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Timothy Bale

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18.05.2008
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Timothy Bale

- Klavier, dann Violinen hinzu. Forte. Fortissimo. Tacet. 3 Sekunden.

Man mag kaum glauben, wie laut die Stille ist. Sie weckte mich, die Totenstille. An die Geräusche hatte ich mich gewöhnt, an die Granaten, die Artillerie, die Schüsse, die Schreie. Jetzt war das alles weg. Nichts. Ich traute mich nicht meine Augen zu öffnen, doch durch die Lider schmerzte die Morgensonne. Kein Vogelgezwitscher. Keine Befehle. Ich schlug die Augen auf. Der Himmel leuchtete unangenehm blau. Keine Wolken legten ihre Schatten gnädig auf das Szenario um mich herum, all die Leichen, die da lagen. Wie friedlich sie da lagen. Ich stand auf, klopfte mir den Staub von meiner Uniform und ging.

- Klavier und Violinen, dann nur Didgeridoo.

Es gibt selbst im kleinsten Gehirn einen Teil, der nie vergisst. Das Warum meiner Taten wanderte in anderen Bezirken umher und hielt sich still. Ich sammelte ein Gewehr auf – Es muss dem jungen Mann daneben gehört haben, fragen konnte ich ihn nicht mehr. Ich tat ihm den Gefallen und suchte seine Beine. Dann lehnte ich ihn an einen Brunnen an und wusch ihm die Füße. Ich ließ sie gleich drin. Es kam mir richtig vor, den anderen auch an den Brunnen zu lehnen. Der dritte fluchte, als ich dasselbe mit ihm versuchte. Ich muss zugeben, ziemlich überrascht gewesen zu sein.

- Eine einzige Violine, ein einziger Ton, lang gezogen, dann ein bellender Hund.

John Bull ist der stereotype Name eines stereotypen Briten. Ich kannte den stereotypischen Briten nicht, bis auf den Verdacht, dass er sein Steak blutig mochte. Ich fragte einen Mann mit einer hässlichen Kopfwunde, einem Arm zu wenig und einer fremden Uniform, wie er sein Steak wollte. Er sah mich an, nicht verwirrt, wohl mit dem klarsten Blick, den ich je gesehen hatte, und grinste. Aus einer breiten Zahnlücke quoll es rot, dann brach er Blut. Es schien, als wolle er nie aufhören. Am Ende war er ganz blass und atmete schnell, doch das Grinsen auf John Bulls Lippen blieb bestehen.

- Violinenspiel (Allegro), in Klavier auflösend. (Klavier am Anfang des Textes dabei)

Wenn man sich ganz fest ein Steak wünscht, besser zwei, eines blutig, eines gut durch, und dazu noch Salzkartoffeln, eine braune Soße, labberiges zerkochtes Gemüse, ein wenig Rührei dazu, zwei kühle Bier, und als Nachtisch Gebäck, auf Porzellangeschirr, mit Silberbesteck, das Bier in Brauereihumpen, dazu noch schwarzes Brot und Marmelade, ein bisschen Wurst oder Käse, bestenfalls beides, und Kaffee, raue Mengen Kaffee und ein wenig Salz und Pfeffer zum Geschmacksverfeinern – falls der Wunsch keine Gewürze kennt, und man wirft dabei den Fuß eines Soldaten – oder was davon übrig ist - in einen etwas blutigen Brunnen, dann bekommt man trotzdem nichts.

- Ein Wecker, tickend, dann als Weckruf die Violine.

Ich denke, ich sollte glücklich sein, in einem Raum, der drei Wände zu wenig aufzuweisen hatte, ein unbeschadetes Bett zu finden. Zusammen mit John Bull habe ich eine kleine Gedenkstätte aus dem Brunnen gemacht, ein löchriger Helm auf der Fontäne, ein Teppich davor. Man sollte tun, was man kann, denke ich. John Bull meinte, als wir den verschlissenen Teppich fanden, dass er früher auf solchen gebetet hatte. Das fand ich sehr erstaunlich, einerseits, weil Bull seine Worte sonst eher spärlich verteilte, und andererseits, weil ich noch nie von einem muslimischen Briten gehört hatte. Das ist eine seltsame Welt da draußen.

- Die Mitte ist erreicht. Kräftige Klänge, Piano, Violine, Gitarre, vereinzelte Paukenschläge. Im Verlauf immer schriller werdend. Zum Ende hin "hysterisch", abgehakt e Musikfetzen. Vorbei.

Felder sind was für Bilder. An der Wand hängend, in einer süßen kleinen Stube, überm Kamin, als Hintergrund für ein malerisches Südstaatenliebesszenario mögen sie schön sein, aber wenn man nach was Essbaren ausschaut, sind sie hässlich, ganz furchtbar hässlich. Wir ergatterten zweieinhalb Helme voller Mais und einen Hund, den aßen wir nicht, aber liegenlassen konnten wir ihn auch nicht. Bull vergrub ihn. Dann vergrub ich ihn, und Bull fluchte und suchte seinen zweiten Arm. Er fand ihn nicht, aber er fand eine kleine Brosche, die das Wort Timothy zierte. Er fragte mich neugierig, wie ich eigentlich hieße. Timothy, sagte ich.

- Das Geräusch eines Fernsehers, der seinen Sender nicht findet. Klavier. Fernseher, laut. Zerbrechendes Glas.

Ein Mann ohne Nachnamen ist wie ein Boot ohne Holz. Falsch. Ich war darüber erstaunt, denn so hintergründiges hatte der verschwiegene John Bull noch nie gesagt, doch ich gab ihm Recht. Er wollte mich Bale nennen, und obwohl ich das recht geschmacklos fand, stimmte ich ihm zu. Mein Name war nur ihm von Nutzen. Er hatte nie gesagt, ob ihm John Bull gefiele. Bull und Bale fanden bald eine Holzkiste, abgeschlossen, – armes, totes Schloss – steckten die Pistolen wieder ein und fanden Briefpapier darin. Beim Brunnen bauten wir uns damit ein Feindbild, legten es einfach auf den Boden. Niemand wollte schießen.

- Stelzvögel laufen über Kies.

Drei Tage blieben wir still, blieb die Welt still, nur mal, um zu sehen, wie das so ist. John machte ausgedehnte Spaziergänge über das kaputte Land. Ich saß auf meinem Bett und schoss Löcher in die Wand, bis mein Magazin leer war. Ich schlief im Sitzen ein und träumte von blauen Polstermöbeln. Als ich anfing, auf diese zu schießen, weckte mich Bull aus dem schönen Traum, indem er mir Kiesel gegen den Kopf warf. Er wirkte ausgezehrt. Seine Augen waren glasig, wie Murmeln. Als er mich fluchen hörte, zog John mich vom Bett. Der ausgemergelte Arm war noch voller Kraft.

- Pfeifen eines Vogels, zischender Jagdvogelton, Violinenton, forte, piano, pianissimo.

Man kann die Ewigkeit nicht erleben. Nicht einmal die halbe Ewigkeit. Dennoch liefen John Bull und Timothy Bale sicher länger als eine solche in der Abenddämmerung, in der Nacht, am frühen Morgen und in den glorreichen Mittag hinein. Bull strotzte vor Motivation und steckte mich damit an. Wir wurden nur mehr schneller, je weiter wir kamen. Den Löchern, den Büschen, den Leichen, den Trümmern wichen wir aus. Ich lachte wie ein Kind am Strand, und im Laufen schwang ich die Arme. Dann hielt Bull einfach an. Vor mir, ich wäre fast hineingefallen, so sorglos, wie ich rannte, war ein Schützengraben.

- Tacet.

Man mag kaum glauben, wie laut die Stille ist. Sie weckte mich, die Totenstille. An die Geräusche hatte ich mich gewöhnt, an die Granaten, die Artillerie, die Schüsse, die Schreie. Jetzt war das alles weg. Nichts. Ich traute mich nicht meine Augen zu öffnen, doch durch die Lider schmerzte die Morgensonne. Kein Vogelgezwitscher. Keine Befehle. Ich schlug die Augen auf. Der Himmel leuchtete unangenehm blau. Keine Wolken legten ihre Schatten gnädig auf das Szenario um mich herum, all die Leichen, die da lagen. Unter ihnen John Bull. Ich stand auf, klopfte mir den Staub von meiner Uniform und ging erneut.

 

Hallo!
Das ist meine erste Kurzgeschichte auf dieser Seite. :)
Die 10 Teile sind alle 100 Wörter lang, und jeder Teil kann einzeln als (sehr kurze) eschichte gelesen werden. Richtig verständlich ist es aber nur wenn man alles liest.
Die Gedankenstriche vor jedem Teil ist Auftaktmusik (natürlich nur gelesene, theoretische).
Freu mich über jede Kritik!

 

Hallo defbob,

eine interessante Geschichte hast du hier abgeliefert. Noch nicht ganz rund und im Stil teilweise noch etwas fahrig, aber dafür mit einigen guten Bildern und einer recht dichten Atmosphäre.

Ein vom Krieg traumatisierter Soldat stolpert durch das verwüstete Schlachtfeld (entweder fiktiv oder real). Der text wird allein durch seine Wahrnehmung bestimmt. Dinge, die er sieht, vermischen sich mit Wünschenund Sehnsüchten, alles nimmt stellenweise unrealistische Züge an, wirkt grotesk und zeigt damit anschaulich den Wahnsinn des Krieges auf, bzw derer Opfer.
Vielleicht interpretiere ich da jetzt zuviel hinein, aber gelungen finde ich das Ende dahingehend, da sich der Kreis des Verderbens schließt. Dein Protagonist kann dem Elend nicht entkommen. Er durchlebt die Schrecken des Krieges wieder und wieder (in Form einer posttraumatischen Belastungsstörung?).

Ob der zackige Aufbau für die Geschichte notwendig ist? Hm, spiegelt irgendwo die Art des Militärs wieder, aber darum geht es in meinen Augen nicht. Oder Ordnung im Chaos. Dennoch sieht die Form mehr nach einem Kniff zum hingucken aus, denn nach einem, der den Inhalt zu unterstreichen versucht. Zudem finde ich nicht, dass die einzelnen Kapitel für sich allein stehen können. Aber das ist ja auch nicht wichtig.

Zu den kleinen Ouvertüren: Da solltest du noch mal nachbessern, denn du bist nicht klar. Manchmal nennst du nur die Instrumente, manchmal sagst du etwas zum Farbklang (bsp. Traurig) oder der Länge.
Das wirkt nicht einheitlich. Mein Tipp: der Fokus sollte auf dem Klang liegen. Eine Violine kann tragisch wie kaum ein anderes Instrument klingen, aber sie kann auch zu einem verzückten Tanz aufspielen.

grüßlichst
weltenläufer

 

Ist schon richtig. Die musikalischen Einspielungen sind nicht visuell, und darum ist traurig unpassend. Ich werds mal umschreiben, danke.

Die Inhaltsinterpretation überlassen ich jedem selbst, ich habe die Geschichte eher real geschehend gesehen, also für Bale, aber da soll jeder seine Meinung haben. Ich finde, deine Meinung sticht meine schon irgendwie aus, es wirkt natürlich ein wenig unnatürlich ;)

Die "zackige" Form ist kein Hingucker und auch kein Widerspiegeln der Geschichte. Ich habe mir einfach die Aufgabe dazuauferlegt, die Geschichte in 10 Teile mit 100 Wörtern aufzuteilen. :)
Ich find sowas ganz interessant, beim Schreiben auf die Länge achten zu müssen.

 

Hi defbob,

da es keinen Krieg ohne Traumatisierung der Soldaten gibt, finde ich diese Geschichte nicht seltsam, auch wenn sie natürlich in die Rubrik passt. Noch mehr passt das eventuell seltsame Agieren deiner Protagonisten aber in den Kontext der Geschichte, in das Erleben und zu dem, was hinter ihnen liegen könnte.
Hat mir gut gefallen dein Text, trotz des einen oder anderen Detailhinweises:

Kein Vogelgezwitscher. Keine Befehle.
Kein Befehl - Etwas, das nicht da ist, braucht keinen Plural, auch finde ich, wirkt die Stille durch den Singular mehr.
Keine Wolken legten ihre Schatten
dito (gilt natürlich auch für den letzten fast identischen Absatz)
Es muss dem Mann neben ihm gehört haben
Auf Personalpronomen verzichten. Es muss dem Mann daneben gehört haben.
und wusch ihm seine Füße
und wusch ihm die Füße (wessen sonst?)
John Bull ist der stereotypische Name eines stereotypischen Briten
stereotypisch geht zwar, allerdings würde ich hier eher zu stereotyp greifen, da, wenn das endungslose und das auf "isch" endende Adjektiv konkurrieren, das endungslose meist als einfaches Eigenschaftswort genommen, während das auf "isch" endende eher für Beziehungen und Vergleichen herangezogen wird.
Was ich zweierlei erstaunlich fand,
entweder "in zweierlei Hinsicht" oder "aus zwei Gründen" aber "zweierlei" erstaunlich geht nicht ohne zugehöriges Objekt.
weil ich noch nie von einem muslimischen Briten gehört hatte
Dein Protagonist sollte mal Salman Rushdie lesen. ;)
Er wollte mich Bale nennen, und obwohl ich es recht geschmacklos fand, nahm ich ihn an.
Irgendwie scheint mit die Grammatik dieses Satzes nicht kongruent. Vorschlag: Er wollte mich Bale nennen, und obwohl ich das geschmacklos fand, war ich einverstanden (oder: stimmte ich zu).
Mein Name war nur ihm zum Nutze.
IN diesem Kontext: von Nutzen

Lieben Gruß
sim

 
Zuletzt bearbeitet:

Danke für die Kritik. Einfach umzusetzen ist sie dank der 100 Wörter nicht. ;)
Aber ich probiers.
Das mit dem Plural seh ich bei "Wolken" ein. Kein Befehle klingt meiner Meinung nach aber besser als Kein Befehl. Geschmackssache, schätze ich.
Der Rest ist sehr nachvollziehbar, danke. :)
Salman Rushdie kenn ich nicht, aber er wird im seinem Buch nicht einer von tausenden sein, oder?

 

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