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Simon Zahn hetzte auf die Bushaltestelle zu. Endlich, ein Zeichen von Zivilisation. Er ärgerte sich maßlos über seinen Entschluss, eine Immobilie so weit außerhalb in Augenschein zu nehmen. Sein Sinn für Sparsamkeit, der ihn davon abgehalten hatte, einen Ersatz für seinen reparaturbedürftigen Wagen zu besorgen, verstimmte ihn nicht weiter, ja, er verschwendete nicht einmal einen Gedanken an ihn. Dabei war es gerade sein Geiz, der seinem schweren gedrungenen Körper die letzte Kraft abverlangte, während Herr Zahn, zornig über die verschwendete Zeit, sich auf der Suche nach einem öffentlichen Verkehrsmittel in dieser Einöde befand.
Die Zeit saß ihm im Nacken, und so schleppte er sich, die ersehnte Bank schon in greifbarer Nähe, zu dem Schild mit dem Fahrplan hin und suchte, seine fleischigen Finger zu Hilfe nehmend, den nächsten Bus, der ihn schnellstmöglich zu seinem Termin in der Stadt befördern sollte: Nr.175 um …15:04 Uhr. Ein Blick auf die Armbanduhr: 14:45 Uhr. Verdammt, jetzt musste er doch tatsächlich noch fast zwanzig Minuten warten!
Erschöpft ließ sich Herr Zahn auf die hölzerne Bank fallen, streckte die müden Glieder aus (seine Fußsohlen brannten wie Feuer) und verschnaufte – ein, zwei Atemzüge. Im nächsten Moment schon kramte er in seiner ledernen Aktentasche. Die Wartezeit – er blickte noch einmal auf das Ziffernblatt – würde wohl reichen, um noch schnell die Schlagzeilen des Tages durchzugehen; eine seiner unvermeidlichen täglichen Hausaufgaben.
Plötzlich nahm er einen Schatten im Augenwinkel wahr, drehte sich überrascht nach rechts und entdeckte dort einen alten Mann. Seltsam, dachte Herr Zahn. Denn ihm war, als er sich gesetzt hatte, als sei er alleine an diesem Ort. Mit einem angedeuteten Kopfschütteln verdränge er diesen Gedanken. Er musste den Alten mit dem kläglichen Haarschopf und der Brille wohl übersehen haben. Er trug eine schäbige braune Cordhose, ein weißes Hemd mit Kaffeeflecken und rote Hosenträger.
Obwohl sein Nachbar freundlich lächelte, beschloss Herr Zahn, ihn nicht zu grüßen, dies hätte nur eine langatmige Konversation nach sich gezogen und das wäre mit so einem Taugenichts reine Zeitverschwendung.
„Und?“
Zuerst überhörte er die zusammenhangslose Frage des Alten. Doch während er krampfhaft versuchte, sich auf einen Artikel zu konzentrieren, verschwammen die Buchstaben und entzogen sich so jeglicher Deutung.
„Und?“, wiederholte der Alte freundlich. „Wie war Ihr Spaziergang?“
Herr Zahn stierte auf seine Tageszeitung bis ihm die Augen schmerzten. Schließlich gab er auf und sah in das Gesicht des Fremden. Pigmentflecke, die bei dem Lächeln des Mannes auf seinen kleinen Fältchen tanzten, umrahmten mandelförmige, auffällig blaue Augen. Entspannt saß er auf der Bank, als sei er um den ganzen Globus gereist und immer noch nicht müde. Als hätte er alle Zeit der Welt, seinen Wanderstock auf den Knien balancierend, wiederholte der Mann seine Frage sehr langsam:
„Sie waren doch spazieren, als der Bus zu spät kam, wissen Sie nicht mehr? Ich weiß sogar, welches wundervolle Erlebnis Sie währenddessen hatten. Wollen Sie nicht noch ein wenig mehr erzählen? Ich meine, wir wissen ja, dass der Bus noch etwas länger auf sich warten lassen wird. Oder sollte es sogar sein, dass dies für Sie nicht mehr eine so große Rolle spielt?“
Herr Zahn erstarrte. Er wusste nicht, und das war selten, wie er reagieren sollte. Dieser Alte war verrückt, aber freundlich und er wollte ihm nicht mit Unhöflichkeit begegnen. Was faselte er da? Spaziergang? Erlebnis? Und was noch furchtbarer war: Kannte er diesen Kerl oder tat dieser nur so? Er beschloss, diesen Unsinn zu beenden.
„Kennen wir uns?“, fragte er den Verrückten. „Wenn nicht, dann lassen Sie mich bitte in Ruhe. Ich bin ein Mensch mit wenig Zeit und wenig Geduld. Also, bitte halten Sie mich nicht auf.“
Überrascht zog der Alte die schmalen Brauen hoch und schlug sich leicht mit der Handfläche auf die Stirn. Seine Bewegungen waren genauso langsam wie seine Worte: „Oh! Wie konnte ich das vergessen… Ach, die Zeit… ich hatte vergessen, dass Sie ja noch gar nicht so weit sind! Das Umdenken ist zu viel für meinen alten Kopf. Obwohl wir uns schon so lange kennen, schafft sie es immer noch, mir Streiche zu spielen…die Zeit. “ Und er lächelte, als rede er von einer alten Freundin.
Herr Zahn wurde ungeduldig.
„Entschuldigen Sie, aber ich glaube, Sie haben Ihre Gedanken nicht beisammen. Ich hatte Sie gebeten, mich in Ruhe zu lassen“, sagte er strenger.
„Schon gut“, beruhigte der Mann ihn. „Schon gut, regen Sie sich nicht auf, später – ja, später heißt es –werden Sie froh darüber sein, mich getroffen zu haben. Denken Sie nicht“ und er erhob warnend seinen Zeigefinger, „ich sei verrückt, nein, nein. Ich erinnere mich nur anders.“
Jetzt hatte der Alte es doch geschafft, Herr Zahn unterhielt sich mit ihm. Irgendwie war er neugierig geworden.
„Was soll das denn heißen?“, fragte er barsch.
„Oh… Ich werde es erklären, aber es ist auch nicht so wichtig. Ich muss es ja so ausdrücken, dass Sie es auch verstehen, nicht? Es ist so, um es in Ihren Worten auszusprechen, ich erinnere mich…ähm…verkehrt herum.“
Er sah sichtlich erfreut darüber aus, das richtige Wort gefunden zu haben. „Wissen Sie, jeder Mensch hat seinen eigenen Zeitpfeil sozusagen. Sie erinnern sich an ihre Vergangenheit und werden ihre Zukunft noch erleben. Genau dies tue ich auch, nur ist meine Vergangenheit Ihre Zukunft und meine Zukunft Ihre Vergangenheit. Und wir treffen uns, was vermutlich gar nicht sein darf, in einer gemeinsamen Gegenwart.“
Herr Zahn, währenddessen, versuchte zwanghaft sich daran zu erinnern, ob es hier in der Nähe nicht eine Nervenheilanstalt gab. Vielleicht war dieser Verrückte auf der Flucht. Vielleicht war er gefährlich.
„Ah“, erhob der Alte die Hand noch einmal. „ich weiß, was Sie sagen wollen. Müsste ich dann nicht immer jünger werden? Und heißt mein Fall, dass es Seelen gibt, die sich nicht an die Regeln der Zeit dieses Universum halten? Nein und nein. Es ist einfach nur anders“, betonte er und fügte lächelnd hinzu: „Man muss eben lernen, umzudenken.“
Der Fremde bemerkte die Schweißtropfen auf der Stirn des Geschäftsmannes.
„Sie denken immer noch, dass ich verrückt bin?“, forschte er nach.
Herr Zahn schüttelte verängstigt den Kopf. Solche Irren waren unberechenbar, er würde sich hüten, ihn zu provozieren.
„Es ist nicht gerade ein warmer Nachmittag und“, fügte er siegessicher hinzu, „Sie schwitzen. Sie denken sicher etwas ganz Schlimmes. Schon gut. Ich werde es Ihnen beweisen.“
Die ruhige freundliche Stimme des Alten, besänftigte den Immobilienmakler. Er war bereit zuzuhören – eine Seltenheit in seinem Leben. Der Fremde gab ihm mit einem lockenden Zeigefinger zu verstehen, näher zu kommen und flüsterte:
„Sie erwarten den Bus um 15:04 Uhr. Dieser Bus wird sich verspäten, in den nächsten zwei Stunden werden Sie hier nicht wegkommen. Sie werden spazieren gehen und Sie werden ein Erlebnis haben, dass Ihr Leben verändern wird.“
Etwas kribbelte in Herr Zahns Nacken. Nicht die Zeit, Gänsehaut. Er schluckte schwer.
„Was für ein Erlebnis“, wollte er wissen und rückte näher an den Fremden; die Zeitung raschelte bei der Bewegung.
Ein geheimnisvolles Flüstern gab ihm Antwort:
„Wenn das Glück sich taub anfühlt, wenn Schmerz ohne Substanz ist, beginnen Wunder kümmerlich zu erscheinen. Es findet sich kein Trost in allen schönen Dingen und in den bösen auch nicht. Du denkst, du hättest noch fünf Minuten, um dies zu tun, oder eine halbe Stunde, um jenes noch zu erledigen. Dabei merkst du nicht, dass nicht du die Zeit, sondern die Zeit dich besitzt. Dein Leben hängt an den Zeigern einer Uhr, eines banalen Erklärungsprinzips, und verschwendet sich selbst, anstatt sich deiner Seele zu widmen Die meisten Menschen brauchen eine Krankheit, die ihr Leben verkürzt, um sich ihrer Zeit bewusst zu werden. Um das Blatt zu wenden. Brauchst du eine Krankheit? Oder sind gerade die Hetzerei, der Trubel, der Schweiß, die langen Nächte, das Verlangen nach Schlaf, das sekundenschnelle Träumen von ruhigen Momenten –im nächsten schon, von einem anderen eiligen Gedanken verdrängt; ist das nicht die Krankheit selbst?“
Der Fremde packte Herr Zahns Schulter und sah ihm fest in die Augen. „Manchmal“, erklärte er, „werden uns Augenblicke geschenkt. Aber du musst zuhören können, du musst merken, wann sie kommen.“
Herr Zahn war unwohl zu Mute, aber er konnte sich nicht lösen.
Das Flüstern wurde eindringlicher: „Es gibt Momente, die sind verschwommen und gedämpft und unglaublich langsam. Die Zeit tröpfelt rhythmisch wie ein unendlicher Herzschlag um dich herum auf die Erde. Wie eine Hülle, ein temporäres Vakuum, das sich um dich schließt und durch das du hindurchblicken kannst. Auf der anderen Seite ist die Welt. Die Zeit wird in solchen Momenten unberechenbar, sie verlangsamt sich, genau wie dein Atem. Dein Puls ist so langsam, dass du die einzelnen Schläge deines Herzens kaum von einander unterscheiden kannst. In diesen Momenten kann ein Gedanke ewig währen. Er kann über die ganze schwammige Zeitspanne, in der du dich wie in einem weltfremden Hohlraum befindest, in deinem Kopf herum schwimmen. Gemütlich von der einen Seite deines Kopfes zur anderen paddeln und vielleicht ein paar kleine Wellen schlagen. In diesen Momenten ist deine Wahrnehmung vollkommen der Fülle deines Körpers und den Eindrücken deiner Welt gewidmet, weil du – das erste Mal in deinem Leben, vielleicht - wirklich zuhörst.“ Er machte eine Pause, lehnte sich erschöpft zurück und schnaufte: „Und dann….dann gehörst du niemandem mehr.“
Herr Zahn sagte kein Wort. Er musste nachdenken, verarbeiten. Die Gedanken und Eindrücke in seinem Kopf rasten noch schneller als gewöhnlich. Der Alte stand auf und wandte sich zum Gehen als wäre nichts geschehen. Er entschuldigte sich höflich für das anfängliche Missverständnis, aber er hätte sich ja jetzt an der Scherze treibenden Zeit gerächt. Er wünsche noch einen schönen Nachmittag und einen erholsamen Spaziergang.
Herr Zahn saß noch lange auf der hölzernen Bank in der Einöde. Nicht einmal schaute er auf die Armbanduhr, so ergriffen war er. Als der Bus verspätet eintraf, wartete kein einziger Passagier an dieser Haltestelle.
Simon Zahn hatte beschlossen, einen Spaziergang zu machen.