Titanweiss
Das waren Löwenaugen, sie war sich da ganz sicher. Weshalb sie so sicher war? Ein Poster klebte an der Decke ihres Zimmers. Dieses Poster bedeckte die ganze Decke, deswegen sah es aus, als wäre das Bild an der Decke gemalt und nicht befestigt worden. Schon viele hatten sie gefragt, ob sie’s gemalt hätte, es wäre wunderschön, sie würden gerne auch so eine Decke haben. Was auch immer die Leute dazu sagten, niemand kam darauf, dass das ein Poster war. Niemand brauchte es ja zu wissen. Jedenfalls war auf diesem Poster ein Löwe abgebildet. Seine goldenen Beine waren ausgestreckt, seine Mähne leuchtete wie die Sonne und sein Schwanz lag Richtung Tür. Der Kopf, gehoben über seine riesigen Vorderpranken, befand sich über ihrem Bett, sodass seine Augen sie direkt anstarrten. Diese Augen kannte sie schon jahrelang. Zu lang. Gerade eben hatte sie solche Augen gesehen. Es waren keine leblosen auf Papier gedruckten Augen gewesen. Ganz im Gegenteil: sie hatten geglänzt und gefunkelt und voller Leben gestrahlt. Doch kaum dass sie die Farbe bemerkt hatte, waren die Augen verschwunden, als hätte es sie nie gegeben. Gedankenlos drängte sie sich nun zwischen Mäntel, Pelze, Jacken und Westen. Alles war plötzlich schwarz und grau. Eben farblos, wie Asche und Kohle. Verdammt, ihr Blick verschwomm in ihren Augen! "Nicht hier..!",flehte sie. Endlich fand sie eine kleine Gasse. Sie schlug sofort in die Gasse ein. Inzwischen hatte sich ein kleiner dünner Bach auf ihrer Wange gebildet. Eine Perle erschien an ihrem Kinn, es wurden zwei. Bald galt es, was zuerst den Boden zu ihren Füßen, zu ihren schwarzen Schuhen, fallen würde. Ihr Kopf war leer und schmerzte trotzdem, sie hatte nicht gewusst, dass man Leere fühlen konnte. Nun wusste sie es. Hilflos sah sie den grauen Himmel an, die graue Mauer neben ihr, die eine Sackgasse bildete, die graue Hauswand vor ihr, ein graues Fenster, überall grau. Ein Wunder, dass sie noch durch ihren Tränenschleier was erkennen konnte. Sie erinnerte sich unerwartet an ein Bild, dass sie in einem Fenster gesehen hatte. Was für ein Fenster war das gewesen? Darin war alles grau, genau wie jetzt, und verschwommen, genau wie jetzt. Darüber hatte ein kleiner Zettel geklebt, soweit sie sich erinnern konnte. Was hatte darauf gestanden? Der Sturzbach endete in einem Taschentuch. Der verschwand gleich wieder in ihre Jackentasche. Ein letzter Blick in die Gasse, dann lief sie wieder im Gedränge, aber nach Hause. Sie hatte noch ihre Jacke an, als sie sich vor ihrem Spiegel stellte. Ein blasses müdes Gesicht starrte ihr entgegen. Die erste Farbe nach all dem Grau waren ihre gerötete Augen und gerötete Nase. Die zweite Farbe war das Lila-blaue ihrer Lippen.
Abrupt wandte sie sich von ihrem Spiegelbild ab und ließ sich mit allem auf ihr Bett fallen. Als sie die Augen anstarrten, grub sich die Leere in ihrem Kopf noch tiefer ein, es tat hällisch weh, es nahm Besitz von ihrem Körper. Sie wehrte sich nicht gegen die plötzlich aufkommende Kälte und gegen die Dunkelheit, die wie eine Nacht sie überfiel. Reflexartig steckte sie ihre Hände in ihre Jackentaschen, dann schloss sie für eine Weile die Augen. Sofort bildete sich vor den geschlossenen Lidern ein schmerzhaftes Bild, ein Bild aus der Vergangenheit, was sie verdrängt zu haben geglaubt hatte. Grelle Farben, wie wenn die Sonne durch ihre geschlossenen Lidern fallen würde blitzte auf, eine Gestalt näherte sich ihr, die Konturen unscharf. „Nein!!“ mit diesem Aufschrei wachte sie auf, sie schien eingeschlafen zu sein. Dann fühlte sie plötzlich das Taschentuch und zog es heraus. Weiss, ein grelles Weiss schlug ihr entgegen, vollkommen unschuldig lag es zerknüllt in ihrer offenen Hand. Sie musste zum ersten Mal wieder lächeln.
Eine Frau stand vor einem Schaufenster eines Antiquitätenladens. Sie betrachtete das Bild, das aufgestellt worden war. Darauf war ein kleiner Junge abgebildet, alles mit Grautönen gemalt. Der Junge lachte auf diesem Bild. Darüber stand auf einem Zettel „Freude“. Entschlossen ging die Frau in den Laden und begrüßte höflich den alten Mann an der Kasse. Sie zückte ihr Portmonnee: „Ich möchte das Bild am Schaufenster haben. Wieviel kostet es?“ Später ging sie zufrieden mit dem Portrait unter ihrem Arm nach Hause, viele starrten ihr nach. In ihrem Zimmer wurde das Bild an einer freien Stelle an der Wand genau gegenüber ihrem Bett aufgehängt. „Genau“, lachte die Frau, „Ja, ich bin nicht schuld! Titanweiss unschuldig!“