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Time and again

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11.04.2001
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Time and again

"Tut mir leid wenn ich dich enttäusche, Esther, aber ich kann dabei nicht mitmachen." Jorge Diaz seufzte laut auf und betrachtete noch einmal eingehend die ihm gegenüber sitzende Frau. Ihre tiefschwarzen Haare waren im Stil der 90'er Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts, kurz und asymmetrisch, geschnitten. Sie trug die im Freizeitcamp übliche, bequeme Kleidung bestehend aus einer weiten Hose, einem sweatshirtähnlichen Oberteil und Mocassins. "Ich werde dir deine Jugend zu Gute halten und keine Meldung machen, aber du mußt einsehen, daß so ein Vorhaben ein Irrwitz ist!"

Die ungefähr 25jährige Frau rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her. Sie spürte wie ihr das Blut in den Kopf schoß. Sie hatte nicht erwartet eine Standpauke von ihm zu erhalten.
Sie hatte in ihm eigentlich sogar einen Verbündeten gesehen. - Sicherlich, er hatte in seinem bisherigen Leben eine Menge mehr erlebt als sie, trotzdem gab ihm das nicht das Recht so zu reagieren. Sie hatte schließlich nichts ungesetzliches oder moralisch verwerfliches vor.
Sie wollte ihn lediglich für die LIGA zur VERBESSERUNG, kurz LIVE genannt, gewinnen. Die Vereinigung unter den Zeitreisenden, die es sich zum Ziel gemacht hatte die Geschichte der Menschheit dahingehend zu ändern, daß möglichst alle Gewalt und Kriege vergangener Jahrhunderte vom Antlitz der Erde verschwinden sollten. Der Vereinigung, die - wie sie sich eingestehen mußte - z. Zt. lediglich aus ihrer Person bestand.

"Du weißt doch, daß jede Veränderung in der Vergangenheit zu einer unüberschaubaren Kette weiterer Veränderungen in der Zukunft führt. Dein Projekt ist zum Scheitern verurteilt! Du hast zum einen nicht genug persönliche Lebensspanne, und selbst wenn du die ganze Organisation überzeugen könntest würde die addierte Lebensspanne nicht reichen! Zum anderen - und das ist der wichtigere Grund - weißt du doch gar nicht was passiert, wenn du zum Beispiel Hitlers Geburt verhinderst. Ist das wirklich der Schlüsselpunkt zum Nazideutschland? Findet dann die Judenvernichtung und der zweite Weltkrieg nicht statt? Tritt nicht vielleicht an die Stelle etwas sehr viel Schlimmeres?
Ich weiß nicht was passieren könnte, ich weiß lediglich was passiert ist. - Die Menschheit hat sich von ihrer blutigen und zerstörerischen Vergangenheit losgesagt. Gut, es hat lange gedauert, aber es hat funktioniert. Der Planet wurde gerettet! - Jetzt die Vergangenheit ändern zu wollen um, zugegebenermaßen mit altruistischen Motiven, vielen Menschen unsagbares Leid zu ersparen, ist ein Irrsinn. Damit würde alles aufs Spiel gesetzt, was die Menschheit erreicht hat, bzw. noch erreichen wird." Jorge Diaz lehnte sich in seinem Stuhl zurück und winkte dem Kellner zu. Er ließ seine Worte erst einmal auf die ihm gegenüber sitzende Frau wirken.
Seltsam, dachte er, fast alle jungen Rekruten der Zeitagenten kamen auf dieselbe Idee. Manche waren radikaler, wie Esther Goldschmidt, andere wollten lediglich bestimmte Schlüsselpunkte verändern, wie zum Beispiel die Entdeckung der Atomenergie, die nur Leid über die Erde gebracht hatte. Nur wurde von diesen jungen Leuten einfach übersehen, daß viele (oder alle, oder nur fast alle? Die Wissenschaftler waren sich nicht einig!) Entwicklungen einfach zwangsläufig waren.
Die Entdeckung des Rades, zum Beispiel, wurde von diesem Knaben vor einigen tausend Jahren gemacht. Hätte er sie nicht gemacht, es wäre jemand anderes seiner Epoche gewesen. - In vielen Punkten würde die Zeit sich selber heilen.
Doch was war mit den Schlüsselpunkten? Falls Hitler nicht existent gewesen wäre - was wäre passiert? Jorge Diaz hatte schon viele Bücher zu diesem Thema gelesen. Die meisten Autoren waren einer Meinung, in Deutschland war eine Entwicklung wie im dritten Reich einfach überfällig und zwangsläufig. Es hätte einen anderen Hitler oder Müller oder wen auch immer gegeben.
Die Auswirkungen für die ferne Zukunft wären, wahrscheinlich, aüßerst gering. Evtl. sogar nicht einmal spürbar.
Andererseits, wer wollte das so genau wissen? Ausprobiert worden war es nicht. Und um zu verhindern, daß es geschieht war die Zeitpatrouille gegründet worden. - Ihm fiel sein ganzes Schulwissen wieder ein. - Während eines Krieges im dritten Jahrtausend nach Christi Geburt war die Möglichkeit zur Zeitreise entdeckt worden. Beide Seiten schickten ihre Agenten in die Vergangenheit um dem Land des Gegners Schaden beliebiger Art zuzufügen. Keiner der Agenten erreichte jedoch eine Änderung der Vergangenheit, weil jeder von der ca. ein Jahrhundert später gegründeten Zeitpatrouille daran gehindert worden war (werden würde? Die Tempi waren verwirrend, wenn es um die Kausalzusammenhänge während einer Zeitreise ging.).
Wirklich jeder? Warum war es denn überhaupt nötig die Patrouille zu gründen, wenn keiner der Agenten es geschafft hatte? Jorge Diaz wußte, daß man sich lieber auf nichts verlassen wollte. Es stand ja noch nicht einmal die Anzahl der aufzuhaltenden Agenten fest. - Ja es war schon fast eine unüberschaubare Aufgabe für die Patrouille die Veränderung der Vergangenheit zu verhindern.

"Sie wünschen..." Der Kellner war an den Tisch getreten. Hier, im Ausbildungslager der Patrouille waren Menschen aus allen Erdzeitaltern zu finden. Der Kellner selbst schien aus dem Frankreich zur Zeit Ludwigs XVI zu stammen, zumindest wies seine üppige Haartracht darauf hin.

"Noch einmal das gleiche bitte," antwortete Jorge Diaz und wandte sich dann wieder seiner Gesprächspartnerin zu. "Verstehst du was ich meine? Es ist einfach zu riskant ein Faktum der Vergangenheit zu verändern - und sei es noch so vernachlässigbar gering. Stell dir vor ein Zeitreisender tötet eine Biene - ein zu vernachlässigendes Faktum - nicht wahr? Nun, leider sticht aber just diese Biene eigentlich kurze Zeit später ein wildes Tier, sagen wir einen Wolf, dieser stirbt daran. - Nun, jetzt ist die Biene tot und der Wolf lebt. - Spinnen wir den Faden weiter. - Der Wolf reißt bei seinen nächtlichen Raubzügen viele Nutztiere der Bauern, so daß der herrschende Fürst der Gegend sich persönlich auf die Jagd nach ihm begibt. Auf dieser Jagd kommt er durch einen unglücklichen Zufall ums Leben. - Leider bevor er seinen Eroberungsfeldzug beginnt und somit keinen Einfluß auf die Geschichte der von ihm eroberten Völker nehmen kann. - Ich könnte die Kausalkette endlos weiterspinnen, verstehst du was ich meine?" Jorge Diaz holte tief Atem.

"Natürlich verstehe ich was du meinst," entgegnete Esther schnell um die gute Gelegenheit ihn in seinem Redefluß zu unterbrechen zu nutzen. "Aber mein Ansatz ist doch ein anderer! Ich will im voraus genau kalkulierte Entwicklungen einleiten um der Menschheit Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende von Leid zu ersparen..."

"Esther, jeder Eingriff ist potentiell gefährlich. Kleine Dinge könnten sich im Laufe der Zeit wieder kompensieren - aber trotzdem bin ich der Meinung, daß keinerlei Manipulation vorgenommen werden darf. In keiner Richtung!" Seine Stimme klang bestimmt, fast schon wie ein Postulat. "Die Geschichte darf nicht verändert werden!"

"Ich hatte gedacht bei dir auf mehr Verständnis zu stoßen, Jorge." Sie hielt kurz inne und überlegte, ob sie wirklich ihre Argumentation weiterführen sollte. Schließlich war er ihr Vorgesetzter in der Hierarchie der Patrouille. "Ich war damals auch in Island, als du dort eingegriffen hast, ich habe mich bis heute gefragt was du damals bezweckt hast. Warum hast du den Mann überfallen und ausgeraubt? Er war kein Agent, der auf der Fahndungsliste stand!" Sie beobachtete ihn scharf, doch ihre Worte zeigten eine andere als die von ihr erwartete Wirkung.

"Island," sagte er. "Ich war noch nie in Island! Ich verstehe nicht was du meinst. Was ist da passiert?"

"Jorge, ich habe dich erkannt. Anhand der Beschreibung, die der Mann von dem Straßenräuber gab. Du mußt es gewesen sein. Er schilderte genau die über der Stirn verlaufende Narbe und das Amulett!" Mit diesen Worten deutete sie auf die als Amulett getarnte Zeitmaschine, die um Jorges Hals hing.

Seine Gesichtsfarbe, eigentlich ein helles braun, wechselte zu einem fahlen weiß. "Was sagst du da? Ein Zeitreisender hat ohne ersichtlichen Grund einen Menschen überfallen - und die Beschreibung paßt auf mich? - Wann ist das passiert?"

"Vor ungefähr einem Jahr..."

"Ich meine nicht deine Lebenslinie, die genauen Zeitdaten meine ich!" unterbrach er sie barsch.

"Entschuldige," sie wirkte verstört. "Es war im Mittelalter, die Zeit der Wikinger, 973 nach Christus, weißt du? Ich arbeitete an meiner Doktorarbeit - die Entdeckung Amerikas durch die Wikinger... Was hast du?"

Jorge Diaz' Gesichtsfarbe hatte ein hektisches rot angenommen. "Esther, ich war noch nie in Island. Zumindest bis jetzt noch nicht. Entweder war es also jemand anderes - oder ich werde es noch tun, auf meiner persönlichen Zeitlinie in meiner persönlichen Zukunft." Er hielt kurz inne um nachzudenken. "Auf jeden Fall muß dieser Eingriff verhindert werden, wir müssen eine Meldung machen!"

"Aber es ist doch nichts passiert, der Mann lebte weiter, er ist sogar noch alt geworden - ich habe das überprüft," sagte sie mit niedergeschlagenen Augen. "Bevor ich mich entschied den Vorfall nicht zu melden."

"Das tut nichts zur Sache, Esther. Woher willst du wissen, ob sein Leben in den gleichen Bahnen verlaufen ist wie ursprünglich? Vielleicht habe ich ihm ja indirekt das Leben gerettet, weil ihn an der nächsten Wegkreuzung Wegelagerer überfallen und getötet hätten. Wer weiß wie ich die Zukunft verändert habe? - Wenn ich es denn gewesen bin oder vielmehr sein werde. - Wir müssen es melden und verhindern!"

II

973 nach Christus

Der Wind war kalt und pfiff unangenehm durch die grob gewebte Kleidung. Hier und da lagen noch kleine Schneereste, die der Frühling noch nicht vertrieben hatte. Man hatte einen kleinen Hügel ausfindig gemacht von dem aus der Weg gut einzusehen war. Hier mußte der Mann entlangkommen.
Leif Hrolfsson hatte sich vor ein paar Stunden in der "Gaststätte" des kleinen Dorfes, ein paar Wegstunden entfernt, auf den Weg gemacht, er mußte bald hier vorbeikommen.
Die kleine Gruppe Zeitreisender um Jorge und Esther wartete geduldig ab. Sie wußten aus der Schilderung Esthers, daß der Wegelagerer sich aus einem Gebüsch ganz in der Nähe auf den Weg gestürzt und dort den einsamen Wanderer mit einem Hieb niedergestreckt hatte. Lediglich der Zeitpunkt des Auftauchens des "Wegelagerers" war unbekannt. Man hoffte jedoch genug Zeit zu haben um ihn, ohne daß der Wanderer dies mitbekam, aus dem Verkehr zu ziehen.
Sie brauchten nicht lange zu warten, ein Flimmern (der ganz "normale" Nebeneffekt einer Zeitreise) entstand auf dem Weg und ein Mann von stattlicher Statur erschien. Er wandte den anderen Zeitreisenden den Rücken zu.
Jorge merkte wie er den Atem anhielt, die Statur glich der seinen stark.
Der Mann auf dem Weg drehte sich langsam um und beäugte mißtrauisch den Wald auf beiden Seiten des Weges. Spätestens jetzt war Jorge klar, um wen es sich dort unten handelte - eine Verwechslung war ausgeschlossen! Seine Kameraden sahen ihn mit seltsam mitleidsvollen Blicken an. - Auf dem Weg stand Jorge Diaz, in Landestracht gekleidet und bereit dazu die Grundsätze der Patrouille mit den Füßen zu treten!

Die Gefangennahme war schnell durchgeführt, die Raum- Zeitkoordinaten wurden so in die "Amulette" eingegeben, daß fünf Zeitreisende gleichzeitig in einem engen Ring um den auf dem Weg stehenden Jorge auftauchten und ihn überwältigten. Nachdem dies geschehen war, wurde der niedergeschlagen wirkende Mann in die Zukunft zum Verhör abgeführt. - Zurück auf der Lichtung blieben Jorge, Esther und Brian Wilde, ein Abteilungsleiter der Patrouille.

Kurze Zeit nachdem die Gruppe mit dem Gefangenen in die Zukunft gereist war, tauchte Leif Hrolfsson auf und passierte unbehelligt die Stelle des Überfalls.

"So, das wäre erledigt, Jorge," meinte Brian Wilde ein wenig verlegen. "Bleibt nur noch das Warum zu klären."

"Vor allem wird das Paradoxon zu klären sein. Ich würde nie so handeln! Das weißt du!" Jorges Stimme war fest und gleichzeitig ein wenig anklagend.

"Das warst aber ganz eindeutig du," warf Esther ein, während sie an ihrem "Amulett" nestelte. "Du wirst einen Grund gehabt haben!"

"Und den wollen wir erfahren. Habt ihr die Raum- Zeitkoordinaten eingestellt? - Gut, gehen wir also dahin, wohin er auch geht." Brian Wilde nahm eine letzte Einstellung vor und löste den Raum- Zeitsprung aus.


III


Der Wind war inzwischen abgeflaut als der Mann drei Stunden später in einem Gasthaus am Wegrand einkehrte. Am nächsten Morgen brach er, wie die anderen Gäste auch, wieder auf und begab sich auf den Weg zu seinem Gehöft.
Die drei Zeitreisenden überwachten seinen Weg ständig. Sie sprangen immer wieder eine Weg- und Zeitstrecke voraus, konnten aber nichts außergewöhnliches feststellen.
Das weitere Leben des Mannes verlief ebenso ereignislos wie vorher, es unterschied sich in keinem Punkt von dem, welches Esther früher überprüft hatte.

"Das wär's dann, ich kann meine Zeit nicht mit so etwas verschwenden. Vielleicht kriegen wir es ja aus deinem zukünftigen Ich heraus. Für mich sieht das wie eine Bierlaune aus. Evtl. hast du ja unter Drogen gestanden? - Wer weiß?
Also los, laßt uns zurück gehen." Brian stellte die Raum- Zeitkoordinaten des Patrouillenhauptquartiers ein.

"Brian, ich möchte Urlaub nehmen," Jorges Stimme war belegt. "Wir haben bestimmt etwas übersehen, ich muß einfach wissen, warum ich so gehandelt habe. Bitte!"

Brian Wilde sah ihn lange an bevor er antwortete "In Ordnung, aber nur eine Woche, Lebenslinienzeit, verstanden? Und ich hoffe, daß du dich dann bei mir zurückmeldest und nicht etwa dann der bist den wir vorhin festgenommen haben. Auf Leute wie dich können wir bei unserer Personalknappheit nicht verzichten!
Ich glaube Esther bleibt besser bei dir. Sie kennt sich in diesem Milieu besser aus als du.
Wir sehen uns also in einer Woche, ja?" Brian löste den Sprung aus und verschwand in einem Flimmern. Esther und Jorge blieben alleine zurück.


IV


Eine Woche Lebenslinienzeit war schon bei "normalem" Dienst recht kurz bemessen, um das Leben eines Menschen über 40 Jahre hin zu überprüfen reichte die Zeit bei weitem nicht aus. Jorge und Esther hatten Mühe auch nur die relevanten Schlüsselpunkte des Lebens von Leif Hrolfsson zu überwachen. Es stellte sich jedoch heraus, daß er in keinster Weise auf irgendwelche relevanten geschichtlichen Ereignisse Einfluß genommen hatte oder auch nur hätte nehmen können.
Den beiden Zeitreisenden war es noch immer unverständlich aus welchen Beweggründen heraus der andere Jorge den einsamen Wanderer überfallen hatte bzw. wollte - der Überfall war ja verhindert worden.
Jorge und Esther befanden sich wieder in der Nähe des "Tatortes" als sie sich dazu entschieden in die Zukunft zurückzukehren um bei ihrem Abteilungsleiter Bericht zu erstatten.
Die Raum- Zeitkoordinaten wurden an den "Amuletten" eingestellt, Sekundenbruchteile später verriet nur ein leichtes Flimmern der Luft, daß hier ein Raum- Zeitsprung stattgefunden hatte.

Das Hauptquartier der Patrouille lag noch in der relativen, trügerischen Ruhe eines Frühlingsmorgens als die beiden Zeitreisenden in der "Ankunftshalle" materialisierten.

"Was wirst du jetzt tun?" fragte Esther den niedergeschlagen wirkenden Mann neben ihr.

"Ich weiß es noch nicht," antwortete dieser mit leiser Stimme. "Ich werde wohl zuerst mal Brian aufsuchen. Evtl. hat sich ja hier etwas neues ergeben. Schließlich hatten die ja eine Woche Zeit "mich" zu verhören." Jorge liefen bei seinen eigenen Worten Schauer über den Rücken. "Was hältst du davon, wenn wir uns nachher im Casino sehen, ich glaube es ist nicht notwendig, daß wir zusammen zu Brian gehen." Seine Stimme klang wieder bestimmt und befehlsgewohnt. Esther hatte fast so etwas erwartet. Sie wäre zwar gerne dabei gewesen, um die Ergebnisse des Verhörs zu erfahren, sah jedoch ein, daß es klüger war nachzugeben. Jorge mußte erst einmal alleine damit fertig werden, daß er die Grundsätze der Patrouille verraten hatte.

"In Ordnung, wir sehen uns später im Casino." Mit diesen Worten drehte sie sich um und ging mit langen Schritten den endlos wirkenden Gang hinunter. Jorge blickte ihr nach, bis sie hinter einer Biegung, rund hundert Meter von seinem Standpunkt aus entfernt, verschwand. Dann setzte er sich in Richtung der vertikalen Aufzugsanlage in Bewegung. Seit seinem letzten Besuch in diesem Zeitabschnitt schienen die Wände neu gestrichen worden zu sein. Der Ockerton war um einiges kräftiger als er ihn in Erinnerung hatte.
Auch vor der Aufzugsanlage war niemand zu sehen. Jorge blickte erstaunt auf die Anzeigetafel, auf der neben der Ankündigung des nächsten Liftes auch die Uhrzeit nebst Datum angezeigt wurde. <Bereits 7.00 Uhr durch, und noch kein Mensch weit und breit,> dachte er. <Normalerweise müßten hier bereits einige Dutzend Leute warten, oder ist mir ein Fehler bezüglich der Ankunftszeit unterlaufen?> Jorge blickte nochmals zur Anzeigetafel um sich davon zu überzeugen, daß er nicht an einem Wochenende oder Feiertag angekommen war, an dem nur die Notbesetzung Dienst tat. <Dienstag, 12. April,> las er leise vor. Kein Wochenende, kein Feiertag.
Der Gong ertönte leise und kündigte das Eintreffen des Liftes an. Jorge stieg ein und wählte auf dem Display das gewünschte Stockwerk aus. Die Lifttüren schlossen sich langsam. Durch den fast schon geschlossenen Spalt, der die beiden Türhälften noch voneinander trennte, sah er eine Person aus einem der gegenüberliegenden Lifte treten. Eine Frau in einer uniformähnlichen, schwarzen Lederkleidung kam auf seinen Lift zu. In ihrer Hand hielt sie einen unschwer als Waffe zu identifizierenden Gegenstand.
Die Türen schlossen sich vollends bevor Jorge seiner Verblüffung Ausdruck verleihen konnte. Sekunden später öffneten sie sich wieder, 14 Stockwerke höher. Jorge spähte in den Gang hinaus, auch hier kein Mensch. Er trat aus dem Lift und wandte sich nach rechts. Ein schier endlos langer Gang lag vor ihm. Brians Büro war nicht weit entfernt. Er konnte die Tür von seinem jetzigen Standort aus genau sehen. Der helle Rotton, in dem diese Etage gestrichen war, irritierte ihn allerdings etwas. Er war sich sicher, daß bei seinem letzten Besuch in dieser Etage ein Grünton vorgeherrscht hatte.
Jorge ging langsam und wachsam auf sein Ziel zu. Irgend etwas stimmte hier nicht. Wo waren die Menschen? Er betätigte den Türmelder an Brians Tür. Die Tür öffnete sich mit einem leisen Summen. Jorge blickte in ein spartanisch eingerichtetes Vorzimmerbüro. In dem fensterlosen rd. 10 m² großen Raum war neben einem Schreibtisch mit integriertem Computerterminal und Stuhl nichts vorhanden - nicht daß dafür noch Platz gewesen wäre.

Die Frau hinter dem Computer blickte auf. "Oh, Commander Diaz. Einen Moment, ich melde sie an." Sie betätigte einige Tasten auf der Tastatur ihres Computers. "General Wilde erwartet sie." Sie deutete auf die Verbindungstür zu Brians Büro.

<Was geht hier vor?> dachte Jorge. <Commander, General, diese militärischen Ränge gab es in der Patrouille nicht!> Er wandte sich wortlos der bezeichneten Tür zu und schritt in das Büro seines Vorgesetzten. Brian saß an einem, dem seiner Sekretärin ähnlichen, mit einem Computerterminal versehenen Schreibtisch. Auch in diesem Büro war außer zwei weiteren Besucherstühlen, die an der Kopfseite des Schreibtisches standen, kein weiteres Mobiliar vorhanden. Brian war, wie die Frau am Lift, mit einem uniformähnlichen, schwarzen Lederoverall bekleidet. Er blickte auf als Jorge eintrat.

"General,..." Jorges Einfühlungsvermögen in fremde Situationen riet ihm, den militärischen Rang zu benutzen.

"Ah, Diaz. Schön, daß sie so schnell kommen konnten." Brian sah vom Computer auf. "Direkt vom Einsatz, wie ich sehe," sagte er mit einem abschätzenden Blick auf Jorges Kleidung. "Mir war gar nicht klar, daß ihre Abteilung in diesem Milieu arbeitet," fuhr er mit erstauntem Gesichtsausdruck fort. "Aber egal, wir haben ein großes Problem."

"So etwas ähnliches dachte ich mir schon," sagte Jorge, der verzweifelt versuchte einen Sinn in die ganze Situation zu bringen.

"Sicher, ohne triftigen Grund hätte ich sie nicht an diesem Tag hierherbestellt." Brian machte eine Kunstpause, die Luft erschien Jorge plötzlich schwül und unheilverkündend. "Wir haben eine Gruppe von Renegaten festgenommen! Es scheint, als wollten sie unsere Zeitlinie vorsätzlich verändern!" Brian ließ seine Worte eine Zeitlang wirken bevor er fortfuhr. "Das schlimmste kommt noch, wir beide, Commander, sie und ich gehören ebenfalls dieser Gruppe an. - Jetzt verstehen sie sicher warum ich sie an unserem höchsten Feiertag, dem Geburtstag unseres Administrators hierherbestellt habe. - Diaz, es geht um unsere Köpfe!" Brians Stimme hallte in dem kleinen Raum nach.

<Die von Brian geführte Gruppe Zeitreisender, ja von denen mußte sein Gegenüber gerade gesprochen haben,> Jorges Gedanken rasten. Die Zeitlinie war verändert worden, Seine Gegenwart war verschwunden und durch dies hier ersetzt worden. Brian fürchtete um sein Leben, da er selbst (sein anderes ich aus der richtigen Zeitlinie, korrigierte sich Jorge) der Führer der Gruppe war. Diese Patrouillenorganistation schien nicht gerade zimperlich mit unter Verdacht stehenden Mitgliedern umzugehen. Er mußte unbedingt hier raus und Brian und die anderen befreien. Zusammen konnten sie evtl. herausfinden was die Zeitlinie verändert hatte und es wieder korrigieren.
Aber wie herauskommen ohne Verdacht zu erwecken? Jorge bemerkte plötzlich die mißtrauischen Blicke seines Vorgesetzten.

"Was ist los, Diaz? hat es ihnen die Sprache verschlagen? Oder wußten sie schon vorher Bescheid? Ist das etwa ein abgekartetes Spiel um mich zu diskreditieren?" Brian zog aus der Schublade seines Schreibtisches eine Jorge unbekannte, aber unschwer als Pistole zu erkennende Waffe hervor und richtete diese auf Jorge. "Mir kam ihre Kleidung ohnehin sehr merkwürdig vor. Wie lautet ihr Plan? Mich entführen in das Jahr 973 n. Chr. und dann zum frühen Morgen des heutigen Tages zurückkehren und mich als überführten Verbrecher präsentieren? Was erhoffen sie sich davon? Meinen Posten? Mensch Diaz, ich hatte sie für klüger gehalten. Das haben schon andere vor ihnen versucht." Brian unterbrach seinen Redefluß und wandte sich der Gegensprechanlage zu. "Martha, rufen sie die Wache. Ich habe Commander Diaz..."
Jorge erkannte seine Chance und handelte sofort. Mit einem Satz war er bei seinem Widersacher und schlug diesem mit der Handkante die Waffe aus der Hand. Gleichzeitig rammte er ihm die zur Faust geballte andere Hand in den Solarplexus.
Brian klappte wie ein Kartenhaus zusammen und fiel mit dem Oberkörper auf den Tisch.
Jorge hielt in der Bewegung nicht inne und wandte sich zur Tür. Mit zwei Sätzen hastete er durch das Vorzimmer in den Flur hinaus. Dort blickte er den sich zu beiden Seiten erstreckenden Gang hinunter. - Noch niemand in Sicht. <Vermutlich hat auch die Wache aufgrund des Feiertages nur Notbesetzung,> dachte er. <Esther,> schoß es ihm plötzlich durch den Kopf. <Sie wollte ins Casino und dort auf mich warten.> Er lief zu den Liften.
Das Display über den Aufzügen kündigte einen Expresslift an. Jorge starrte auf die Anzeigetafel. <Das kann eigentlich nur bedeuten, daß die Wachen auf dem Weg nach oben sind,> dachte er.
Er blickte sich hektisch um, wo sollte er sich verstecken? Der karge Flur bot dazu keine Möglichkeiten, und um ein unverschlossenes Büro zu finden war es schon zu spät. Er griff zu der letzten ihm verbleibenden Möglichkeit, der als Amulett getarnten Zeitmaschine. Hastig stellte er, aus der Erinnerung heraus, die Raum- Zeitkoordinaten seines Ausgangsortes im Island des ersten Jahrtausends ein. Für die Feinabstimmung hatte er keine Zeit mehr. Die Türen des Liftes öffneten sich. Rd. zehn bewaffnete, in schwarze Lederuniformen gekleidete Männer und Frauen verließen den Aufzug. In ihrer Mitte befand sich Esther, offensichtlich als ihr Gefangene.
Jorge betätigte den Startmechanismus.


V

Nachdem das kurze Flimmern der Luft verschwunden war, blickte Jorge sich um. Er atmete auf. Keine schwarzgekleideten Schergen, dies war das Island des Jahres 973 n. Chr. Plötzlich fing die Luft um ihn herum an zu flimmern. Mehrere Gestalten, in Landestracht gekleidet, erschienen wie aus dem Nichts. Sie entwandten ihm als erstes sein Amulett und überwältigten ihn dann mit einigen einfachen Handgriffen. Während des kurzen Handgemenges fiel sein Blick auf einen nicht weit entfernten kleinen Hügel. Dort konnte er mit etwas Mühe drei Personen erkennen.
Brian Wilde gab seinen Leuten ein Zeichen. Jorge verstand, sie würden ihn nun in die Zukunft abführen. Er versuchte sich zu wehren, ihnen zu erklären was geschehen war - aber zu spät, der Kreis hatte sich geschlossen.

VI

Die Kerkerzellen des Reiches erinnerten ein wenig an die des von der Inquisition geprägten Mittelalters seiner eigenen Geschichte. Jorge befand sich in einem Kellergewölbe tief unter der Erde. Die Luft roch muffig und faul. Die Feuchtigkeit und Kälte war tief in seine Knochen gedrungen.
Die ersten Verhöre hatte er bereits über sich ergehen lassen. Im Augenblick wurde einer der anderen Zeitagenten einem Verhör unterzogen, welches man schon eher als Folter bezeichnen konnte. Jorge konnte seine Schreie hören.
Er hatte keine Möglichkeit gehabt seine Kameraden zu warnen. Bei ihrer Ankunft im Patrouillenhauptquartier waren sie kurzerhand von der "schwarzen Garde" überwältigt worden. Keiner von ihnen hatte mit so etwas gerechnet.
Jorge horchte auf, die Schreie waren verklungen. Schritte näherten sich seiner Tür. Mit einem Klacken löste sich die elektronische Verriegelung, die Tür öffnete sich langsam und schwerfällig.

"Kein Wort," flüsterte eine Frauenstimme. "Sonst haben wir keine Chance mehr!" Eine Gestalt näherte sich dem mit schweren Eisenketten an die Wand gefesselten Jorge. In der spärlich durch das vom Kellergang hereinfallende Licht erhellten Zelle erkannte Jorge Esthers tiefschwarze Haare, die diese zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden über die linke Schulter fallen ließ.

"Halten sie die Hände ausgestreckt vom Körper weg, ich werde die Ketten mit einem Laser durchtrennen." Jorge tat wie ihm geheißen und schloß die Augen. Das gleißende Laserlicht drang trotzdem bis zu seiner Netzhaut vor. Mit einem lauten Krachen fielen die Ketten zu Boden. "Schnell kommen sie her," Esther griff nach seinem Arm. "Wir fliehen mit meiner Zeitmaschine." Sie betätigte den Startmechanismus. Das plötzlich erscheinende Sonnenlicht machte Jorge für kurze Zeit fast blind.
Er blinzelte und konnte langsam wieder Einzelheiten erkennen. Eine Wiese, endlos wie es schien, am Horizont ein dunkler Streifen, vielleicht Wald, sommerliche Temperaturen, ein leichter Wind und keine Menschenseele - außer Esther und ihm.

"Wo...," begann er und unterbrach sich selbst wieder. Esther, ja! Aber die Esther die da vor ihm stand trug die schwarze Lederuniform der Wachen des Reiches. Außerdem war ihr Haar nicht kurzgeschnitten, sondern fiel zu einem Pferdeschwanz zusammengefaßt über die linke Schulter. In ihrem Gürtel steckte eine dieser Jorge unbekannten Waffen.

Sie mußte seinen entsetzten Blick bemerkt haben, denn sie versuchte zu erklären. "Keine Panik, wir sind in Sicherheit. Hier befindet sich z. Zt. kein Mensch, und für die nächsten hundert Jahre wird das auch so bleiben - wenn unsere Geschichtsschreibung stimmt. Wir befinden uns in Amerika, genauer gesagt im Herzen des Reiches, zu einer Zeit, als hier noch kein Mensch den Boden dieses Kontinents betreten hatte. - Ich glaube ich bin ihnen ein paar Erklärungen schuldig." Sie holte tief Luft und fuhr dann fort. "Wie sie sicher bereits gemerkt haben bin ich zwar Esther Goldschmidt, aber nicht die Esther Goldschmidt, die sie kennen. Genauer gesagt, ich bin die Esther aus der anderen Zeitlinie." Jorge starrte stumpfsinnig vor sich hin. "Sie können mir vertrauen, Diaz. Ich habe sie schließlich gerettet!"

"Warum?" fragte Jorge mit einem Blick auf die Uniform. Sie tragen die Kleidung der Garde, so nannte sie sich doch, oder?" Sie scheinen ins System voll integriert zu sein."

"Nicht alle Uniformträger sind unbedingt mit den Zielen der jeweiligen Organisation einverstanden," gab sie spitz zurück. "Ich mußte zuviel Leid mit ansehen, angeblich notwendige Taten zum Wohle des Volkes und des großen Administrators. Die Folterung und Ermordung meines anderen Ichs hat mir den Rest gegeben."

"Esther ist tot?" Jorge hauchte die Worte mehr, als daß er sie sprach.

"Ja, an den Folgen des Verhörs gestorben. - Hören sie Diaz, ich weiß nicht woher sie und die anderen alle gekommen sind. Fest steht, daß alle Doppelgänger von Personen sind, die im Reich der Zeitpatrouille angehören. Es scheint auch festzustehen, daß sie unsere Zeitlinie ändern wollten - und daß das Reich und der Administrator davor am meisten Angst hat." Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort. "Und fest steht, daß wir dem ganzen ein Ende setzen müssen. Es muß aufhören, hören sie, es muß!" Die letzten Worte schrie sie förmlich heraus. "Auf der Erde hat es in geschichtlicher Zeit noch nie einen Diktator gegeben, der so umfassende Macht über sein Volk hatte, wie der Administrator. Aber wir, wir haben es jetzt in der Hand ihn zu stürzen, nicht wahr? Wir müssen nur euren Plan in die Tat umsetzen!" Sie blickte Jorge erwartungsvoll an.

Dieser sah bestürzt drein. "Tut mir leid, wir haben keinen Plan. Ich glaube auch ich bin eine kleine Geschichte schuldig," bemerkte Jorge mit ruhiger Stimme und erzählte dann die Geschehnisse aus seiner Sicht.

Esther brauchte einige Zeit, um alles zu verdauen. "Ihr seid nicht aus einer anderen Zeitlinie gekommen um den Administrator zu stürzen, verdammt was machen wir jetzt? Zurück können wir nicht. Und hier versauern möchte ich auch nicht. Bleibt nur uns eine geschichtliche Zeit auszusuchen in der man es aushalten kann, was wäre mit den Sarapieren?"

"Sarapieren, was ist das?" fragte Jorge, gleichzeitig schoß ihm die Lösung des Problems durch den Kopf. "Genau das ist es, wir müssen herausfinden ab welchem Zeitpunkt die Geschichte unserer Zeitlinien divergiert und den dortigen Eingriff wieder rückgängig machen. Der Administrator wird allerdings ebenfalls versuchen diesen Zeitpunkt aus meinen Kameraden herauszubekommen. Er wird sicher versuchen diesen Zeitabschnitt besonders zu schützen," überlegte Jorge laut. "Also los fangen wir an. Sarapieren sind mir unbekannt. Was ist das?"

"Eine Kaufmannsgilde im Orient, mittleres zwanzigstes Jahrhundert. Sie sammelten unermeßliche Schätze an und hatten ein ziemlich gutes Leben." Ihre Stimme klang aufgeregt, er hatte wieder Hoffnung in ihr geweckt.

"OK, im mittleren zwanzigsten Jahrhundert divergieren wir also bereits. Was war vorher, hm, der erste Weltkrieg..." Die zeitliche Bestimmung der beginnenden Abweichung war nicht ganz so einfach zu ermitteln, auch wenn sich hier zwei geschichtlich sehr bewanderte Menschen gegenüberstanden. Schließlich brachte Jorge die erste fast übereinstimmende historische Tatsache beider Linien ins Gespräch.

"Kolumbus, 1492 die zweite Entdeckung Amerikas durch die Europäer und die sich daran anschließende Eroberung des amerikanischen Kontinents."

"Tut mir leid Jorge, Kolumbus hat nicht viel erreicht, seine Schiffe wurden bereits weit vor der Küste abgefangen und geentert, als Kind habe ich viele Filme darüber gesehen. Auch später hatten es die Spanier, Portugiesen, Engländer und Franzosen schwer das Reich der Nordmänner zu besiegen. Unsere Geschichtsschreibung ist voll an heroischen Beispielen von den Europäern zugefügten Niederlagen. Schließlich fiel das Reich aber doch, nach über 500 Jahren des Bestehens. Und unser Administrator hat es dann wieder auferstehen lassen - zumindest glaubte er selbst daran."

"Das paßt nicht mit meiner Geschichte, schade. Wir müssen die Übereinstimmung finden. Zumindest passen die vor diesen Ereignissen in Europa geschehenen Dinge, arbeiten wir uns also von der anderen Seite mal heran. Diese Nordmänner herrschten über 500 Jahre - hm. Das wäre dann so um das Jahr 1000 n. Chr. als sie ihre Herrschaft begannen. Woher kamen sie?"

"Von Vinland. Es waren Nachfahren der dort gelandeten Wikinger."

"Wikinger, Vinland," Jorges Stimme überschlug sich. "Das gab es auch bei mir. Erik der Rote und Leif Erikson entdeckten Nordamerika um das Jahr 1000."

"Tut mir leid, in meiner Geschichte war es Sven Gutbertsson, ein isländischer Kaufmann, der Vinland entdeckte und für die Wikinger eroberte. Das war um 990 n. Chr."

Jorge wurde heiß und kalt gleichzeitig. "Esther, wir nähern uns immer mehr dem Jahr 973 n. Chr., meinem letzten Einsatzpunkt," er überlegte fieberhaft. "Wir haben doch alles überprüft, es gab keine relevanten Ereignisse auf die er hätte Einfluß nehmen können. Aber ein Zufall ist doch sehr unwahrscheinlich wenn ich an deine... Verzeihung, an die Beobachtung meiner Esther denke. Dieser Wanderer, er muß der Schlüssel sein. Aber wie konnte er denn auf die Geschichte so einen Einfluß nehmen?" Jorge war ratlos.

"Das ganze Leben des Wanderers wurde abgecheckt?" Jorge nickte wortlos. "Vielleicht kommen wir von der anderen Seite heran. Wie verlief das Leben von Sven Gutbertsson? Soweit ich mich erinnern kann wurde er um 960 n. Chr. geboren. 973 war er also ca. 13 Jahre alt. Ich glaube er arbeitete in seiner Jugend in der Gaststätte seines Onkels, ja genau, daran erinnere ich mich gut. Der Administrator hat oft genug betont, daß er ähnlich angefangen hat." Sie starrte Jorge an. "War da nicht etwas mit einer Gaststätte in der Geschichte mit dem Wanderer?"

"Ja, er kehrte in einer Gaststätte ein und übernachtete dort. Ursprünglich wurde er dort gepflegt, nachdem ich ihn zusammengeschlagen und ausgeraubt hatte. - Das Ereignis, welches wir verhindert haben.
Die Gaststätte haben wir tatsächlich nicht überprüft, aber was soll dort schon geschehen sein? Er ist lediglich eine Nacht geblieben und am nächsten Morgen alleine wieder aufgebrochen."

"Ich weiß es nicht, aber dort scheint der entscheidende Punkt zu sein. Übrigens, wenn dieser Jorge Diaz der ursprünglich dem Wanderer aufgelauert hat nun wirklich dadurch die Geschichte verändert hatte. - Die Geschehnisse in der Gaststätte müssen zwangsläufig andere gewesen sein als wenn er gesund dort hingelangt wäre. - Dann stellt sich doch die Frage, ob ihr durch eure Intervention nicht den originären Zeitablauf wiederhergestellt habt, oder?" Ihre Worte hallte lange in Jorges Ohren nach.

"Ich weiß nicht mehr, was richtig und was falsch ist. Ich weiß nur, daß ich in diese Gaststätte muß." Jorge blickte Esther lange an. "Ich schätze, ich muß dort alleine hin. Wo sollten wir Kleidung für dich auftreiben? In der Montur kannst du dort nicht auftauchen. - Ich hole dich später hier wieder ab, gib mir bitte das Amulett." Jorge streckte seine Hand aus.

Esthers Gesichtsausdruck hatte sich mittlerweile zu einer angsterfüllten Fratze entwickelt. "Was wird mit mir passieren, wenn die Zukunft wirklich wieder jene sein wird, die du kennst? Bin ich dann noch existent? Habe ich vielleicht nie existiert? Jorge, bitte sag etwas!"

"Ich weiß es nicht," seine Stimme klang bekümmert. "Ich weiß weder was mit dir in meiner, noch was mit Brian und den anderen in deiner Zukunft passieren wird. Darüber haben sich schon viele Leute den Kopf zerbrochen. So oder so, ein Paradoxon würde entstehen. Die herrschende Meinung ist aber, daß Zeitab, also hier, alles beim alten bleiben wird und lediglich Zeitauf die Auswirkungen zu spüren sein werden. Ich existiere schließlich auch noch, das könnte der Beweis für jene Theorie sein. - Für Brian und die anderen wird dies wahrscheinlich das Todesurteil bedeuten, und ich bin ihr Henker!" Jorges Gewissensbisse machten sich Luft. " Aber was soll ich tun? Ich habe keine Chance sie zu befreien!"


VII

Jorge war ungefähr eine Stunde vor dem einsamen Wanderer in der Gaststätte aufgetaucht. Er war in unmittelbarer Nähe des Gehöfts materialisiert und hatte nur eine kurze Wegstrecke zu Fuß zurückzulegen um dort einzukehren. In der Gaststätte befanden sich lediglich ein halbes Dutzend Gäste. Sie wurden von einem halbwüchsigen Jungen bedient, der unter der Knute des Wirtes zu stehen schien. Jorge bemühte sich ohne Aufmerksamkeit zu erregen herauszufinden wer dieser Junge war. Der Zufall kam ihm zur Hilfe. Die Frau des Gastwirtes rief dem Jungen zu nach draußen zu gehen und Holz für das Feuer herein zu holen. Als der Name Sven fiel wußte Jorge, daß er den richtigen vor sich hatte. Dieser unscheinbare Junge entschied in seinem späteren Leben über Existenz oder Nichtexistenz der Zukunft, so wie Jorge sie kannte.

Als der Junge die Tür öffnete um nach draußen zu gehen, stolperte der Wanderer herein. Jorge erkannte ihn sofort, er hätte sein Gesicht mittlerweile im Schlaf zeichnen können.
Der Mann ließ sich auf eine Sitzbank in der Ecke des geräumigen Zimmers fallen und warf seinen Rucksack unter den Tisch. Mit lauter Stimme verlangte er nach etwas zu trinken. Jorge erhob sich von seinem Platz und gesellte sich zu dem Neuankömmling.
Nach und nach entwickelte sich ein Gespräch zwischen den beiden. Der Mann war in seiner Jugend zur See gefahren und hatte an vielen Beutezügen teilgenommen. Außerdem verfügte er über ein nicht unbeträchtliches Erzähltalent, was seinen Geschichten die nötige Würze verlieh. Als Jorge langsam merkte, daß der Mann bereits einige der anderen Gäste mit seinen Erzählungen in seinen Bann geschlagen hatte, ergriff er eine günstige Gelegenheit den Mann in seinem Redefluß zu stoppen und zu einem Wettrinken aufzufordern. Jorge war klar geworden, daß der junge Sven Gutbertsson gerade durch diese Erzählungen dazu gebracht worden war (werden würde?) seinem tristen Dasein hier in der Gaststätte ein Ende zu machen und sich in der Seefahrt zu versuchen - mit fatalen Folgen für Jorges Zukunft.

Das Wettrinken war, bedingt durch ein zur Standardausrüstung eines jeden Zeitreisenden gehörendes Schlafmittel, erfolgreich, Leif Hrolfsson war bereits nach wenigen Bechern im wahrsten Sinne des Wortes unter den Tisch getrunken.
Jorge half dem Wirt den vermeintlich betrunkenen in die Gemeinschaftsschlafkammer zu tragen. Er selbst kehrte noch einmal in den Gastraum zurück. Der Junge war mittlerweile vom Holzholen zurückgekehrt. Von den Erzählungen des Leif Hrolfsson hatte er nichts mitbekommen.
Mitleidsvoll betrachtete Jorge den 13 jährigen. Er würde nun seinem Schicksal als Schankwirt nicht mehr entrinnen. Die Erzählungen des Wikingers konnten keine Träume in ihm mehr erwecken. - Jorge wandte sich ab, er hatte eine Aufgabe zu vollenden.

Nach einem kurzen Abstecher in seiner Gegenwart, die sich wieder wie gewohnt darstellte, machte er sich auf den Weg ins vorgeschichtliche Amerika um Esther Goldschmidt zu holen. Trotz allem klangen ihre Worte noch immer in ihm nach, welche Zeitlinie war die originäre? Er, Jorge hatte durch sein Eingreifen seine Zeitlinie begründet, er hatte keinen fremden Einfluß korrigiert, wie es zu den Aufgaben der Patrouille gehörte, er hatte bewußt den Zeitfluß geändert.
Aber es gab noch immer lose Enden. Wer war der Jorge Diaz, der ursprünglich in den Zeitablauf eingriff und den Wanderer ausgeraubt und zusammengeschlagen hatte? Gab es evtl. eine dritte in diese Geschichte verwickelte Zeitlinie? Jorge war sich nicht sicher, ob er das wissen wollte.

 

Tja, eine gut erzählte Geschichte. Aber um ehrlich zu sein: Ich habe die Stränge der Story ab etwa der Mitte nicht mehr entwirren können. So fasziniert ich von der Idee einer Zeitmaschine auch bin, mit ihren Paradoxa komme ich einfach nicht zurecht! Entschuldige bitte, es liegt wirklich nicht an dir sondern an meinem eigenen Unvermögen, die Geschichte tatsächlich zu VERSTEHEN!

 

Ist doch relativ einfach, man reist zurück und wieder hin und wieder zurück - nein, mal im ernst, was hast Du denn nicht verstanden? Diesen Einwurf höre ich bezüglich dieser Story zum ersten mal, bislang waren die Kritiken eher von anderer Art.

Ich war der Meinung relativ geradlinig erzählt zu haben, vor allem, da ich nur aus der Sicht eines Protagonisten erzähle und dieser (auf seiner Zeitlinie) alles koninuierlich nacheinander erlebt.

Das der Typ mit seinen Handlungen die Handlungen seines späteren ichs behindert und damit die Katastrophe erst auslöst ist doch eine nette Idee, oder?

Zeitreisegeschichten liebe ich wirklich. In diesem Sinne

ad astra

 

Tut mir leid, das ist mir zu hoch! Ich verstehe schon, worum es geht, aber meine Logik steigt da einfach aus.
Ich gehe immer von dem Drehpunkt aus, dass jemand einen Fehler macht in der Vergangenheit und dann zurück muss, um diesen Fehler auszubügeln. Du fängst praktisch in der Mitte an: Erst bügelt er den Fehler aus, dann begeht er ihn. Oder so.
Nö, da komm ich nicht! Bin halt doch nur ein Österreicher... ;)

 

Tut mir leid, das ist mir zu hoch! Ich verstehe schon, worum es geht, aber meine Logik steigt da einfach aus.
Ich gehe immer von dem Drehpunkt aus, dass jemand einen Fehler macht in der Vergangenheit und dann zurück muss, um diesen Fehler auszubügeln. Du fängst praktisch in der Mitte an: Erst bügelt er den Fehler aus, dann begeht er ihn. Oder so.
Nö, da komm ich nicht! Bin halt doch nur ein Österreicher... ;)

 

Tut mir leid, das ist mir zu hoch! Ich verstehe schon, worum es geht, aber meine Logik steigt da einfach aus.
Ich gehe immer von dem Drehpunkt aus, dass jemand einen Fehler macht in der Vergangenheit und dann zurück muss, um diesen Fehler auszubügeln. Du fängst praktisch in der Mitte an: Erst bügelt er den Fehler aus, dann begeht er ihn. Oder so.
Nö, da komm ich nicht! Bin halt doch nur ein Österreicher... ;)

 

Hallo Rainer,

die Kritik hast Du jetzt aber aus drei unterschiedlichen Realitäts- bzw. Zeitebenen parallel hier eingestellt, oder?

Klar ist das mal ein neuer Ansatz (hoffe ich wenigstens). Aber das macht doch auch den Reiz aus, nicht wahr?

ad astra

 

Hey, das sollte keine Kritk an DIR sein! :)
Ich seh´s ja ein, dass ich vieles nicht kapiere, was für andere ganz selbstverständlich ist.
Liegt also wirklich nicht in deinem "Zuständigkeitsbereich".

 

Habe ich auch nicht als Kritik an mir aufgefaßt. Die Story ist übrigens Nr. 23, entstand 1991-1993 und wurde 1997 von Michael Marrak im Andromeda SF Magazin 139 sowie 1999 im Andromeda SF Magazin 141 von Karl Aulbach veröffentlicht.

ad astra

 

Handelt es sich hierbei um diesen "Story Center"? Und die Andromeda Nachrichten sind dann praktisch nur ein Informationsblatt? Habe ich das jetzt auf die Reihe gebracht?

 

Nein, der SFCD bringt derzeit drei unterschiedliche Publikationen (regelmäßig unregelmäßig)heraus.
1. die Andromeda Nachrichten (das ist ein Info-Magazin und erscheint ca. 4-5 mal im Jahr. Darin wird die SF-Szene beleuchtet, es erscheinen Kontaktadressen, Buchrezensionen und vieles mehr. Neuerdings werden auch kleine Stories abgedruckt)

2. Das Andromeda SF-Magazin (Hierbei handelt es sich um diverse Arbeiten zu bestimmten Themen. Das können Sachthemen, wie z. B. Faschismus in der Fantasy oder auch Storysammlungen oder ein Mix aus beidem sein.)

3. Das Story Center (Hier erscheinen ausschließlich Stories)

Alle drei Publikationen sind für meine Begriffe optisch ansprechend und relativ professionell gemacht. Als SF-Fan sollte man sich wirklich überlegen, ob man nicht dem SFCD beitritt. Kostenpunkt unter 100 DM/Jahr (so genau weiß ich das jetzt nicht auswendig, es gibt aber für Leute ohne eigenes Einkommen Ermäßigungen).

ad astra

 

Danke erstmal für die Auskunft! Ich werde drüber nachdenken.

Ach, und entschuldige bitte, dass ich so wenig bislang von dir gelesen habe - das Wetter ist doch sehr schön :cool: und ich habe außerdem einige andere Stories gelesen. Darf ich dir eine Empfehlung geben? Lies mal die Geschichten von Frank Carnotte - wenn DER Junge nicht ein Talent zum Schreiben hat, dann weiß ich auch nicht! Ich bin echt begeistert von ihm!!!

Sodale - zumindest eine Story wird sich ja wohl noch ausgehen?!? Und danke nochmal für deine Hilfe! Vielleicht werden wir ja doch noch mal Kollegen? ;)

 

Wieso? Schulst Du gerade um auf Steuerberater?

Falls Du die Schriftstellerei meinst, das ist ein Hobby meinerseits und wird wohl niemals zu so richtigem finanziellem Erfolg führen.

Carnotte habe ich noch nie gehört, finde ich den hier oder muß ich im buchhandel suchen?

ad astra

 

Äh... Ich bin mir sicher, dass die Steuerberaterei eine fesselnde Zunft ist, aber... :D

Ich glaube auch nicht, dass einer von jemals ein großer Autor wird. Aber immerhin bist du mir schon einige entscheidende Schritte voraus, oder?

Frank Carnotte ist ein Autor auf dieser Website. Schau mal unter Horror, obwohl er in einigen anderen Rubriken auch gepostet hat. "Xenomorph" musst du UNBEDINGT lesen!!!

 

Werde ich mal tun, aber dieses Wochenende gibt das nix, und nächste Woche wird mein Sohn eingeschult und der andere wechselt die Schule und dann ist da noch so etwas unwesentliches wie die Arbeit...

Werde es irgendwann mal tun!

ad astra

 

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