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Tonfall
Da ist sie wieder, die lange Straße. Der konstante Rechtsknick vermittelt das Gefühl im Kreis zu fahren.
Oder geht es doch geradeaus?
Irgendwie ist das alles nicht real.
Aber was ist dann Real?
Ich steige aus, fahre langsamer. Meine Brille ist beschlagen. Alles wird dunkel.
Schweißgebadet wachte ich auf. Meine Nachbarin übte wieder am Klavier. Ich fragte mich, wann ich endlich den Mut aufbringen würde ihr die Sinnlosigkeit ihrer Klavierübungen vorzuhalten. Die Tonfolgen drangen in mein Ohr wie Gabeln in ein Rindersteak. Langsam, aber stetig. Unerträglich. Warum begriff sie nicht, dass Musik nichts für sie war? Stupide Anfängerübungen. Hoch, runter, hoch, runter.
Mit meinen Kopfhörern verdrängte ich das Klavier aus meinem akustischen Umfeld. Aber es war noch da. Spürbar, aufdringlich, als wüsste mein Unterbewusstsein, dass meine Ohren nur getäuscht wurden. Wie ein Geruch, der sich in Kleidung festsetzt. Man selbst riecht ihn nach einiger Zeit nicht mehr, aber er ist noch da. Latent, diffus. Ich setzte den Kopfhörer ab. Kurz, nur um zu lauschen, ob sie schon aufgehört hatte. Ein kurzer Blick auf die Uhr hätte genügt, mit ihren Übungen war sie genauer als Braunschweig. Die Hoffnung stirbt zuletzt.
Natürlich spielte sie noch. Hoch, Runter, Hoch, Runter. Ein ruhiges Stakkato, aufdringlich und präzise. Wie eine Maschine. Unerträglich.
Ich stellte meine Musik lauter. Aber das Bewusstsein, dass sie noch spielte, rief das Klangbild wieder hervor.
Hoch, Runter, Hoch, Runter.
Im Zerrspiegel der unhörbaren Klavierübungen nahm ich meine Musik wahr.
Hoch, Runter, Hoch, Runter.
Ich hatte viel versucht, war in den Park gegangen, zehn Minuten bevor sie zu üben begonnen hatte. Aber es brachte nichts. Selbst, wenn ich nicht auf die Uhr sah, hörte ich sie spielen. Wie ein Lautsprecher in meinem Geist, eine Perversion der Stimme des Gewissens im Kopf.
Hoch, Runter, Hoch, Runter.
Das Schlimme war: Es gab keine Modulation, keine Menschlichkeit, in ihren Übungen. Exakte Werte, exakte Noten, wie eine Bandstanze. Wumm! Wumm! Wumm! Wumm! Hoch, Runter, Hoch, Runter.
Es war fünf Uhr. auf die Sekunde genau hörte es auf. Es wurde mir klar, ohne den Kopfhörer abzunehmen. Durch tiefes Durchatmen erlöste ich meine Lunge von dem quälenden Stakkato der Übungen. Mein Herzschlag normalisierte sich wieder. Mein Internist hatte mir angeraten, eine andere Wohnung zu suchen. Mein Vermieter hatte mich nur ausgelacht, als ich mit der Bitte zu ihm kam, das Klavierspiel meiner Nachbarin zu unterbinden.
Da vorne, da ist etwas. Die Straße scheint einen Knick zu machen. Ein Haus kommt in Sicht. Es hat keine Fenster. Auch eine Tür kann ich nicht sehen. Ich halte an, steige aus.
Das Haus scheint vor mir zurückzuweichen. Mit jedem Schritt darauf zu entfernt es sich mehr von mir. Es scheint unerreichbar. Eine Drohung liegt in der Luft, ein Geschmack von Gewalt. Ich renne, bin nach kurzer Zeit völlig außer Atem. Aber es scheint ein Stück näher zu sein als vorher. Das Gefühl einer Drohung ist nun überwältigend, geradezu körperlich spürbar. Ich gehe langsam weiter. Um das Haus ist ein Kreis auf dem Boden. Wie eine Grenzlinie. Er ist rot. Nach kurzem Zögern überschreite ich dann aber die Linie. Mit einem Schlag ist das Haus nahe gekommen. Wie mit einem Teleobjektiv sehe ich die Details der schmucklosen Fassade. Eine Tür. Ich gehe hindurch. Das Innere des Hauses ist nur ein großer Raum, in dem ein Klavier steht.
Davor: ein großer Hammer.
Das Drohgefühl ist nun physisch vorhanden, ich kann kaum atmen. Der Hammer. Das Klavier. Wie in Trance schlage ich auf das Klavier ein, um jeden Ton zu vernichten den es jemals erzeugt hatte. Mit jedem Schlag atme ich freier, lässt der Druck nach. In Zeitlupe sehe ich die Trümmer davonfliegen. Wie ein aufsteigender Vogelschwarm fühle ich mich.
Ich wachte vorm Klavier auf. Kein Stakkato der Fingerübungen, ein einziger dissonanter Laut.
Stille.
Ich wusste Bescheid.
Ich bin frei.