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Tot
„Ich nehm’ noch’n Klaren“, sagt André mit erhobener Hand, an der sich zwei Finger empor recken.
„Ich glaube, für dich reicht’s langsam.“
„Ich will doch nur noch einen letzten.“
„Vergiss es, hier bekommst du heute keinen Tropfen mehr“, schleudert ihm der Wirt mit eiserner Miene entgegen.
André schluckt einmal, bevor er mit müder Zunge vor sich hinmurmelt „Ach, leck mich doch am Arsch, verdammte Scheiße…“ Wie jedes Mal, wenn er seinen Alkoholpegel überschritten hat, bekommt er einen Schluckauf. In Form einer Geraden, die der in einem Protokoll zu einem missratenen Schülerexperiment gleicht, tragen ihn seine in den abgelatschten Schuhen schwitzenden Füße auf die Straße. Er greift in seine Innenbrusttasche, um eine Zigarette aus der Schachtel zu ziehen. Im zweiten Versuch gelingt es ihm. Ein kurzes Aufflackern, dann Qualm. Er hustet. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite macht sich eine Schar Mittvierziger über ihn lustig. „Ein einz’ger Tropfen deines Blutes“, schallt es herüber, „bewirkte wahre Wunder in meinen Adern – als wär’s ’ne Flasche Whiskey.“ Dann Gelächter. „Na, bist wohl nicht mehr so eloquent wie damals, was?!“ Einer der Zänker zieht hörbar den Rotz aus seiner Nase hoch und spuckt ihn so weit Richtung André, wie er kann.
Unkontrolliert blinzelnd schleppt sich André durch die Straßen. An einer vom Licht der Straßenlaternen nur spärlich erfassten Ecke bleibt er stehen. Er muss aufstoßen, doch der Magenbrei bleibt in seinem Körper. Stattdessen pinkelt er an die Wand und auf seine Schuhe. „Was soll’s, die Füße sind ja eh nass“, murmelt er kichernd. Dann stolpert er weiter. In einiger Entfernung kann er die Leuchtreklame seines Ziels bereits sehen, wenn auch verschwommen: vier Buchstaben über einer Anzeigetafel, welche die aktuellen Benzinpreise trägt.
Seine zitternden Finger wühlen in der Jacke nach einer Taschenuhr, ein Erbstück seiner geliebten Frau. Er nimmt nicht einmal mehr das stetig herannahende Blaulicht wahr. Als er über seinen eigenen Schnürsenkel stolpert, hält er kurz an, um ihn wieder zuzubinden. Am Rande seines Rausches registriert er gerade noch ein Ein-Cent-Stück, das auf dem Bordstein liegt. „Muss ja mein verdammter Glückstag sein“. Er bückt sich danach, verliert dabei das Gleichgewicht und fällt ungebremst in das Heulen der Sirene. Reifen quietschen. André zuckt am Boden, versucht aufzustehen. Ein Rettungsassistent steigt aus dem Krankenwagen und redet auf ihn ein. „Sind Sie in Ordnung? Haben sie Schmerzen? Ist Ihnen schlecht oder fühlen Sie…“ Der Sanitäter betrachtet Andrés Augen. Im Rettungswagen verständigt ein zweiter Helfer zunächst die Zentrale und dann die Polizei. Kurz darauf stößt er zu dem Verletzten und seinem Kollegen hinzu. In Andrés Kopf dreht sich alles. Diesmal leert sich sein Magen. Er liegt in einer Lache aus Blut und Erbrochenem. Im Flackern des Lichtes verliert sich eine gedämpfte Stimme.
„Herr Royter… Herr Royter, hier möchten Sie zwei Herrschaften sprechen.“
André öffnet seine Augen und findet sich in einem großen, toten Raum wieder. Das Bett, in dem er liegt, ist nicht seines. Zum ersten Mal seit Monaten, wenn nicht gar Jahren, ist keiner seiner Sinne mit Alkohol betäubt. Dafür zeigen die Entzugserscheinungen ihre Wirkung.
„Herr Royter, wir müssen mit ihnen über die Nacht des 23. Juni sprechen. Sie wissen, dass sie deswegen hier sind?“
„Ich…“
„Sie sind von einem Krankenwagen angefahren worden.“
André bemüht sich, der Konversation zu folgen, was ihn jedoch sehr anstrengt.
„Ich… er… erinnere mich nicht mehr. An… nichts mehr.“
„Unser Problem ist Folgendes: Der Rettungswagen, der sie angefahren hat, war auf dem Weg zu einem anderen Patienten. Nach dem Unfall mussten die Sanitäter sich natürlich erst einmal um Sie kümmern und bei der Zentrale eine andere Ambulanz für ihren eigentlichen Patienten anfordern.“
Der innerlich erregte Ordnungshüter sieht André in die Augen und versucht so, dessen Gedanken zu erfassen.
„Sie verstehen doch sicherlich, dass dadurch eine Menge Zeit verloren gegangen ist?“
André rollt seine Augen nach oben, so als würde er nachdenken. Dann nickt er leicht.
„Sehen Sie, Herr Royter“, fährt die jüngere Kollegin fort, „der andere Patient hätte wahrscheinlich gerettet werden können, wenn Sie nicht gewesen wären.“
Nach Worten ringend stottert André ebenso heftig, wie er zittert: „So–soll da-das etwa heißen,…da… dass d…“
„… die Frau tot ist. Ja, genau das soll es bedeuten“, unterbricht ihn der Gesetzeshüter in vorwurfsvollem Tonfall.
„Wa-was pass-ssiert jetzt?“
„Nun, Sie werden auf jeden Fall wegen Behinderung eines Rettungseinsatzes belangt. Ob sie gemäß Paragraph 222 des Strafgesetzbuches auch für den Tod der Patientin verantwortlich gemacht werden können, wird ein Gericht prüfen.“
„Haben Sie noch irgendetwas zu dem Fall zu sagen?“, fragt der Polizist auf seinen Notizblock starrend.
„N-n-nein,… d-das habe ich n-nicht.“
„Dann war’s das von unserer Seite aus. Einen schönen Tag noch.“
Der von den vergangenen Dienstjahren gezeichnete Ordnungshüter sieht seine Kollegin Kopf schüttelnd und verständnislos an. Dann verlassen beide den Raum. André sitzt mit weit aufgerissenen Augen und starrem Blick in seinem zerwühlten Bett. „Tot“, stammelt er, immer wieder, „tot“. Schweiß tritt unaufhörlich aus seinen Poren. Seine Atemfrequenz ist stark erhöht. „Tot…“