Tomate mit Erdbeergeschmack
Genüsslich beißt Günther ein großes Stück von seinem Butterbrot mit Schnittlauch und Salz ab. Er betrachtet entspannt das Vorabendprogramm im Ersten, die Füße auf der Couch, in der anderen Hand ein Schüsselchen mit Cocktailtomaten. Günther liebt Tomaten, es gibt nichts besseres nach einem anstrengenden Tag. Tomaten geben Kraft und Energie für die Dinge die da noch kommen. Außerdem schmecken sie lecker.
Die ermündend einfach erzählte Soap-Geschichte tanzt in flimmernden Bildern vor seinen Augen. Er bemerkt sie kaum. Eine seltsame Idee blitzt in seinem Gehirn auf. „Was wäre, wenn die Tomate nicht wie eine Tomate schmecken würde?“ Gedankenverloren schiebt er sich eine der kleinen, roten Früchte in den Mund. Günther liebt das knackig-frische Geräusch beim draufbeißen und den sich schlagartig ausbreitenden Geschmack der herausspritzenden Innereien. So exakt analysiert hört sich das relativ ekelhaft an. Er kaut zweimal – die Tomate schmeckt bitter – und schluckt sie schnell herunter.
Die Seifenoper ist zu Ende. An ihre Stelle tritt ein steifer Herr mit perfekt gebundener, aber dennoch scheußlicher Krawatte.
Nachrichten.
„Edinburgh – Erstmals haben die Wissenschaftler, die 1997 das erste geklonte Schaf der Welt – Dolly – der schockierten Öffentlichkeit präsentierten, es geschafft eine neue Form von Früchten, die es so noch nie gegeben hat und laut unseren aktuellen Gesetzen bei uns auch nie geben wird, gezüchtet.“
Günther muss unwillkürlich grinsen. „Gleich entschuldigt er sich für seinen unverständlichen Schachtelsatz.“ Er zieht die Folie einer neuen Tomatenschachtel ab und wartet gespannt auf die entschuldigenden Worte.
Nichts dergleichen geschieht, der Sprecher fährt ungerührt in seiner rethorisch-ausgefeilten Schachtelreportage fort:
„Wird es bald in unseren Supermärkten ein Obst geben, dass wie eine Gurke riecht, wie eine Aubergine aussieht und nach Karotte schmeckt, wobei dies wie bereits erwähnt voraussichtlich nie eintreffen wird, gesetzt dem Fall, dass die zukünftige Politik mit einem Blick auf die abfallende Agrarwirtschaft doch gezwungenermaßen das Klonen von Lebensmitteln gestattet. Thomas Fiedler-Weidemann ist für uns live vor Ort in Edinburgh. Hallo Thomas.“
Günther hat bei dem Teil über die Aubergine mit Karottengeschmack entsetzt das Gesicht verzogen. Wo kämen wir da hin, wenn alles plötzlich anders schmecken würde. Generell verbindet man einen gewissen Geschmack mit einem bestimmen Obst.
Beziehungsweise eigentlich nur mit einem Namen.
Seine Tomate würde immer noch genauso schmecken, riechen und aussehen, wenn sie Gurke hieße. Er genehmigt sich eine weitere Tomate und ist froh, dass sie nicht Gurke heißt. Günther merkt, wie er über seine eigenen Gedanken stolpert. Urplötzlich stoppen seine Kiefer ihre Kaubewegung. Angewidert spuckt Günther das Ding auf seinen Teller. Die Tomate schmeckte nach Erdbeere. Verwirrt sieht er auf den kläglichen Haufen roter Haut. Eigentlich mag er Erdbeeren... aber eben nur im Zusammenhang mit Erdbeeren. Hat ihm sein Gehirn einen Streich gespielt? War er so damit beschäftigt gewesen, sich über diese neue Entwicklung in Edinburgh aufzuregen? Zögerlich nimmt er eine weitere Tomate. Auch sie schmeckt nach Erdbeere.
„...deshalb hat die Regierung nun über ALDI eine deutschlandweite Kampagne gestartet, mit dem Ziel, den Bürgern aufzuzeigen, wie abartig die Genmanipulation sein kann. Führende Wissenschaftler nahmen Erdbeeren bekannter Hersteller, stampften diese ein und überzogen diese mit einer Tomatenähnlichen Haut. Jeder, der eine solche Packung gekauft hat und sich von der schrecklichen Kombination überzeugen konnte, kann selbstverständlich sein Geld zurückfordern. Fraglich ist nur ob er es erhält. Aus Edinburgh Thomas Fiedler-Weidemann für die Tagesschau.“
Günther runzelt die Stirn. So ein Aufwand... typisch für die Regierung, da fließt das Geld hinein. Wieder muss Günther sich aufregen. Und das misshandelte Gemüse soll er jetzt wegwerfen? Er sieht es überhaupt nicht ein und isst trotzig eine weitere Tomaten-Erdbeere. Schön langsam gewöhnt er sich an den Geschmack. Günther rutscht tiefer in seinen Sessel.
„Öfter mal was neues!“ denkt er und greift sich eine weitere Frucht, während der Sprecher gelangweilt eine Wetterprognose abgibt, die jegliche Art von Wetter enthält und somit einfach richtig sein muss.
Bald hat Günther seine neuen Lieblingsfrüchte aufgegessen. Morgen wird er sich noch vier oder fünf Schälchen davon holen.