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Tom?
Tom?
Der Bus kommt; endlich.
Katie schultert ihre Sporttasche und folgt den anderen Wartenden zur Tür. Innen geht irgendein weiteres Licht an, während die Menschen einsteigen.
Sie zeigt dem Busfahrer ihren Monatspass, den er kaum eines Blickes würdigt. Es sind einige Plätze frei und so setzt sie sich ans Fenster, stellt die Sporttasche neben sich ab und wirft noch einen raschen Blick auf die Uhr. Kurz nach acht. Im Sommer wäre es um diese Zeit noch hell.
Sie schließt die Augen, denkt nach. Duschen, als erstes. Und dann muss ich mir noch einmal meine Notizen von der letzten Vorlesung anschauen. Aber vielleicht geht das ja recht schnell und ich kann mit Sven noch ins Kino. Ihn zu überreden wäre jedenfalls nicht schwer; so gerne, wie er ins Kino geht...
Der Bus hält mit einem leise schnaufenden Geräusch. Katie öffnet die Augen wieder, beginnt, die ersten Eintretenden zu mustern. Niemand, den sie kennt. Sie wendet sich wieder dem Fenster zu und beobachtet die langsam an ihr vorbei fahrenden Autos. Was für eine Blechlawine...Der Bus fährt wieder an, leise Gespräche dringen an ihr Ohr. Sie hört nicht hin, überlegt, welche Filme zur Zeit aktuell sind. Dann hört sie etwas und sieht auf.
War es die Stimme, die sie aufhorchen ließ? Oder das, was gesagt wurde? Sie hat es nicht bewusst verstanden, nur im Unterbewusstsein wahrgenommen. Jetzt hört sie genau hin.
»Fand ich auch. Aber ich schätze, da kannst du nichts machen.«
Es ist seine Stimme.
Aber kann das sein? Wie kann er hier sein? Hier, nicht zweihundert Kilometer entfernt, sondern hier, irgendwo hinter ihr sitzend? Das kann nicht sein, es kann nicht seine Stimme sein...
Katie hört zu, angestrengt. Einen Moment lang vernimmt sie ihn nicht zwischen all den leisen Gesprächen, dann fährt er fort. Und Gewissheit und Zweifel spielen gegeneinander.
Tom?
Alte Erinnerungen tauchen in ihr auf. Tom, ihr bester Freund, damals mit sechzehn. Tom, der Basketball-Narr. Tom, der Träumer.
Sie hört diese Stimme und fragt sich, ob es möglich ist. Ob er es sein kann. Das letzte Mal hat sie ihn gehört, da war er siebzehn. Und heute? Heute müsste er bereits vierundzwanzig sein. Was er wohl macht? Studiert er, wie sie? Vielleicht sitzt er gerade im selben Bus wie ich....
Umdrehen? Nachsehen? Etwas hält sie für einem Moment zurück – mach dich nicht lächerlich –, doch die Neugier siegt schließlich und sie wendet den Kopf. Nichts zu sehen. Der Bus ist inzwischen zu voll, Leute verdecken ihr die Sicht und alles, was sie ausmachen kann, sind schwarze Haare. Toms Haare?
Katie lässt sich zurück in den Sitz fallen und denkt nach. Sie muss ihn ansprechen, sie muss zumindest herausfinden, ob er es ist. Wo er wohl aussteigt...?
*
Es war sehr warm, keine Wolken am Himmel. Katie und ihre Freundin Sabrina waren dennoch gelaufen, Runde um Runde. Sie liefen gern, es befreite und war ein tolles Gefühl, es geschafft zu haben.
»Schauen wir noch den Jungs zu, ehe wir heimfahren?« Sabrina wies zum Basketballplatz, der nicht weit entfernt lag. »Ich bin noch zu k.o., um aufs Fahrrad zu steigen.«
»Von wegen – du hoffst doch nur, dass dein Mark da ist!« Katie lachte, lenkte aber gerne ein. »Ich möchte auch noch nicht fahren, der Sattel wird glühen... Setzen wir uns an den Spielfeldrand.«
Mark war nicht dabei, aber es war Zeit für eine Pause und so nahmen sie auf der schmalen Rasenfläche Platz. Es waren fünf Jungs, die in ihr Spiel vertieft waren. Zwei davon kannten sie, Joey und Steven aus der Parallelklasse, die anderen drei schienen etwas älter zu sein. Lange ging das Spiel nicht mehr, dafür war es einfach zu heiß, und so kamen die fünf schließlich auf Katie und Sabrina zu.
»Na, wie war ich? Der Beste von allen, oder?« Es war das Lachen, das den Satz begleitete und Katie sofort sympathisch war. »Klar!«, ging sie darauf ein. »Du gehörst auf jeden Fall zu den Top 5 hier!«
*
Angenommen, wenn – falls – er es tatsächlich sein sollte... was dann? Was würde ein derartiges Wiedersehen bewirken? Kann es überhaupt etwas bewirken? Wahrscheinlich nicht. Sie waren nie zusammen, und überhaupt, das ganze ist doch sieben Jahre her. Wer weiß, vielleicht hat er schon geheiratet; zumindest aber ist er fest liiert und will sie gar nicht sehen.
Wenn er es ist.
*
»Wie soll ich es dir erklären, wenn du gar nicht zuhörst?«
»Es hat ja doch keinen Sinn! Ich verstehe es ja sowieso nicht und überhaupt: Wozu muss ich Physik können, wenn ich Basketballspieler bin?«
Das war das durchschlagende Argument. Wozu soll ich das lernen, wenn ich ein berühmter Basketballspieler werde? Katie verdrehte bereits nicht einmal mehr die Augen. »Weil ich nicht möchte, dass du morgen eine Fünf in der Arbeit schreibst. Darum, ja? Jetzt tu mir den Gefallen und hör zu, Tom.«
Er tat ihr den Gefallen und hörte zu, zumindest eine Weile. Katie erklärte gut und hatte sogar eine Zeitlang mit dem Gedanken gespielt, Lehrerin zu werden. Wirklich zugesagt hatte ihr das allerdings nicht und im Moment würde sie am liebsten Sportlerin werden, wie Tom. Aber ihm das erzählen? Am Ende schaffte er es noch, sie ebenfalls vom Lernen abzuhalten und wer weiß, schlussendlich wurde sie vielleicht Biologin, das wäre auch nicht schlecht.
»Ich check’ das noch nicht so ganz.«
»Okay, dann noch mal. Es ist gar nicht so schwer. Du –«
»Gehen wir nachher noch auf den Sportplatz?«
Katie fing an, mit dem Bleistift gegen den Tisch zu trommeln. »Vielleicht. Können wir das jetzt nicht fertig machen?«
»Jetzt komm, du klingst schlimmer als meine Mutter!«
»Ich versuche nur, dir Physik zu erklären. Du brauchst eine gute Note.«
»Alles was ich brauche, ist einen Basketball. Sonst nichts!«
Der Bleistift klackerte im schnelleren Takt, aber Katie schwieg.
»Ich gehe nachher jedenfalls noch auf den Platz.« Wie konnte ein Sechzehnjähriger denn noch so kindisch klingen, wenn es um sein heissgeliebtes Spiel ging?
»Bitte. Du kannst auch jetzt schon gehen, hat ja doch keinen Sinn!« Der Bleistift landete auf dem Boden.
*
Auch eine Stimme kann sich in sieben Jahren verändern. Und ein Gedächtnis kann sich täuschen. Zudem, er hätte doch sicher angerufen, wenn er zurückgekommen wäre. Ja, sie hat natürlich eine neue Telefonnummer, aber ihre Eltern doch nicht. Und diese Nummer zu verlieren war nicht möglich, er hat sie auswendig gewusst. Damals zumindest.
*
Das Handy klingelte. Einmal, zweimal. Unermüdlich.
»Ja?« Katies Stimme klang erstickt.
»Ich bin’s, Tom. Wollte fragen, ob wir auf den Sportplatz gehen.«
Vielleicht wäre das tatsächlich nicht schlecht. Solange laufen, immer und immer wieder im Kreis, bis die Gedanken fort sind und sich in Luft auflösen. Bis die Sonne untergeht und hoffentlich für immer dort unten bleibt.
Aber der Gedanke, jetzt aus dem Zimmer zu gehen, am Wohnzimmer vorbei, und dann hinaus auf die Straße, das ging nicht. Man sah es ihr an. Bestimmt.
»Also?« Ungeduld schwang in der Stimme mit.
»Nein... Ich kann nicht, tut mir Leid.« Es war mehr gekrächzt als wirklich gesprochen.
Das Telefon rauschte, während sie auf eine Reaktion wartete.
»Ist alles okay?«, fragte er schließlich.
»Hmm.«
»Soll ich vielleicht vorbei kommen?«
Vielleicht. Ich weiß es doch nicht. Ich weiß doch gar nichts mehr!»Wenn du magst.«
Tom saß einfach neben ihr, auf ihrem Bett, und hörte zu.
Sie erzählte leise, berichtete nur Puzzlesteine, die er zusammensetzen musste. Sie sprach von den letzten Jahren, von dem Streiten ihrer Eltern und wie darauf die Stille folgte, die noch viel schlimmer schien. Sie sprach davon, wie laut diese Stille sein konnte, so laut, dass man sich abgeschnitten von der ganzen Welt fühlt, als sei man in Watte gepackt und irgendwie betäubt.
Und er hörte zu, schwieg und sprach nicht vom Basketball, nicht von seinen Träumen, von seinen lebhaften Gedanken über die Zukunft.
Er hörte zu, das erste Mal seit langem, vielleicht das erste Mal überhaupt. Und er nahm ihre Hand und sie spürte auf einmal, wie gut das tut.
*
War sie damals in ihn verliebt? Es war bestimmt nicht das, was Sven und sie heute verbindet. Aber es war mehr als Freundschaft, denn er hat sie gerettet.
Ob er das jemals bemerkt hat?
Der Bus hat die Stadt verlassen und fährt durch die schwarze Nacht. Inzwischen sind viele Menschen ausgestiegen, wenige gekommen, und seine Stimme ist nun deutlich zu hören. Toms Stimme. Vielleicht.
*
Die Schaukel bestand aus einem Reifen, auf dessen Rand Katie ihre Füße stellte. Sie wippte ein wenig vor und zurück und ließ dann ein Bein wieder auf den sandigen Boden hinabgleiten. Mit der Spitze des Schuhs malte sie Kreise in den Sand.
Die Uhr zeigte erst kurz nach vier. Tom war selten pünktlich und wenn er nicht mindestens zehn Minuten zu spät kam, gab es keinen Grund zur Besorgnis.
»Hallo! Katie!« Sie sah auf. Da kam er, mit diesen dunklen, fast schwarzen Haaren. Und dem typischen Lachen im Gesicht. Es war das Lachen, das sie so mochte, das so unbeschwert war und sie mitreißen konnte.
»Hey, Tom!«
Sie hörte auf, Kreise in den Sand zu malen und begann wieder, ein wenig vor und zurück zu schaukeln. »Du hast geschrieben, du hast super Neuigkeiten. Was ist los? Hat dein Dad wieder Karten für ein Spiel bekommen?«
»Wenn du wüsstest!« Mit Schwung stieg er auf den Reifen daneben, blieb darauf stehen und verlagerte das Gewicht abwechselnd auf seine Beine, um nach vorne und nach hinten zu wippen. »Es ist einfach genial! Ich kann endlich etwas für meine Basketballkarriere tun!«
»Ach ja?« Katie hielt inne. »Erzähl endlich!«
»Stell dir vor, mein Dad hat eine neue Stelle und wir ziehen um! Und in dem Ort gibt es ein Gymnasium, ein extra Sport-Gymnasium, bei dem ich täglich spielen kann! Dort gibt es das beste Training, sagt mein Dad, und ich werde endlich optimal gefördert!« Sein Gesicht strahlte vor Freude und er begann immer stärker zu schaukeln. »Genial, oder? Einfach genial!«
Katie starrte ihn an. »Du ziehst um? Wann?«
»Schon bald – in drei einhalb Wochen!«
»Aber...« Katie hatte Mühe, ihre Gedanken zu ordnen. »Aber jetzt sind doch schon Ferien und wir fahren in drei Tagen in Urlaub und wenn wir zurückkommen...«
Er pendelte ein wenig langsamer. »Ja, das ist schade. Dann haben wir zwei gemeinsame Tage und dann fahr ich.«
»Wohin denn?«
»In so ein kleines Nest, frag mich nicht, wie das heißt. Zweihundert Kilometer von hier.«
Katie schloss für einen Moment die Augen. Zweihundert Kilometer. Ohne Auto eine Weltreise. Er könnte genauso gut nach Afrika ziehen.
»Und das sagst du mir... einfach so? Drei Wochen vorher? Und – und dass du deine Schule, deine Umgebung, dass du deine Freunde zurücklassen musst, das stört dich gar nicht?«
Tom wurde langsamer und setzte sich schließlich auf den Reifen. »Doch, schon. Natürlich. Aber du musst das auch verstehen! Ich kann dann endlich etwas für meine Zukunft tun! Mein Dad sagt, er kennt dort einen Trainer, der sei sehr gut und habe Kontakte.«
»So?« Katie hörte kaum noch zu. Tom zieht um. Nein, er zieht weg. Weit, weit weg.
*
Vor der Glasscheibe tanzen nun wieder Lichter. Grelle Werbebanner erinnern Katie daran, dass der Bus sich abermals in einer Ortschaft befindet. Ihre Haltestelle kommt gleich.
Seit jenem Tag haben sie sich nicht mehr gesehen. Katie war enttäuscht und hatte sich zurückgelassen gefühlt. Er konnte seinen Träumen nachjagen und sie blieb allein zurück.
Sie wartete auf seinen Anruf, wollte mit ihm reden, doch er meldete sich nicht. Sie fuhr mit ihren Eltern in Urlaub und fieberte den Tag ihrer Rückkehr herbei. Doch das Telefon blieb still und jene letzten »gemeinsamen Tage«, von denen er gesprochen hatte, fanden nie statt.
Der Bus fährt langsamer, blinkt. Ansprechen oder nicht? Sie rutscht zum Mittelgang, noch immer unentschlossen.
»Ich muss hier raus, Jungs. Bis dann!« Sie sieht auf, aus Reflex. Zwei Leute stehen im Gang vor ihr, verdecken die Sicht. Langsam folgt sie ihnen aus dem Bus.
Ein paar Meter vor ihr läuft er in der Dunkelheit, er, der seine Stimme hat und in ihr so viele Erinnerungen wachrief. Soll sie ihn rufen? Was, wenn er es nicht ist? Was, wenn er es ist?
Kann sie damit leben, es nicht zu wissen?
»Tom!«