fluss, der Ben schon bekannt war, entgehen. Friederich hatte die Idee, den Schafen Fischmehl zu geben, später wurde ihre Ernährung mit der Pilzzucht ergänzt.
Ben musste aufpassen, dass ihm der Mund nicht vor Staunen offen stand. Wenn das die Menschen an der Oberfläche wüssten! Auf seine entsprechende Zwischenfrage antwortete Walter: “Das muss keiner wissen. Und das darf auch keiner wissen. Wir haben die Situation oftmals im Kopf durchgespielt, aber wir könnten in die heutige Gesellschaft nicht integriert werden. Und was würde dann mit uns geschehen? Psychatrie? Zirkus?”
Ben dachte kurz nach und gab ihm völlig recht. Dabei wusste Walter noch nicht einmal von der medialen Massenverblödung und den aufdringlichen Reportern. Das kam einem Zirkus schon ziemlich nahe. Und welche technisch rückständige oder schwächere Kultur hatte in der Geschichte jemals die Begegnung mit einer weit überlegenen verkraftet? Nachdem die Höhlenbewohner und Ben sich von ihrer Welt erzählt hatten, stand Gustav auf, die anderen taten es ihm gleich. Die Versammlung löste sich auf.
Walter sagte: “Sieh dich einfach mal im Dorf um. Wir wissen ja noch nicht, wie lange du bleiben wirst, da solltest du dich mit der Gegend vertraut machen. Aber bleib in den bewohnten Höhlen, sonst gehst du verloren! Wenn du mich suchst, frag einfach nach mir.” Damit entfernte er sich. Auch die anderen Ratsmitglieder schienen sehr zurückhaltend zu sein und zerstreuten sich, um ihr Tagwerk zu verrichten. Ben stand für einen Moment etwas verloren im Steinkreis mit den Fischtranlampen. Die Dorfhöhle, in der er sich befand, war sehr groß und das Licht der Lampen bildete nur blasse Lichtflecken an der einigen Meter hohen Decke. Er schritt tiefer hinein und die rechteckigen Lichtquellen, die er beim Betreten gesehen hatte, stellten sich tatsächlich als Fenster von einfachen Steinhäuschen heraus. Die Häuser hatten anscheinend keine Dächer, soweit er dies aus seiner Perspektive beurteilen konnte. Dies war wohl einerseits unnötig, da es hier unten kein Wetter gab, andererseits wäre es wohl auch ein technisches Problem gewesen. Etwa in der Mitte der Höhle war ein großer freier Platz, der Versammlungsplatz, wie ihn Walter genannt hatte. Ben ging zu einem der Häuser, vor dem Susanne saß, die ihm aus dem Rat bekannt war. Sie hatte bereits begonnen, Wolle zu spinnen.
“Na, willst du mir etwa helfen?”, fragte sie scherzhaft.
“Ich kann das nicht, aber —”
“Schon gut. Ich bekomme das schon hin. Siehst du, ich spinne lieber draußen, da ist wenigstens ein bisschen etwas los.”
“Oh, das stimmt wohl. Wie viele Schafe habt ihr denn?”, fragte Ben.
“Fünf.”
“Das reicht?”
“Ja, immerhin können wir sie dreimal im Jahr scheren, statt zweimal, wie sonst üblich. Wir simulieren die Jahreszeiten für sie etwas schneller, in dem wir sie mal in heißen, mal in kühlen Höhlen halten. Ihr Fellwachstum wird dadurch angeregt.”
“Nicht schlecht”, sagte Ben anerkennend.
“Außerdem haben wir noch eine Methode gefunden, mithilfe von Fisch- oder Schafsgalle die Pilze zu gerben. Daraus stellen wir Pilzleder her. Das funktioniert natürlich das ganze Jahr über.”
In der Ferne begannen rhythmische Hammerschläge und Ben wandte seinen Blick vom Spinnrad ab, um nach der Geräuschquelle zu suchen.
“Das ist unser Steinmetz”, sagte Susanne, “er hat immer viel zu tun.”
“Das glaube ich.”
“Verschwinde!”, rief Susanne.
Irritiert fuhr Ben leicht zusammen. Da sah er, dass eine Katze sich an der ungesponnenen Wolle zu schaffen machte und dabei war, sich mit ihren Krallen darin zu verheddern.
“Kschh! Kschh!” Susanne wedelte die Katze mit der Hand weg, die endlich von der Wolle abließ.
Eine helle Stimme kam aus der Nähe: “Komm hierher, miezmiez, hat dich die Tante schon wieder belästigt?”
Susanne verdrehte die Augen, musste aber gleich darauf grinsen.
“Das ist Ophelia”, sagte sie, “begrüße sie doch. Und halt mit ihr bloß die Katzen fern. Miezmiez, pah!”
Ben lief der Katze hinterher, die sich tatsächlich von Ophelia hatte anlocken lassen.
Ophelia kam ihm mit der Begrüßung zuvor: “Hallo! Ich bin Ophelia, die Tochter von Walter.”
“Und ich bin Ben —”
“Der Kerl, der von oben kam, ich weiß. Das ist das tollste, was hier seit Jahren passiert ist. Ich würde eigentlich gerne wissen, wie es oben ist.” Ophelia sah ihn interessiert aus Augen an, deren Schwärze in starkem Kontrast zu ihrer blassen Haut stand. Leicht gelocktes schwarzes Haar fiel ihr auf die Schultern des schlichten weißen Wollgewandes. Sie bemerkte wohl, wie Ben sie gemustert hatte. “Du hast aber auch komische Sachen an. Das ist ja weder Uniform noch Gewand. Und die Farben erst … und die Schuhe!” Sie ging kurz in die Knie, um Bens Sportschuhe zu betrachten. “Sind die bequem? Sehen ziemlich kompliziert aus.”
“Ja, doch, man kann gut drin laufen.”
Ophelia hob einen Fuß unter dem Gewand hervor, der in einem Schuh aus einem mattweißen Material steckte.
“Ich finde, es geht nichts über Pilzfantoffeln.”
“Wie bitte?”
“Pilzfantoffeln. Oder einfach ‘Fantoffeln’, aber man kann sie nur aus Pilzleder machen.”
“So etwas kennen wir oben gar nicht. Du wolltest wissen, wie es oben ist”, erinnerte Ben.
“Ja, natürlich! Die Alten halten sich so zurück mit ihren Beschreibungen. Ich glaube, sie wollen keine Sehnsucht oder Abenteuerlust wecken. Wie ist das mit dem Himmel? Da geht es nach oben immer weiter und da ist keine Decke? Und es ist blau? Stimmt das?”
“Ja, das ist korrekt.”
“Aber das ist ja furchtbar. Ich glaube, ich müsste mich den ganzen Tag übergeben. Oder immer auf den Boden gucken. Mir wird jetzt schon schwindelig.”
Ben lachte. “Naja”, er sah nach oben an die Höhlendecke, “kann sehr gut sein.”
“Und fliegt eine Lichtkugel herum, die so hell ist, dass man davon blind werden kann?”
“Ah, die Sonne, ja.”
“Das ist vielleicht noch schlimmer. Und wie soll die eigentlich fliegen? Ich kann einen Stein werfen und der fällt sofort runter.”
“Hm, das ist ja so ähnlich. Nur dass die Erde, also die Oberfläche, eine Kugel ist, die sozusagen so geworfen wurde, dass sie um die Sonne fliegt, aber nie auf sie fällt.”
“Jetzt versteh’ ich gar nichts mehr. Aber das klingt wieder so, als würde mir davon schwindelig werden. Grausame Welt da oben, mein aufrichtiges Beileid.”
“Danke, sehr mitfühlend”, entgegnete Ben ironisch, obwohl er sich fast sicher war, dass Ophelia es ernst gemeint hatte.
“Ah, hallo Bürgermeister”, sagte sie.
Ben sah in die gleiche Richtung wie Ophelia, konnte aber nichts erkennen. Ihre Augen mussten sehr gut an die Dunkelheit angepasst sein. Aber er hörte auch keine Schritte.
“Na, wieder einen harten Tag gehabt?”, fragte Ophelia, während sie sich zu einem schwarzen Kater mit weißen Pfoten hinabbeugte und ihn zwischen den Ohren kraulte.
“Wo ist er denn?”, fragte Ben verstohlen aus dem Mundwinkel.
“Ach, tut mir leid, du kennst ihn wohl noch nicht. Dieser alte sabbernde Kater hier, das ist der Bürgermeister. Wir verstehen uns sehr gut, weil wir beide an genau dem selben Tag geboren wurden.”
Der Kater machte einen ziemlich erschöpften Eindruck und ließ Ophelias Liebkosungen apathisch über sich ergehen. Währenddessen begann ein Speicheltropfen, sich langsam seitlich aus seinem Maul abzuseilen.
“Wie alt ist er?”, fragte Ben.
“19 Jahre.”
“Sehr alt für einen Kater.”
“Ja, ich rechne jeden Tag damit, dass er stirbt. In dem Fall käme er als Nährstoff in die Pilzkammer. In seinem nächsten Leben wäre er dann vielleicht ein Pilzfantoffel. Irgendwie tröstlich. Wir würden überall zusammen hingehen.”
Ophelia seufzte. Es war ihr eine ernste Sache.
“Was macht er denn so als Bürgermeister?”
“Naja, eigentlich unterzeichnet er nur unsere Beschlüsse. Aber ich denke auch, dass er über uns wacht. Komm, ich zeige dir die Halle der Entscheidungen, dann wirst du verstehen.” Ophelia sprang auf, der Kater zeigte keine Reaktion. Der Speicheltropfen hatte den Boden erreicht und eine Pfütze gebildet und stand mit einem Faden immer noch in Verbindung mit dem Maul, aus dem er Nachschub anforderte. Ben folgte Ophelia. Sie gingen an das hintere linke Ende der Höhle, wo sich die Decke so weit absenkte, dass sie sich bücken mussten. Ein schmaler Durchgang, den offenbar der Steinmetz zu beiden Seiten mit grob verzierten Säulen ausgestattet hatte, führte in die Halle der Entscheidungen. Es wurde hier abseits der schummrig beleuchteten Haupthöhle zu dunkel, so dass Ophelia eine kleine Lampe von ihrem Gürtel nahm und sie entzündete, indem sie an einer ausklappbaren Kurbel drehte, wodurch im Inneren Funken sprühten. Der Docht glomm auf und vor Ben erschienen die Entscheidungen. Sie waren mit schmieriger schwarzer Farbe überall an die Wände und Decke der etwa 20 Meter durchmessenden Höhle geschrieben. Unter jeder war der Abdruck einer Katzenpfote. Ophelia lief langsam an einer Wand entlang und beleuchtete sie dabei. Ben las.
Es werden keine gefährlichen Exkursionen alleine vorgenommen.
20.09.1945
Tote werden zur Pilzzucht verwendet. Nach der Verwesung des Fleisches wird nur ihr Schädel regulär bestattet.
03.10.1945
Der Rat tagt mindestens einmal im Monat.
22.03.1946
Die Größe der Gruppe darf dreißig Personen nicht übersteigen.
09.03.1947
Ben ließ seinen Blick schweifen. Stundenlang hätte er hier lesen können. “Cool.”
“Wie bitte? Kuh?”
“Ich meine, das ist ziemlich faszinierend.” Ben konnte sich denken, dass er nicht allzu moderne Wörter hier unten verwenden sollte. “Und alle sind von einer Katze unterzeichnet?”
“Ausnahmslos alle. Von einem Kater, um genau zu sein. Bürgermeister ist stets der älteste und weiseste Kater — wir haben hier ein Patriarchat.” Sie musste kurz über ihre eigenen Worte auflachen.
“Natürlich werden die Entscheidungen vom Rat allein getroffen. Das mit der Pfoten-Unterzeichnung ist nur eine Tradition und ein Trick, um die Hierarchie flach zu halten. Der Bürgermeister steht über uns allen und kein einzelner hat ihm etwas zu sagen. Nur der Rat. Die einzigen Amtshandlungen des Bürgermeisters sind diese Unterzeichnungen. Machtmissbrauch fürchten wir nicht von ihm, weil er ein Kater ist. Trotzdem versuchen manche Leute, ihn mit Fischresten zu bestechen.”
Jetzt musste Ben lachen. “Mäuse mag er wohl nicht?”
“Mäuse? Du kennst diese Tiere wohl gut. Ich habe nur einmal eine gesehen, die von einem Kater tot angeschleppt worden ist. Und niemand weiß, woher sie gekommen sein könnte, so tief unter der Erde.”
“War sie … welche Farbe hatte sie?”
“Weiß. Warum?”
Das musste eine Maus sein, die sein Opa als Späher ausgesendet hatte. “Nur so”, antwortete er. “Kann sein, dass ich jemanden kenne, der diese Maus gekannt hatte.”
“Du bist komisch!”, lachte Ophelia und Ben war froh, dass seine wahre Aussage wie ein Witz klang. Nach dem GPS-Logger, der hier ohnehin für Aufsehen gesorgt hätte, und dem Trinkschlauch fragte er gar nicht erst. Der Kater musste sie beim Spielen von der Maus entfernt haben. Bens Blick fiel auf eine Entscheidung:
Auf Katzen kann im Notfall am ehesten verzichtet werden.
05.06.1948
”Das hat der Bürgermeister unterschrieben?”, wunderte sich Ben gespielt.
“Widerwillig”, antwortete Ophelia. “Bevor wir zu Abend essen, solltest du aber noch einige andere Dinge sehen.”
So wurde die Führung fortgesetzt mit einem Besuch beim Steinmetz, der zusammen mit seinem Helfer in stoischem Rhythmus schier unglaubliche Mengen an Stein bearbeitete. Die meiste Arbeit verrichteten sie in einer nahegelegenen Höhle, um die Bewohner in der Haupthöhle nicht mit den hallenden Schlägen in den Wahnsinn zu treiben. Und sie selbst?
“Du musst härter sein als der Stein, um das durchzuhalten”, sagte der grobschlächtige Helfer.
Als sie sich von den Steinmetzen entfernten, brachte Ophelia die Meinung ein, dass man eher ein schlichteres Gemüt als ein Stein haben müsse.
Die nächste Station war die Schafshöhle. Es gab einen Trog mit einem “Salat” aus Pilzen und wenig Fisch, den die Schafe wohl oder übel fressen mussten, wenn der Hunger sie plagte. Im Gegensatz zu schwer verdaulichem Gras genügten hier relativ geringe Mengen, um die Schafe zu versorgen. So kam es, dass die Schafe den größten Teil des Tages ratlos herumstanden, weil sie nicht grasen konnten, und in ihrer absolut statischen Umgebung langsam abstumpften. Ben versuchte, eines beim Blinzeln zu ertappen, jedoch vergeblich.
Der Ideenreichtum, mit dem die Höhlenbewohner ihre Ressourcen nutzten, war beachtlich. So wurde Ben gezeigt, wie man aus Fischgräten Nadeln oder filigrane Strukturen für vielerlei Zwecke anfertigte. Aus Tierfett und Asche wurde schwarze Farbe gemischt, wie sie in der Halle der Entscheidungen verwendet wurde. Metall war ein kostbares Gut, weil die Gewinnung sehr aufwändig war. Ähnlich verhielt es sich mit papierähnlichen Materialien, so dass man viele Dinge lieber an Höhlenwände schrieb, statt Schafshaut zu Pergament zu verarbeiten. Ben fühlte sich an das extrem angepasste Leben von Einwohnern der Wüste oder Sibiriens erinnert. Für einen Augenblick schweiften seine Gedanken ab und er versuchte, sich die Höhlenbewohner als Wüstennomaden vorzustellen.
“Jetzt könnten wir noch zum See”, unterbrach Ophelia Bens andächtige Bewunderung. Noch ehe er antworten konnte, zerrte sie ihn einfach an der Hand mit sich, entlang an einer zunehmend feuchter und kühler werdenden Wand der Haupthöhle. Er erinnerte sich an Walters Erwähnung des Sees, in den der Fluß mündete, und in dessen dunklen Tiefen sein kühles Wasser auch wieder durch einen Abfluss verschwand. Eine unregelmäßige Reihe aus wenigen Fackeln ließ Ben die Umrisse des Sees schon von weitem erahnen. Der Boden begann sich in einem leichten Gefälle nach unten zu neigen, als sie in den Schein der Fackeln eintraten. Es war ein beeindruckender und etwas unheimlicher Anblick, der sich Ben daraufhin bot, so dass er etwas abrupt stehen blieb. Ophelia und er hatten seit Betreten des Fackelscheins ihre Schritte bereits verlangsamt, so dass das immer noch seine Hand haltende Mädchen nur mit einem leichten Ruck gebremst wurde. Sie schien nicht überrascht über Bens plötzliches Innehalten.
Der See war so schwarz, dass er unsichtbar war. Mitten im dunklen Raum unterhalb von ihnen schwebten die Spiegelungen der Fackelflammen. Nicht die leiseste Kräuselung verriet die Wasseroberfläche. Ben hatte mit einem sanften Beginn der Wasserlinie gerechnet, aber das leichte Gefälle zu Beginn hatte ihn getäuscht. Einige Meter weiter schien der Boden abrupt nach unten abzuknicken und der schwarze Raum mit den schwebenden Flammen begann. Langsam schritten sie weiter voran und er blickte in den Abgrund. Der Abgrund blickte zurück.
“Kaum einer mag es, in diesem See zu schwimmen”, sagte Ophelia. “Ich selber habe es noch nie gewagt, denn ich glaube, dieses Wasser würde mich nicht tragen wollen. Ich würde schneller als ein Stein nach unten sinken. Oder gezogen werden. Von irgend etwas da unten.”
Ben gingen ähnliche Gedanken durch den Kopf. “Wisst ihr wie tief er ist?”
“Natürlich haben wir das mit einem Faden ausgemessen. Ungefähr 220 Meter. Es muss wohl eher ein Schacht sein, der nicht durch den Fluss gebildet, sondern erst später von ihm gefüllt wurde. Wir haben lange gebraucht, um einen so langen Faden herzustellen. Würdest du im See schwimmen?”
“Nein. Nicht, wenn es nicht unbedingt sein müsste. Es könnte ja ein Monster in der Tiefe lauern”, sagte Ben halb im Scherz.
Ophelia lachte sehr verhalten. “Man hat sich natürlich sehr bald gewisse Gruselgeschichten erzählt. Alles ausgedacht.”
“Wird wohl so sein.”
Sie schwiegen eine kurze Weile.
“Es gibt ja Pilze hier, die dich ganz komisch im Kopf machen”, sagte Ophelia unvermittelt. “Aber die dürfen wir nicht essen.”
“Eine halluzinogene Droge also”, merkte Ben an. “Psilocybin oder so.”
“Ja, eine Droge. Aber etwas ähnlich Verrücktes kannst du hier am See erleben.”
“Wie?”
“Wenn du nur noch den See siehst. Nichts anderes mehr. Dazu muss man an eine Stelle gehen, wo der Höhlenboden etwas ins Wasser hineinragt und sich dort hinsetzen, die Beine im Wasser.”
“So eine Art Landzunge.”
“Lanzunge?”
Ben fiel ein, dass Ophelia wohl noch nie dieses Wort gehört hatte. ”Land-Zunge”, sagte er überdeutlich betont.
“Ah, ich verstehe. Hier in der Nähe ist so eine.”
Sie ging mit ihm zu der genannten Stelle und sie hockten sich an der Spitze der Landzunge hin. Ophelia streifte ihre Fantoffeln ab und zog das Gewand über die Knie. Ben brauchte etwas länger, um seine Turnschuhe aufzuknoten, die Socken auszuziehen und die Hose hochzukrempeln. Für einen Moment starrten sie unschlüssig in das Schwarz vor ihnen.
“Bei drei”, sagte Ophelia.
Sie zählte und sie ließen gleichzeitig ihre Beine ins Nichts gleiten. Es war kühl. Einige Sekunden später gerieten die Spiegelbilder der Fackeln in synchrone wellenförmige Bewegung.
Ophelia flüsterte: “Wir müssen warten, bis das Wasser wieder still ist. Und rücke so weit wie möglich an den Rand vor. Du darfst auch aus den Augenwinkeln nichts mehr sehen.”
“Aber ich sehe doch dich.”
“Das macht es weniger schlimm, ja”, sagte sie, und Ben konnte mit einem Seitenblick ein leichtes Schmunzeln erhaschen.
“Ha, das will ich auch meinen. Außerdem willst du mich doch nicht in eine schlimme —”
“Pssst! Nicht reden”, unterbrach ihn Ophelia leise aber bestimmt.
Das Wasser beruhigte sich.
Ben konnte die Wasseroberfläche nicht einmal mehr erahnen. Ein flaues Gefühl breitete sich in seinem Magen aus. Er saß auf einer Klippe in der Nacht. Die Beine waren kalt. Schwebende Lichter bildeten unter ihm eine feste, rätselhafte Formation. Ihm fiel auf, dass jedes Geräusch verstummt war. Oder war es schon die ganze Zeit so still gewesen? Er hatte nicht darauf geachtet. Sein Herzschlag beschleunigte sich, er konnte das Blut im Kopf pochen hören und fühlen. Nun richtete er seine Konzentration auf eine Flamme, die in gerader Blickrichtung vor ihm schwebte. Durch den fixierten Blick ermüdete seine Netzhaut. Die weiße Fläche von Ophelia links neben ihm begann, an den Rändern beginnend, sanft zu verschwimmen und sich in der Finsternis aufzulösen wie Kalk in Säure. Daraufhin verlor er jedes Zeitgefühl. Der Boden begann sich nach vorne zu neigen, dann nach hinten. Es war wie ein Schaukeln durch das Universum. Er fühlte seine Beine nicht mehr, er war nur noch ein Rumpf. Kein Gleichgewichtssinn mehr und nur noch seine Arme, um sich abzustützen. Sein Herz machte einen Sprung und er wollte weg von hier. Schwere legte sich auf seine Brust und doch war er schwerelos. Er drehte sich.
Der nächste Atemzug sog kaltes Wasser ein.
Er konnte gerade noch die Luft anhalten und das Wasser nicht in die Lunge geraten lassen. Er schwamm nach oben. Zu den Zerrbildern der Fackeln. Oder schwamm er gerade nach unten oder einfach nur nach vorne? Nach zwei kräftigen Schwimmzügen hätte er doch längst oben sein müssen. Panisch begann er, um seine eigene Achse zu wirbeln, wobei er endgültig die Orientierung verlor. Seine Luft würde nicht mehr lang reichen, er war nicht auf diese Situation vorbereitet gewesen. Wie aus einer anderen Dimension kam plötzlich ein Arm von rechts unten auf ihn zu. Ben ergriff ihn und kurz darauf trat er auf die andere Seite über. Die Welt schnappte in ihre eigentliche Position zurück. Rechts unten wurde oben. Er musste kurz die Augen zusammenkneifen und den Kopf schütteln. Ophelia hielt in immer noch an seiner Hand, als würde sie auch von ihm fürchten, dass er wie ein Stein in die Tiefe sinken könnte. Ächzend und zitternd zog er sich auf das harte Ufer und legte sich auf den Rücken. “Wenn ich das gewusst hätte …”
“Tut mir sehr leid. Es hat dich wohl sehr mitgenommen. Ich konnte das nicht ahnen.”
“Schon gut. Es war wundervoll, ehrlich. Und du hast mir das Leben gerettet.”
Ophelia kicherte. “Du warst doch nur wenige Sekunden unter Wasser! So schnell ertrinkt man nicht. Aber gut, wenn du meinst. Dann bist du es mir jetzt wohl schuldig, meins zu retten.”
“Sehr gerne.”
“Naja, dann erkläre ich das kleine Abenteuer hiermit für abgebrochen. Wir gehen zur Steintafel.”
“Steintafel?”
“Wo wir gleich zu Abend essen werden.” Ophelia streifte sich ihre Fantoffeln über und Ben begann mit dem umständlichen Anziehen seiner Socken und Schuhe. Während Ophelia ihn dabei milde amüsiert beobachtete, erläuterte sie: “Formal heißt es eigentlich ‘Steinerne Tafel’. Es sind große lange Tische, an denen alle Platz finden. Und sie sind natürlich aus Stein. Für mich ist das nichts Besonderes, aber der Begriff ‘Steinerne Tafel’ kam von den Alten, die sagen, dass Tische oben aus … Holz sind.”
“Ja, Holz ist —”
“Holz ist das Fleisch von Bäumen!”, ereiferte sich Ophelia. “Und Bäume sind Pflanzen und Pflanzen sind keine Pilze und keine Tiere!”
Ben konnte sein Lachen nicht unterdrücken.
Sie wirkte irritiert. “Aber das stimmt doch?”
“Ja, aber so habe ich das noch nie gesehen! Lass uns losgehen.”
“In Ordnung. Und deine Kleider? Die sind noch nass.”
“Die trocknen schon.” Ben wollte seine eigenen Kleider auf jeden Fall anbehalten. Auch wenn die Pilzkluft ganz schnieke war, auf sein persönliches Bisschen Moderne konnte er nicht verzichten.
Die Steinerne Tafel fand sich auf dem weiten Gelände der Haupthöhle. Sie war noch nicht offiziell eröffnet, so dass Ophelia und Ben sie vorerst für sich allein hatten — aber auch in fast völliger Dunkelheit sitzen mussten, denn die Fischtranlampen auf dem Tisch waren noch nicht entzündet. Das Möbelstück machte einen geradezu beängstigend massiven Eindruck. Zehn Zentimeter dicke Platten ruhten dicht aneinandergefügt auf steinernen Sockeln. Der Tisch musste viele Tonnen wiegen. Einzelne Sitzsteine gab es nicht, stattdessen zog sich eine niedrige Mauer wie eine Bank um den Tisch. Ophelia saß ihm gegenüber. Sie erkannte, dass Bens Augen zu wenig an die Dunkelheit gewöhnt waren und holte ihre Laterne aus ihrem Gewand hervor, entzündete sie wie gewohnt mit der Kurbel, nahm das Schutzgitter weg und entzündete mit der Laternenflamme die Fischtranlampe zwischen ihnen. In ihren tiefschwarzen Augen tanzten Spiegelbilder der Flamme. Es schien Ben, als würde er erneut Gefahr laufen, die Welt um sich herum zu vergessen. Ein laut hallender Gongschlag holte ihn plötzlich in die Realität zurück. Keine Minute später wurden die übrigen Fischtranlampen von geschäftigen Höhlenbewohnern entzündet, anschließend kamen schon die ersten Leute mit dampfenden Schalen voller Suppe. Ben wurde von jemandem hinterrücks eine ebensolche Schale hingestellt, mitsamt knöchernem Löffel zum gesitteten Verzehr. Der Arm trat nochmal von hinten in sein Gesichtsfeld und versorgte auch Ophelia. Er drehte sich zu dem Wohltäter um und erblickte Walter.
“Na?”, fragte dieser, “seid ihr auch ordentlich hungrig?”
Wie als Antwort auf diese Worte verkrampfte sich Bens Bauch und ihm stieg saurer Mageninhalt hoch. Die Suppe stank bestialisch. Ihm entrang sich ein würgendes Geräusch, das er vergeblich aus Höflichkeit zu unterdrücken versuchte. Ophelia wechselte einen schnellen, wissenden Blick mit ihrem Vater und erklärte Ben: “Das … ist fermentiertes Schafsfleisch. Wir haben hier unten keinen Kühlschrank. Die Fermentation ist eine alte Technik der Finnen und einiger Skandinavier, um Fisch haltbar zu machen, aber wir konnten das Prinzip auf Schafsfleisch anwenden. Das war eben nötig, denn wir schlachten selten Schafe.”
Ben sah sie hilfesuchend an, während er sich möglichst unauffällig aufrechter hinsetzte, um den Abstand zur Suppe zu vergrößern.
“Ja”, warf Walter ein, “es ist verrottetes Fleisch. Aber es liegt ein subtiler, doch wichtiger Unterschied zwischen verrottet und verdorben.”
“Guten Appetit”, sagte Ophelia.
Die unvermeidbare anschließende Frage- und Antwortrunde mit den Dorfbewohnern verlief im schwarzgrünlichen Schatten von Übelkeit und Brechreiz.
Abermals hielt sich Ben bedeckt über seinen Weg hier hinunter. Allerdings war diese Frage ohnehin nur von geringem Interesse für die Bewohner, denn sie hatten kein Verlangen danach, oben ein neues Leben zu beginnen. Viel interessanter fanden sie Bens Schilderungen der Oberfläche und des Zeitgeschehens. In all dem Trubel fiel Ben plötzlich ein, dass sein Großvater sich schon Sorgen machen wird. Seine Abwesenheit betrug, so erinnerte er sich, inklusive des Rausches gute zwei Tage — mindestens. So aufregend wie der heutige Tag verlief, hatte er es tatsächlich vergessen. Andererseits konnte er jetzt auch nicht plötzlich seiner Wege ziehen. Er beschloss, noch eine Nacht zu bleiben, und sich dann früh morgens in kleinem Kreise zu verabschieden. Immerhin durfte kein Beobachter dabei sein, damit die Teleportation klappte. Einen Aufruhr konnte er sich allein deshalb schon nicht leisten. Mit diesen Gedanken bat er höflich seine zu dieser Stunde noch verbliebenen wenigen Gesprächspartner und Zuhörer um ein baldiges Ende, da er müde sei. Auch Walter und Ophelia hatten ihm bis zum Ende Gesellschaft geleistet, so fiel es Ben nicht schwer, sie ein wenig auf dem Weg zu ihren Hütten zu begleiten und in einem ruhigen Moment von seiner Abreise in Kenntnis zu setzen. Beide waren nicht sonderlich erfreut. “Wir hofften, du würdest länger bleiben”, sagte Walter. “Wir haben uns doch nicht einmal ein Tausendstel von dem erzählen können, was wir müssten. Wir könnten viel voneinander lernen.”
Ben beschwichtigte. “Keiner hat gesagt, dass ich nie mehr zurückkehre. Aber man vermisst mich bereits.”
Ophelia schien erleichtert. “Wann wirst du hierher zurückkehren?”
“Genau weiß ich es nicht. So bald wie möglich. Ich möchte euch bitten, niemandem von meiner Abreise zu erzählen. Wir können uns morgen bei meinem Quartier treffen.”
Sie runzelten beide leicht die Stirn, nickten jedoch. So trennten sich ihre Wege für diesen Abend. Vater und Tochter verschwanden leise redend in der Dunkelheit. Der Weg zu seinem Quartier erschien Ben alleine recht gruselig. Mit dem Fischtran als Brennstoff wurde sparsam umgegangen. Doch die dunklen Flächen, die er zwischen den Lichtinseln durchquerte, wiesen keine unsichtbaren Stolperfallen oder Abgründe auf. Erschöpft fiel er ins Bett, und obwohl sich das Gammelfleisch in seinen Eingeweiden regte, schlief er bald ein.
“Aufwachen! Aufwachen!”
Jemand rüttelte so wild an Bens Schulter, dass er hin und her geworfen wurde. Innerhalb von Sekunden war er völlig wach und fragte hektisch, was los sei, damit er endlich nicht mehr durchgeschüttelt wurde. Er erkannte, dass es Walter war.
“Der Abfluss des Sees ist verstopft! Wir werden ertrinken!”
Ben sprang auf und stand beinahe knietief im Wasser. “Was machen wir jetzt?”
“Wir versammeln uns in der Haupthöhle.”
Sie hetzten durch die Gänge zur Haupthöhle, so schnell es der Wasserstand zuließ.
Die Leute redeten laut durcheinander, einige jammerten über ihr kommendes Schicksal, andere umarmten sich stumm. Ben erspähte Ophelia und ging zu ihr. “Was ist passiert? Warum ist der Abfluss verstopft?”, fragte er sie.
“Es gab ein kleines Beben. Dabei ist wohl irgendwo in oder vor dem Abfluss etwas heruntergekommen. Du glaubst nicht, wie schnell das Wasser steigt!”
“Kann man denn gar nichts machen?”
“Wir haben keine Möglichkeit, den Abfluss freizuräumen. Und der Fluss kommt irgendwo von oben, er wird das ganze Höhlensystem auffüllen. Die Höhle ist außerdem ziemlich flach, wir haben keinen Punkt, an dem wir wesentlich länger dem Wasser entkommen könnten.”
Ophelia zitterte und Ben hielt sie mit ausgestreckten Armen fest wie ein wackliges Regal, während seine Gedanken umherrasten. Seine einzige Möglichkeit schien ihm, den Rückkehrtrunk zu benutzen, der noch in seinem Quartier stand, und dann irgendwie Hilfe zu holen. Das könnte ihn letztendlich dazu zwingen, das Geheimnis seiner Reise zu lüften und er mochte sich nicht ausmalen, was für ein Kampf um den Rückkehrtrunk entbrennen könnte, den einzigen Ausweg. Doch er kam kaum dazu, über einen Weg zu grübeln, heimlich in sein Quartier zurückzukehren, weil ein glücklicher Zufall ihn erlöste.
“Der Bürgermeister ist weg!”, hörte er Susanne in der Nähe rufen. “Ich habe ihn überall gesucht, er kann nur noch beim Fluss sein, um mal wieder den Fischen zuzusehen.”
Walter, der bei ihr stand sagte: “Du gehst nicht allein. Auf gar keinen Fall. Diese Regel hat der Bürgermeister selber unterzeichnet, erinnerst du dich? Keine gefährlichen Exkursionen alleine!”
“Ich komme mit!”, rief Ben, während er näher watete. “Wir werden ihn schon finden!”
Walter blickte dennoch verärgert und schien sie gerade beide zurechtweisen zu wollen, als Susanne hastig sagte: “Sehr gut! Wir müssen unverzüglich aufbrechen. Der Weg zum Fluss ist schon recht hoch gefüllt.”
“Das ist viel zu gefährlich, Ben!”, mischte sich Ophelia ein.
Er ging zu ihr und sagte so leise, dass es sonst niemand hörte: “Vertraue mir.” Dann beeilte er sich, sich mit der bereits ungeduldig wirkenden Susanne zum Fluss zu kämpfen.
Sie hatte nicht übertrieben, das Wasser stand bereits fast einen Meter hoch und der Weg zum Fluss war recht niedrig. Trotzdem sollte es eine sichere Sache sein, denn es gab zwischendurch Bereiche, unter anderem Bens Quartier, deren Decke vergleichsweise hoch war, so dass auch noch genug Luft vorhanden sein würde. Die Fackeln waren so hoch angebracht, dass sie noch eine Weile brennen würden, aber sie spendeten für seinen Geschmack viel zu wenig Licht. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Er war kein Klaustrophobiker, aber während sie sich halb schwimmend, halb gehend fortbewegten, begann er seinen Entschluss fast zu bereuen. Das Plätschern ihrer Bewegungen hallte vielfach durch die dusteren Gänge. Er tastete sich an der kalten Wand entlang, schließlich sagte er zu Susanne: “Ich muss noch kurz etwas aus meinem Quartier holen. Es ist sehr wichtig.”
Susanne zögerte nur kurz. “Ist ja nur ein kleiner Abstecher.”
So erreichten sie kurz darauf ihren Zwischenstopp und Ben holte verstohlen die Flasche von dem knöchernen Regal, verbarg sie jedoch sicherheitshalber unter dem Hemd. “Ich habe, was ich brauche”, verkündete er nur und ihm fiel ein Stein vom Herzen, dass die Flasche noch auf dem Regal gestanden hatte und Susanne auch nicht weiter nachfragte. Sie schien ganz auf die Rettung des Bürgermeisters fixiert. Sorge zeigte sich zunehmend auf ihrem Gesicht und sie trieb Ben zur Eile an. Sie beide nahmen sich Fackeln mit, weil ungewiss war, ob sie auf ihrem weiteren Weg noch überall Licht haben würden. An den etwas tieferen Stellen wurde die Fortbewegung anstrengend, weil sie nun nur noch eine Hand zum Paddeln hatten und mit der anderen die Fackel hochhalten mussten. Ben wechselte die Fackel in die linke Hand, um dem rechten Arm eine Pause zu gönnen. Das kalte Wasser verhärtete die Muskeln, die Gliedmaßen fingen an zu schmerzen. Gegen die Verkrampfungen und, um später Zeit zu sparen, versuchte Ben schon hinter Susannes Rücken, unbemerkt möglichst viel von dem Rückkehrtrunk zu sich zu nehmen. Die Tabletten gegen den Brechreiz waren aufgeweicht, er musste das bittere Medikament mit einigen Schlucken qualvoll hinunterwürgen. Sie erreichten die Höhle und tatsächlich konnten sie im Schein der Fackeln einen erschöpft umhertreibenden Bürgermeister erkennen. Er maunzte müde und zittrig, als er sie sah. Das Wasser war hier gerade zu hoch für Susanne, um noch stehen zu können. Sie reichte Ben die Fackel und schwamm auf den hochwürdigen Kater zu. Dass dieser am rechten Ende der Höhle paddelte, wurde Susanne zum Verhängnis. Der Sog des dort unter der Oberfläche abfließenden Wassers erfaßte sie. Für einen schrecklichen Moment dachte Ben, sie würde nun völlig unter Wasser gezogen, doch ihre Nase blieb gerade noch über der Oberfläche, während sie mit dem Rücken an die Höhlenwand gepresst wurde. Unter großer Anstrengung schaffte sie es, noch kurz den Mund über Wasser zu heben, um prustend zu sagen: “Eine Reuse! Ich bin verheddert!”
Der heimlich eingenommene, hochprozentige Rückkehrtrunk entfaltete bereits seine berauschende Wirkung und Ben zwang sich, klar zu denken. Er sah auf seine beiden Fackeln. Sie waren die einzige Lichtquelle, denn die Fackeln in den Wandhalterungen waren in dieser Höhle bereits vom Wasser ertränkt worden. Wenn er tauchen würde, um einen Rettungsversuch zu unternehmen, würde er dies in völliger Dunkelheit tun müssen, da er die Fackeln nirgendwo trocken anbringen konnte. Susanne konnte ebenfalls keine halten, weil sie ihre Arme brauchte, um sich an der Höhlenwand ein paar lebensnotwendige Zentimeter hochzuschieben. Seine Verzweiflung stieg wie das Wasser. Er wusste, worauf es hinauslaufen könnte und begann, weitere Schlucke vom Rückkehrtrunk zu nehmen, während er beide Fackeln in einer Hand hielt. Es würde schnell gehen müssen. Das Timing musste perfekt sein für seinen letzten Versuch, sonst würde bei einem Fehlschlag nicht nur Susanne sterben. Der schlimmste Aspekt seines Planes war, dass er nicht sofort handeln konnte, sondern erst sehr knapp vor ihrem möglichen Todeszeitpunkt, falls er nicht selber sterben wollte. Die Warnung seines Opas hatte er nicht vergessen: Eine Teleportation ist nicht möglich, wenn ein bewusster Beobachter zusieht. Er versuchte, Susanne zu beruhigen, die mit schreckgeweiteten Augen zusehen musste, wie Ben sich betrank.
“I-Ich weischh wasschh … isch tue”, versuchte Ben zu beruhigen, wobei er das Lallen nicht mehr unterdrücken konnte. Immer wieder begann ihn Dunkelheit zu umfangen, bald war es soweit. Susannes Nase berührte nun oft die Wasseroberfläche und sie schnaufte spritzend aus. Schließlich kam sie kaum noch darüber und Ben nahm all seinen Mut zusammen. Jetzt war der Zeitpunkt. Er kippte einige große Schlucke des Rückkehrtrunks hinab, zog den Bürgermeister unter Wasser und wickelte ihn eng in sein Hemd. Dann brachte er sich in Position und prägte sich ein, wo Susannes in der Reuse verhedderten Füße sein mussten. Beim Hinabtauchen ließ er die Fackeln los, die augenblicklich erloschen. Frontal auf Susanne zutauchend, wurde auch er vom Sog erfaßt und gegen die Reuse gedrückt. Der Alkohol versuchte bereits, ihn der Realität zu entreißen. Er konnte ihre Füße ertasten und einen wahren Klumpen von dünnen Seilen, die sich um diese verheddert hatten. Kurz bevor er ins Nichts entglitt, wünschte er Susanne gedanklich Lebewohl. Sein besinnungsloser Körper hing noch eine kurze Weile vor ihr. Dann starb sie, womit es keinen bewussten Beobachter mehr gab, und Ben löste sich auf und verschwand aus Finnland.
Es war dunkel. Ben meinte, einen dumpfen Schmerz am Rücken zu spüren, aber genaugenommen tat ihm alles weh. Tausende kleine Finger schienen ihn abzuklopfen. Er hustete schwer. Daraufhin war er plötzlich in helles Licht getaucht und über ihm tanzten glitzernde Tropfen kristallgleich vor dem Hintergrund des finsteren Himmels.
“Hier bist du also!”, hörte Ben seinen Opa rufen, der eine grelle Taschenlampe auf ihn richtete. “Unglaublich, du liegst mitten im strömenden Regen auf dem Dach des Gartenhäuschens! Du wirst dir den Tod holen, Junge!” Ben erinnerte sich, was geschehen war. Sein Großvater hatte ihm dieses hochprozentige Zeug eingeflößt, wahrscheinlich auch noch selbstgebrannt, und er war zusammengeklappt. Dann hatte er diesen surrealen Traum von einer Höhle tief unter Finnland gehabt, von Pilzfantoffeln und einem Kater, der ein Bürgermeister war. Irgendwie musste er dann auch noch im Schlaf rausgegangen und auf die Hütte geklettert sein. Meine Güte, was für ein Scheißtag. Das war der schlimmste Suff seines Lebens. Gleichmütig starrte er nach oben, den auf ihn niederprasselnden Tropfen entgegen. Etwas stupste ihn an der Wange. Er drehte träge den Kopf und sah in gelbe Katzenaugen, die das Licht von Opas Scheinwerfer reflektierten. Halb erschrocken von einer dunklen Ahnung erhob sich Ben in eine sitzende Stellung, um das Tier genauer sehen zu können. Die Katze war schwarz und hatte weiße Pfoten. Sie sah sehr alt aus und ein Speichelfaden rann ihr aus dem Mundwinkel. Sie? Er, korrigierte sich Ben. Es war der Bürgermeister! Kein Traum. Das bedeutete …
Ben sprang auf. Ophelia durfte nicht ertrinken. Er schuldete ihr noch eine Lebensrettung.
“Warte, Ben, ich hole eine Leiter!”, rief sein Opa durch den Regen, doch Ben sprang schon währenddessen klatschend in den Matsch. “Gib auf den Kater acht”, sagte er, während er noch mühsam aufstand. “Er ist Bürgermeister.”
“Was?”
“Keine Zeit”, erwiderte Ben knapp, ließ seinen Opa verdattert zurück und rannte zum Haus, so schnell es sein Zustand erlaubte. Er würde bei weitem nicht jeden retten können, aber er würde alles geben, so viele wie möglich mitzunehmen. Sein Opa, den Bürgermeister auf dem Arm, hatte kaum die Haustür erreicht, als Ben auch schon aus dem Keller nach oben gestürmt kam, einen Finnland-Teletrunk in der einen und eine Tüte mit sämtlichen vorrätigen Rückkehrtrünken in der anderen Hand. “Räum auf, ich werde Besuch mitbringen!”, keuchte er außer Atem und öffnete hastig die Flasche, die ihn zurück in Finnlands Untergrund bringen würde.
Er schloss die Augen und stürzte die Flasche hinunter.