Tims Bruder
Tims Bruder
Tim wusste sofort, dass etwas los war, als Mama nach Hause kam. Sie benahm sich so ganz anders als sonst. Tim wusste nicht, ob sie froh war oder traurig. Auf jeden Fall war sie furchtbar aufgeregt. Sie ging sofort zum Telefon und rief Papa im Büro an. Das tat sie sonst nie. Vorher schickte sie Tim aus dem Zimmer, aber dann sprach sie so laut, dass er sie trotzdem gut hören konnte. Er verstand nicht ganz, was sie Papa erzählte. "Ja!", rief sie immer wieder. "Es ist wahr. Ganz bestimmt! Kein Zweifel!" Nach diesem Telefongespräch nahm sie Tim ganz fest in den Arm, küsste ihn, und dann schickte sie ihn mit Gero in den Garten.
Mit Gero konnte man wunderbar spielen. Zum Beispiel Nachlaufen, obwohl es Tim ein bisschen ärgerte, dass Gero immer gewann. Oder Verstecken. Gero fand ihn überall, auch an den unmöglichsten Stellen. Es war Tim ein Rätsel, wie er das schaffte. Im Winter zog Gero Tims Schlitten, und im Sommer gingen sie zusammen im See baden. Wenn Tim ein Spiel machte, bei dem Gero nicht mitspielen konnte, lag er still dabei und beobachtete alles. Gero ließ ihn nie allein, nicht eine einzige Minute, und weil Mama das wusste, erlaubte sie Tim auch, allein wegzugehen.
Nicht nur tagsüber waren sie immer zusammen, sondern auch nachts. Gero schlief in seinem Hundekorb direkt neben Tims Bett. Als Tim noch klein gewesen war, hatten sie manchmal sogar zusammen gegessen. Tim hatte Gero etwas von seinem Butterbrot abgegeben und dafür von dem Hundefleisch in Geros Napf gegessen. Aber nachdem Mama sie einmal dabei erwischt hatte und ganz böse geworden war, aßen beide nur noch ihr eigenes Essen.
Auch beim Abendbrot taten die Eltern heute sehr geheimnisvoll.
"Was ist denn los?" fragte Tim mehr als einmal.
"Später!", vertröstete ihn Mama.
"Was habt ihr denn?" Tim ließ nicht locker.
"Wir sagen es dir nach dem Essen", versprach Papa.
Tim war so ungeduldig, dass er sogar freiwillig half, den Tisch abzudecken. Endlich war die Küche aufgeräumt, und sie saßen zusammen im Wohnzimmer. Mama lächelte und nahm ihn in den Arm.
"Stell dir vor", sagte sie, "du bekommst ein Geschwisterchen! Ist das nicht wunderbar?"
Tim wusste überhaupt nicht, was er davon halten sollte.
"Wann denn?", fragte er.
"Es dauert leider noch eine ganze Weile", erklärte Mama. Und dabei lachte und strahlte sie.
Papa schien sich auch sehr zu freuen. Er riss Tim hoch und schwenkte ihn herum.
"Was möchtest du lieber haben", fragte er, "ein Brüderchen oder ein Schwesterchen?"
Tim überlegte kurz. "Weiß nicht", sagte er dann. "Und eigentlich brauche ich auch keinen Bruder und keine Schwester. Ich habe doch Gero."
Beide Eltern wurden plötzlich ernst. Sie sahen sich kurz an.
"Tja, weißt du", sagte Papa dann und kratzte sich am Kinn, "mit Gero ist das so eine Sache. Wir glauben nicht, dass wir ihn behalten können."
"Warum denn nicht?" schrie Tim auf.
"Wenn ein Säugling im Haus ist, muss immer alles ganz sauber sein", sagte Mama. "Und du weißt selbst, wie schmutzig Gero oft ist."
"Na, dann baden wir ihn eben!" rief Tim. Er verstand wirklich nicht, warum Mama sich plötzlich wegen einem bisschen Dreck dermaßen anstellte.
"Ein so großer Hund und ein ganz kleines Baby, das kann gefährlich werden", erklärte Papa.
Tim schossen die Tränen in die Augen. "Gero ist nicht gefährlich!" schrie er wütend.
Mama versuchte, ihn wieder in den Arm zu nehmen, aber Tim riss sich los. Dicke Tränen liefen ihm über das Gesicht.
"Wenn Gero nicht bei mir bleiben kann, dann will ich das blöde Baby nicht. Schick es wieder weg!" stieß er hervor.
Gero kam schwanzwedelnd angelaufen und leckte ihm die Hand. Tim fiel auf die Knie und umhalste ihn ganz fest. Dabei drückte er sein Gesicht in Geros zottiges braunes Fell. Gero schnuffelte warm und feucht in sein Ohr. Es kitzelte, aber diesmal musste Tim nicht darüber lachen.
Die Eltern sahen auf die beiden hinunter.
"Gero ist wirklich gutmütig", sagte Papa. "Weißt du noch, als Tim kleiner war? Er konnte alles mit Gero machen: ihn am Schwanz oder an den Ohren ziehen, sich in seinem Fell festkrallen ..."
Auch Tim konnte sich noch gut daran erinnern. Als er noch ganz klein gewesen war, hatte er sogar eine Zeitlang geglaubt, Gero wäre ein Pferd, weil er so groß war und weil er ein paar Mal auf ihm geritten war.
Und - was das Beste war - niemand wusste, wie lieb Gero wirklich war. Eigentlich sah er nämlich ziemlich gefährlich aus. Er hatte riesige Zähne, und wenn er knurrte, hörte es sich an, als ob in seinem Bauch Donner grollte. Deshalb wagten noch nicht einmal Tims Freunde, die Gero kannten, mit Tim zu zanken oder zu raufen, denn das hätte Gero bestimmt nicht zugelassen.
"Gero ist tatsächlich ein liebes Tier", stimmte Mama Papa zu.
Hoffnungsvoll sah Tim zu ihr auf.
"Aber er ist so riesig", fuhr Mama fort. "Stellt euch nur vor, dieser Hund würde unserem Baby seine Pranken auf die Brust legen. Oder ihm über das Gesicht lecken"
Sie sah aus, als bekäme sie eine Gänsehaut..
"Und außerdem weiß man vorher nie genau, wie so ein Tier reagieren wird", fügte sie hinzu.
Papa seufzte und strich Tim über den Kopf.
"Vielleicht hat Mama ja recht", sagte er. "Aber im Moment brauchen wir noch gar nicht darüber nachzudenken. Wir haben ja noch so viel Zeit! Heute wollen wir uns nur freuen. Einverstanden?"
"Und vielleicht finden wir ja auch einen Platz für Gero, wo du ihn ab und zu besuchen kannst", versuchte Mama Tim zu trösten.
Aber über nichts, was Tim an diesem Abend noch hörte, konnte er sich freuen. Zum Beispiel darüber, dass Geros großer Hundekorb aus seinem Zimmer verschwinden sollte und dass dann genug Platz dort wäre für das Babybettchen. Bald war Tim sich ganz sicher, dass er das neue Kind niemals mögen würde. Er wusste noch nicht einmal mehr genau, ob er Papa und Mama noch mochte. Vielleicht wäre es das Beste, mit Gero einfach wegzulaufen.
In der nächsten Zeit wurde viel über das Baby, aber gar nicht mehr über Gero gesprochen. Tim begann schon zu hoffen, die Eltern hätten vergessen, was sie mit dem Hund vorhatten.
Eines Tages kam Mama wieder freudestrahlend nach Hause.
"Ich weiß jetzt, was es wird", sagte sie geheimnisvoll zu Tim.
Der verstand zuerst gar nicht, was sie meinte.
"Willst du es auch wissen?" fragte Mama.
Tim nickte.
Mama umarmte ihn. "Du bekommst ein Brüderchen!" rief sie. "Ist das nicht wunderbar?"
Tim nickte wieder. Was blieb ihm auch anderes übrig?
An diesem Abend kam Papa ebenfalls mit einer wichtigen Nachricht nach Hause.
"Ich habe vielleicht jemanden gefunden, der Gero nimmt", verkündete er beim Abendessen. "Ein Kollege, der ziemlich weit außerhalb wohnt, könnte einen Wachhund gebrauchen. Er will demnächst mal vorbeikommen, um sich Gero anzusehen."
Mama schien das zu freuen, aber Tim konnte nicht mehr weiteressen. Und was das Schlimmste war: Gero lag die ganze Zeit still und zufrieden unter dem großen Esstisch und wusste nicht, dass er nicht mehr lange bei ihnen bleiben durfte.
Tim glitt unter den Tisch und streichelte Geros zottiges Fell. Gero räkelte sich faul auf dem Teppich und schloss voller Wohlbehagen die Augen. Tim bekam kaum noch Luft. Er hatte das Gefühl, von innen zu brennen. Auch die Tränen in seinen Augen waren ganz heiß.
Wenn Tim später an diesen Abend zurückdachte, kam es ihm so vor, als ob damals alles angefangen hätte. Irgendwie war Gero plötzlich anders als sonst. Fast schien es so, als ahnte er doch etwas. Er war nicht mehr so munter wie früher. Meistens lag er irgendwo mit halb geschlossenen Augen herum, und er ging auch nicht mehr so gern mit Tim nach draußen wie früher. Statt ständig herumzurennen trottete er nun mürrisch neben Tim her, und wenn Tim für ihn ein Stöckchen warf, tat er oft so, als hätte er es nicht bemerkt.
Am merkwürdigsten aber war, dass er sich gar nicht mehr so freute, wenn er etwas zu fressen bekam. Früher stand er ungeduldig dabei und beobachtete, wie sein Napf gefüllt wurde, und dann stürzte er sich regelrecht auf sein Futter. Jetzt roch er zunächst lange an seinem Fleisch, ehe er den ersten Bissen nahm. Manchmal ließ er sogar etwas von seinem Futter übrig. Und mit der Zeit wurde es immer mehr, was Gero in seinem Napf liegen ließ. Irgendwie sah er auch dünn aus.
"Ich weiß nicht", sagte Papa eines Abends, "irgendetwas stimmt mit dem Hund nicht"
"Er sieht wirklich nicht gut aus", fand auch Mama.
"Wenn er nicht bald wieder richtig frisst, müssen wir mal mit ihm zum Tierarzt gehen", sagte Papa.
"Gero ist nicht krank!", rief Tim. Er war plötzlich furchtbar wütend. "Gero ist nur traurig. Weil ihr ihn nicht mehr haben wollt!"
"Wir würden ihn doch auch gern behalten", sagte Mama. "Aber du weißt ja: es geht einfach nicht!"
Nur wenn Tim nach Hause kam, dann benahm sich Gero noch fast so wie früher. Er freute sich unbändig, sprang bellend an ihm hoch und wedelte so heftig mit seinem Schwanz, dass man einen richtigen Luftzug an den Beinen spüren konnte.
Und weil das so war, konnte Tim auch überhaupt nicht begreifen, was kurz darauf geschah. Nie im Leben hätte er geglaubt, nicht im Traum hätte er gedacht, dass Gero so etwas tun könnte!
Es war Sonntag, und sie gingen zusammen in den Garten. Tim wollte Stöckchen für Gero werfen, aber Gero hatte heute überhaupt keine Lust zu diesem Spiel. Immer wieder machte Tim einen Versuch.
"Lauf, Gero!" rief er, aber der Hund saß nur bewegungslos neben ihm und sah zu ihm auf. Wieder warf Tim einen Stock, aber Gero rührte sich nicht.
Jetzt wurde Tim sogar ein bisschen böse.
"Lauf! Hol den Stock!" rief er und gab Gero einen leichten Klaps auf sein Hinterteil.
In diesem Augenblick geschah das Unfassbare. Gero fuhr herum und schnappte nach ihm. Er schnappte tatsächlich richtig zu und biss Tim in den Arm! Tim wurde ganz starr. Er sah auf seinen Arm hinunter. Es blutete, und man konnte genau erkennen, wo Geros Zähne zugebissen hatten.
Auf einmal merkte Tim, dass es auch weh tat. Laut schreiend lief er ins Haus, und Gero lief hinter ihm her. Tim hatte jetzt beinahe Angst vor ihm.
Die Eltern waren auch entsetzt, als sie sahen, was Gero angerichtet hatten. Sie fuhren sofort mit Tim ins Krankenhaus. In der ganzen Aufregung dachte niemand mehr an den Hund.
Der Arzt im Krankenhaus sagte, dass Gero zum Glück nicht schlimm zugebissen hatte, aber als Tim mit seinem verbundenen Arm nach Hause kam, hatte er doch immer noch ziemliche Schmerzen. Und er war wütend auf Gero. Sehr wütend sogar.
Gero lag in seinem Korb und winselte leise. Er hörte gar nicht mehr auf zu winseln, auch nicht, als Tim sich neben ihn setzte und mit ihm sprechen wollte.
"Er muss Schmerzen haben", meinte Papa schließlich. "Morgen gehe ich mit ihm zum Tierarzt."
"Er hat keine Schmerzen", widersprach. Tim. "Es tut ihm nur leid, was er getan hat."
Wieder hockte er sich neben Geros Korb.
"Warum hast du das getan?", fragte er seinen Hund. "Warum hast du mir weh getan?"
Aber Gero sah ihn nur an und winselte weiter.
An diesem Abend fraß Gero überhaupt nichts. Und in der Nacht wurde es immer schlimmer mit ihm. Jetzt winselte er nicht nur, sondern er jaulte und heulte so laut, dass keiner ein Auge zutun konnte.
Am nächsten Morgen fuhr Papa gleich nach dem Frühstück mit Gero zum Tierarzt. Tim wartete mit Mama zu Hause.
Es dauerte sehr lange, bis Papa zurückkam. Endlich hörten sie sein Auto in der Einfahrt. Tim stürzte zum Fenster. Papa stieg gerade aus dem Auto aus. Aber Gero war nirgends zu sehen.
Tim hatte auf einmal ein ganz schreckliches Gefühl. "Wo ist Gero?" fragte er Mama mit zitternder Stimme.
"Vielleicht musste er in die Tierklinik", antwortete Mama, aber Tim merkte genau, dass sie sich auch Sorgen machte.
Als Papa ins Zimmer trat, sahen beide ihn fragend an, aber er schüttelte nur stumm den Kopf und setzte sich.
"Wo ist Gero?" fragte Tim. aber in diesem Augenblick wusste er plötzlich, dass er Gero nie wiedersehen würde.
Papa nahm ihn auf den Schoß und streichelte ihn. "Gero war sehr krank", erklärte er. "Er hatte Krebs. Diese schreckliche Krankheit hat seinen ganzen Körper von innen zerstört. Er muss furchtbare Schmerzen gehabt haben."
"Wo ist Gero denn jetzt?" fragte Tim weinend.
"Der Arzt hat ihm eine Spritze gegeben. Er ist ganz ruhig eingeschlafen", antwortete Papa.
"Ist er tot?" fragte Tim. Er hatte ein Gefühl, als ob das alles gar nicht wirklich geschähe.
"Ja", sagte Papa. "Und jetzt wissen wir auch, warum er dich plötzlich gebissen hat. Weil er so schlimme Schmerzen hatte."
Aber Tim konnte das nicht begreifen. "Warum hat er mich deshalb gebissen?", fragte er immer wieder. "Warum hat er das bloß getan? Es war doch nicht meine Schuld!"
Während Papa versuchte, ihm alles zu erklären, ging Mama hinaus. Sie hatte auch Tränen in den Augen. Schnell räumte sie Geros Sachen weg. Sie wollte nicht, dass Tim es merkte, aber er sah es doch, und es zerriss ihm fast das Herz, als sie Geros Decke, seine Näpfe und sein Spielzeug in den Hundekorb packte und alles in den Keller brachte.
Ohne Geros Sachen war das Haus so leer, und ohne seinen Korb war es in seinem Zimmer sehr einsam. Nur noch das Bild auf Tims Nachttisch erinnerte an ihn.
Es dauerte nur eine kleine Weile, bis Tim nicht mehr einsam und allein in seinem Zimmer war. Sein neuer Bruder war zwar ganz anders als Gero, aber irgendwie doch auch ganz nett, fand Tim.