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Tod und Sturm
Manche Dinge sind so alltäglich, dass man sie überhaupt nicht mehr bemerkt, sie für gegeben ansieht. Waren sie schließlich doch immer da gewesen, unerkannt und verborgen, so, wie die Sklaven, deren einzelne Gesichter man nicht kennt. Würden sie aber verschwinden, dann würde das feine Gebilde zusammenstürzen.
Man sagte, er habe Selbstmord begangen.
Noch vor Aufgang der Sonne war die Kunde eingetroffen und hatte sich verbreitet. Schlimmer als jede Pest. Viele hatten schon davor bemerkt, dass hinter den Kulissen ein Vakuum entstanden war – etwas Vertrautes entschwunden war.
Ungewöhnlich viele Lichter hatten in der Nacht die unzähligen Fenster der Türme und Paläste erhellt. Als wollte man in diesen Stunden nicht alleine sein - die Dunkelheit in ihrer Einsamkeit vertreiben.
Er selbst hatte es schon kurz nach Mitternacht gespürt. Der Wein in seinem schweren Becher hatte seine Süße verloren, die entblößten Frauenleiber plötzlich an verwelkte Rosen erinnert. Es war, als hätte man ihm die Luft abgeschnürt, als hätte man ihm das Innerste herausgerissen.
War sein erster Gedanke gewesen, sich mit Opium dieser Leere zu entziehen, so hatte er sich doch entschieden einen vertrauten Ort aufzusuchen, um dort das Mysterium ergründen zu können.
Eben ging die Sonne auf und tauchte die Landschaft in einen Hauch von rötlicher Farbe. Doch war es dunkler und farbloser als am gestrigen Tag, oder am Tag davor, oder vor einem Jahr. Die zig Türme der Stadt erstrahlten nicht in pastellfarbenen orangerot weißen Tönen, sondern sahen erstarrt aus, wie tote Spitzen eines grau rot verschmutzen Monsters aus der Hölle. Ein Schaudern überkam ihn. Seine sonst so weichen Gesichtszüge waren erhärtet. Sein Mund war zu einem dünnen Strich geworden. Die Narbe auf seiner Stirn hervorgetreten.
Er selbst war gestützt auf den kalten, glatten Stein des Höchsten der Türme, geschlagen über tausend Meilen entfernt in den Minen von Gurag. Wie ein uralter Titan erhob sich der Turm aus der Mitte der Stadt über den Wind und selbst durch die wenigen Wolken hindurch, dem Allmächtigen entgegen. Nicht drohend, sondern ehrfurchtsvoll. Versucht hatte man das Himmelsgewölbe zu erreichen, hinaufzusteigen in das Land der Träume; gescheitert war man, was vielleicht auch besser war.
Oben auf der Brüstung war es kalt. Selbst die dicke schwarze Robe war dagegen nur wenig Schutz. Kleine Eispartikel hatten sich in seinen schwarzen Haaren gebildet. Seine Finger hatten schon leicht zu zittern begonnen. Magie wollte er nicht verwenden, hatte er doch jeglichen unnützen Gebrauch verboten. Die Manaspeicher mussten bis aufs Maximum gefüllt werden. Denn wer wusste schon, was geschah. Sie mussten auf das Bitterste vorbereitet sein und das würde wahrscheinlich nicht ausreichen.
Traurig sah er nach unten in die Stadt. Noch war es eine leichte Brise, die dort wehte, wenn auch eisig und des Todes Geruchs gleich, aber der wahre Sturm würde erst noch kommen. Er konnte das Wehklagen schon hören, das leise zu ihm hinaufwehen würde. Selbst diese Brüstung würde dieses Mal nicht oberhalb des Geschehens stehen, auch wenn man sich von ihr vorstellen konnte, dass sie unerreichbar war, selbst für den tobensten Sturm.
Für einen Moment dachte er daran zu springen. Aber was würde es bringen? Er würde es ihm nachmachen, ja. War er doch immer das große Vorbild gewesen. Aber wohin würde es ihn bringen? Das Paradies hatte seine Gültigkeit verloren. Und ins Nichts wollte er nicht folgen.
Am Horizont tauchte eine flirrende Wolke auf. Seine Botschafter. Es war wohl ihre schwerste Mission. Sie mussten den Alptraum in die Realität hämmern.
Nicht einmal sie hatten so etwas erwartet, wahrscheinlich nie einen Gedanken daran verschwendet. War er doch der Fels in der Brandung gewesen, der Weg aus der Sackgasse, aber auch das immerwährende Mysterium.
Doch nun, wo es geschehen war, da war es beinahe kristallklar und nachvollziehbar. Und wieder war er dadurch der größte und tragischste Held. In all seiner Macht hatte er immer den Weg des Einsamen gehen müssen, gestrandet auf einer Insel voller sonderbarer Wilder. Wer hätte es irgendwann nicht auch einmal versucht, auf diese Weise dem Los zu entgehen, um zurück zu Seinesgleichen zu finden? Für ihn musste es die Hölle gewesen sein.
Natürlich, man konnte ihn dafür anklagen, seiner Verantwortung nicht gerecht geworden zu sein, nach seinen Schützlingen nicht mehr zu sehen. Aber wer sagte denn, dass das je seine Aufgabe gewesen war? Vielleicht sollte man eher für die Zeit in seiner Obhut danken.
Nun waren sie zumindest auf sich gestellt. Die Tore des Paradieses waren geöffnet - ihre Wächter kampfbereit, das Verschwinden des Ortes aufzuhalten. Angstvoll versuchend, auch unten auf der Erde Ruhe zu bewahren. Noch befand sich ihr Ort über dem Sturm, aber wie lange noch?
Die Weiße Allianz würde von Blut getränkt werden, so war es doch immer, wenn das zusammenhaltende Kontinuum verging.
Auf einmal fühlte er sich alt. Seine Welt war in einer Nacht zerbrochen und mit ihr er selbst. Das wusste er jetzt schon. Immer würde er sich an diese Zeiten zurückerinnern, in ihnen schwelgen. Gott war gestorben, die goldene Ordnung vergangen. Er sah schon die wilden Reiterhorden im Norden vor den weißen Magierstädten Stellung beziehen. Es war ihre Natur. Sie hatten die seinen eigentlich nie gemocht und andersrum im Prinzip genauso. Die Drasz-Armeen aus dem Süden würden die Bestien unterstützen, soviel war klar. Hatten sie doch schon immer ein Auge auf die Schätze der weißen Städte geworfen. Die Wächter des Gefallenen würden versuchen, schlichtend einzugreifen, aber was würde folgen? Tod und Verwesung. Verbrannte Erde. Sie alle würden vergehen wie er; untergehen im Schlachtengetümmel, hervorgerufen durch sinnlose Werte.
Ein Räuspern holte ihn aus seinen Gedanken. Schwerfällig drehte er sich um. Seine eisblauen Augen musterten müde Lucius, den Pagen. Auch ihm merkte man die Last an, die er nun zu tragen hatte, auch wenn sie noch so vernichtend gering war. Dunkle Ringe zeichneten sich um seine Augen. Sein blondes Haar hing ihm strähnig, verschwitzt, in die Stirn. Seine Kleidung sah so aus, als hätte er darin geschlafen.
„Eure Lordschaft, eine Bote der Drasz ist angekommen.“ Die Stimme war leise und brüchig.
Er seufzte. Sein Instinkt hatte ihm recht gegeben. Schon hatte es begonnen. Wie viel Tage würde es wohl noch dauern, bis ihre Armeen vor den Toren stehen würden? Was forderten sie wohl für einen Aufschub?
„Was sind ihre Forderungen?“ Seine Stimme klang eisig kalt. Seine Hände hatten sich zu Fäusten geballt. Wie er diese Brut verabscheute. Hatten sie denn überhaupt keinen Anstand? Er war gerade erst gestorben!
„Forderungen? Sie bitten um eine Bestätigung der Allianz, um sich ihrer sicher sein zu können, in den schweren Zeiten, die wohl nun kommen werden.“
Er hob eine Augenbraue. Für einen Moment schwieg er. Wirre Gedanken flogen durch seinen Kopf.
„Eure Lordschaft. Geht es Euch gut?“
„Bestätige, bestätige dem Boten, dass die weißen Magierstädte mit ganzem Herzen hinter der Allianz stehen.“
Langsam und monoton verließen die Worte seinen Mund, als bräuchten sie Zeit, um sich in der Realität zu orientieren.
Dann drehte er sich um und ließ Lucius stehen. Die Sonne blendete in seinen Augen. Er atmete die kalte Höhenluft tief ein. Wie frisch sie schmeckte und wie blutig.
Dieser Bastarde. In Sicherheit wollten sie ihn wiegen. Warteten sie etwa schon hinter der nächsten Hügelkuppe? Nicht mit ihm, dem Lord der weißen Magierstädte. Er würde sie austricksen, da sie wohl nicht ahnte, dass er es wusste. So schlau waren sie nicht. Mit Feuer und Pest würde er ihre Felder überziehen, wenn sie angreifen würden. Oder sollte er ihnen zuvorkommen?
Er seufzte. Was würde nur aus dieser Welt werden? Noch nicht einmal ein halber Tag war vergangen, seid er tot war und schon war das Chaos ausgebrochen.
Wieder sah er in die Weite. Etwas blitze in seinen Augen auf und für einen Moment fühlte er sich dort oben auf dem Turm wieder so, als stände er über allem. Über dem Sturm und über den Ängsten. Schreien hätte er wollen, sich in einen Adler verwandeln und losfliegen wollen. Und plötzlich entstand so ein Gedanke in seinem Kopf. Was, wenn er gegangen war, weil es Zeit war, dass sie selbst für sich Verantwortung übernahmen? Weil sie nicht durch ihn, sondern neben ihm existierten? Frei waren und nun alles tun und lassen konnten, was sie wollten?
Und da schrie er, und es hallte von den Mauern der Türme wider. Dunkel und Kraftvoll, als würde es das neue Zeitalter einleiten, das so anders werden würde. Schlechter? Ein erbarmungsloses Lächeln unspielte seine Lippen.