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Tjorben - Die Rettung aus dem Dorf
Tjorben - Die Rettung aus dem Meer
„Na mach schon!“, schrie der alte verwitterte Mann Tjorben zu. „Pack die restlichen Netze ein, damit wir endlich verschwinden können.“
Tjorben konnte das Geschrei kaum verstehen. Der Wind peitschte unbarmherzig ins Landesinnere und warf dabei hohe Wellen gegen die Küste. In der Ferne konnte man vereinzelt grelle Zickzacklinien am sonst pechschwarzen Himmel erkennen, gefolgt von ohrenbetäubendem Donnern, als ob die Erde in sich einstürzen würde. Tjorben sah seinem Ziehvater nach, der bereits auf dem Weg zurück ins Dorf war. Die hell erleuchteten Hütten in der Ferne wirkten verführerisch freundlich und weckten seine Sehnsucht nach einem behaglichen, wärmenden Feuer.
Er machte sich daran, weiter die dunklen, verschmutzten Netze einzurollen. Die groben Fasern schnitten sich in seine Haut und hinterließen rote blutige Striemen, als er hektisch versuchte, diese von tiefgrünen Algen und unförmigen Muscheln zu befreien.
„Die Netze ernähren uns. Ohne sie wären wir nichts“, hörte er in seinem Kopf die Stimme des Alten. Endlich war das letzte Netz von dem stinkenden Dung befreit. Tjorben warf es sich behänd auf die Schulter und schleppte es hinüber zu dem Fischerboot aus robuster Eiche. Nachdem er es zusammengerollt sorgsam unter das umgedrehte Boot gelegt hatte, machte er sich ebenfalls auf den Weg zurück ins Dorf.
Das Dorf lag in einem kleinen überschaubaren Tal, auf drei Seiten von gigantischen Bergen umschlossen und nach vorne offen zum weiten Meer. Die wenigen Bewohner lebten ausschließlich vom Fischfang und spärlichen Gemüsegärten, die um die kastenförmigen, aus dunklem Lehm gebauten Häuser, angelegt waren. Der Weg zu anderen Siedlungen war weit und gefahrvoll, so dass die Fischer selten ihren Ort verließen.
Es gab insgesamt nur etwa ein Dutzend Häuser und diese machten einen kleinen, gedrückten Eindruck, als würden sie vor den Winden Deckung suchen. Vor ihnen waren meist Holzfässer gestapelt, in denen die Bewohner trockenes Kochsalz lagerten, um das Verderben der Fische hinauszuzögern.
Tjorben trat über die Schwelle des Hauses seiner Zieheltern.
Froh dem Unwetter entflohen zu sein, machte er sich sofort auf zu dem Feuer, welches in einem alten Steinofen am Ende des wenig beleuchteten Raumes brannte. Zimmer gab es nur zwei - eines für Tjorbens Ziehvater Mehin und dessen Frau Sajed, dass andere genutzt als Wohn- und Esszimmer. Er selbst schlief mit den Hunden in diesem Hauptraum auf einer groben, grauen Decke nahe dem Ofen. Mehin war ein guter Freund seines Vaters gewesen, bevor dieser vor etlichen Jahren starb. Auch wenn Mehin stets viel von ihm verlangte, war Tjorben glücklich und hegte viel Zuneigung für seine Stiefeltern. Mittlerweile waren ihm viele Menschen im Dorf ans Herz gewachsen, sodass er sich nur schwer ein Leben fern von dieser Harmonie und Freundschaft vorstellen konnte.
Am nächsten Morgen machte sich Tjorben schon früh auf den Weg hinunter zum Meer. Er war meist als erster auf den Beinen, um alles für den Tag auf hoher See vorzubereiten. Als gerade das kleine Fischerboot startklar machte, hörte er ein leises Schluchzen.
Zuerst dachte er, es wäre nur Einbildung gewesen, da sonst niemand zu sehen war. Aber da - schon wieder ein herzzerreißendes Schluchzen. Er spähte vorsichtig über den Kiesstrand, konnte aber nichts sehen, außer seinen eigenen Atem.
Merkwürdig, das Geräusch war ihm so nah erschienen.
„So kann es nicht weitergehen“, hörte er eine tiefe, nuschelnde Stimme direkt neben sich, “zum Gespött mache ich mich! Lächerlich mache ich mich!“
Tjorben lief ein eiskalter Schauer den Rücken hinab.
„Wer spricht da?“, fragte er ängstlich. Keine Antwort. „Wer ist da?“, fragte er nun etwas mutiger.
„Wüsste nicht, was das den kleinen Menschenjungen angeht!“, bekam er eine ungehaltene Antwort. Tjorben drehte sich erschrocken im Kreis, um zu sehen wer da sprach. Die Stimme hatte so nah geklungen.
„Zeig Dich! Komm aus Deinem Versteck! Ich will Dich sehen“, forderte Tjorben ungläubig, um ihn herum nur der graue Kies.
„Danke, ich rieche Deinen Angstschweiß jetzt schon!“ Diesmal hatte die Stimme unmittelbar in Tjorbens Ohr gesprochen. Dieser warf sich vor Schreck rücklings in den noch kalten Kies.
„Du bist ein Geist!“, schrie Tjorben entsetzt und raffte sich ängstlich auf.
„Und auch noch dumm dazu!“, höhnte der andere, „aber mehr kann man von einem schmutzigen Bengel wohl nicht erwarten.“
Langsam sah Tjorben wie sich weniger Meter vor ihm schemenhaft eine Gestalt zeigte. Immer noch etwas durchsichtig und doch erkennbar.
„Vielleicht ein Luftgeist?“, fragte Tjorben vorsichtig. „Kein besonder großer allerdings.“
„Kein besonders großer allerdings…spuckt hier Töne wie ein König“, stellte die große schemenhafte Gestalt verärgert fest.
„Entschuldige, ich wollte Dich nicht beleidigen Geist“, stellte Tjorben klar.
„Wenn Du mich noch mal Geist nennst, zerdrücke ich Dich wie eine Stubenfliege! Mein Name ist Silas!“, knurrte das Luftwesen zornig.
„Silas? Und was bist Du Silas?“, fragte Tjorben neugierig.
„Ich bin ein Sylphe. Und zwar ein sehr mächtiger!“
„Und wie sieht Deine Macht aus?“, bohrte Tjorben weiter.
Der Sylphe bäumte sich auf. „Schau her! Und ich zeige Dir die Macht der Sylphen!“
Es schien als ob er auf einmal den Wind kontrollieren würde. Sogar als ob der Wind aus der monströsen, immer noch schemenhaften Gestalt selbst käme. Tjorben bereute bereits seine Worte, als ihm sämtliche Geschichten der einst mächtigen Sylphen urplötzlich wieder einfielen. Er ging ängstlich in Deckung, mit der Gewissheit gleich von einem gewaltigen Sturm überrollt zu werden, als ihn die leichte, sommerliche Brise traf. Verwundert rappelte er sich auf und sah den Sylphe, wieder in seiner normalen Größe, trotzig auf dem Boden sitzen.
„Sag bloß nichts Mensch“, knirschte die sitzende Gestalt.
„Die Kraft der Sylphen hat es aber in sich“, höhnte Tjorben lachend.
Verärgert schüttelte der Luftgeist den Kopf.
„Aus irgendeinem Grund habe ich nur noch die magischen Fähigkeiten einer Bergziege“, klagte er. „Hättest den Trick vor hundert Jahren sehen sollen. Da hättest du dich nass gemacht vor Angst.“
„Das ist der Grund für Deine Traurigkeit?“, Tjorben achtete darauf jeglichen Hohn aus seiner Stimme zu verbannen. Der Sylphe nickte nur zustimmend.
Die beiden wurden gestört von Stimmen anderer Fischer, die sich auf den Weg zum Meer befanden.
„Ich haue ab!“, erklärte das Luftwesen mit argwöhnigem Blick auf die nahende Gruppe „sonst lassen die mich in Rauch aufgehen.“
Tjorben sah wie sich der Sylphe schwebend entfernte.
„Auf Wiedersehen!“, rief er ihm nach.
„Brise Glück!“, verabschiedete sich dieser mit einem Augenzwinkern und löst sich in Luft auf.
Bevor Tjorben weiter darüber nachdenken konnte, bellte Mehin ihm schon Anweisung zu. Niemand schien etwas von Tjorbens seltsamer Begegnung gemerkt zu haben und er war eigentlich auch ganz froh darüber.
Den restlichen Tag hielt Tjorben immer wieder Ausschau nach dem Sylphen, aber ohne Erfolg. Dann begann die Dämmerung - und ein weiterer Tag neigte sich dem Ende zu. Tjorben hatte seine Aufgaben schon erledigt und wollte sich gerade auf den Weg zurück ins Dorf machen, als er etwas auf dem Wasser glitzern sah. Mit zusammengekniffenen Augen versuchte er auszumachen, was dort draußen auf dem Wasser funkelte. Es schien ein Stab mit etwas glänzendem am Ende zu sein. Etwas goldenes. Tjorben packte die Neugier, er zog seine Kleider aus und sprang ins Wasser, um zu dem Holz zu schwimmen. Er war ein sehr guter Schwimmer und so dauerte es trotz hoher Wellen nicht lange bis er den Stab erreichte. Er faßte nach ihm, doch sobald er die Hand um das hölzerne Rund schloss, riss es ihn hinab in die Meerestiefe. Tjorben versuchte loszulassen, aber seine Hand schien mit dem Stab verwachsen. Er geriet in Panik und schlug um sich - aber vergebens. Er konnte sich nicht lösen. In seinem panischen Versuch sich zu befreien schluckte er Wasser. Wie Feuer brannte das salzige Nass in seiner Kehle, als er plötzlich den Luftgeist neben sich sah. Tjorben spürte kräftige Hände, die seinen Körper empor hoben, dann folgte die Dunkelheit.
Das vertraute Rauschen des Meeres weckte Tjorben sanft. Unter sich spürte er den harten Kies des Strandes. Seine Kehle schmerzte entsetzlich als er sich aufrichtete.
Langsam wurde ihm bewusst was geschehen war. Ein Blick neben sich ließ ihn erstaunt aufschrecken. Dort lag der Stab. Und neben ihm saß der Sylphe.
„Silas? Was ist passiert?“, fragte Tjorben irritiert.
„Das war der Stab eines mächtigen Zauberers! Ein mächtiges Relikt, dem ein eigener Geist innewohnt!“, erklärte der Sylphe.
Tjorben drehte sich um und sah in die schemenhaften Augen des Luftwesens.
„Er lebt? Und wieso wollte er mich töten?“, stammelte er.
„Der Stab erkannte Dich für unwürdig!“, antwortete der Sylphe ehrlich. „Vorher besaßen ihn nur mächtige Zauberer, die ihn unterwarfen bevor sie ihn nutzen konnten.“
„Und wieso hast Du mich gerettet?“
„Weil mir danach war“, gab das große Luftwesen wieder in seinem alten hochmütigen Ton zurück. „Und weil Du zugehört hast“, setzte er kleinlaut hinzu.