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Totenrache

sb

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11.10.2001
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Totenrache

Der Blick, den Rob Freeman durch die Windschutzscheibe warf, fiel auf dunkles, feuchtes, blattloses Geäst und, einige Meter weiter entfernt, den alten, mit Gras bewachsenen Bahndamm, der zum Tunnel hinführte. Leise klopfte der Regen einen hypnotischen Code auf das Dach. Es war kalt im Wageninnern, aber dennoch schwitzte Freeman. Er empfand tiefe Furcht vor dem, was er nun tun musste; sie zeigte sich in seinen Augen, die weit aufgerissen waren und in denen unablässig ein gehetzter Ausdruck stand, und in den fahrigen Bewegungen seiner Hände.
"Dann lass uns jetzt beginnen", sagte er mit rauer Stimme. Die Worte galten seiner Begleiterin, die neben ihm saß. Sie trug ein dünnes, weißes Kleid, das nicht vor der Kälte zu schützen vermochte. Unterhalb ihrer Brust und im Schoß war es von großen Blutflecken besudelt, die während der Fahrt hierher aus den Wunden in ihrem Gesicht getropft waren. Sie hielt den Kopf gesenkt, sah er im Licht der Innenbeleuchtung, ihr langes Haar verdeckte das Gesicht; Goldhaar hatte Freeman es genannt.. Sie hatte ihre Beine weit und ungelenk auseinandergespreizt, Freemans Blick ging oft zurück zu ihren Schenkeln unter dem hochgerutschten Kleid. Die obszöne Haltung gefiel ihm, aber sie war keine Einladung, sosehr er dies auch gewünscht hätte.
Mein Gott, dachte er benommen, und blickte auf seine schmerzenden Hände hinunter, die unruhig im Schoß lagen: Blut auch hier, und auch auf dem hellen Stoff seiner Hose sah er dunkle Spritzer. Einen Moment zögerte Freeman, als wollte er noch etwas sagen, ein leises Wort der Reue vielleicht, aber dann schüttelte mit einer wütenden Heftigkeit den Kopf, dass ihm eine Strähne seines dunklen Haars in die Stirn fiel. Hastig stieg er aus und wäre beinah auf dem morastigen Boden ausgeglitten.
Während er um den Wagen herumging, platzten Bilder vor seinem inneren Auge auf: Seine Hand, die unter den Stoff ihres Kleides wanderte, ihre lustvolle Umklammerung, ihre Küsse. Dann ihre plötzliche Ablehnung, als hätte ein kleiner Kontrolleur in ihrem Kopf einen Schalter umgelegt. Ihr Gesicht verfinsterte sich und zeigte Abscheu. Sie riss seine forschende Hand fort von ihrem Schoß.
Freeman konnte sich an ein Wortgefecht erinnern, nicht aber an die Worte selber. Vermutlich waren es beleidigende, verletzende Worte gewesen. Worte, die aufstachelten.
Er riss die Beifahrertür auf. Der Regen prasselte eiskalt auf ihn nieder, tausend klamme Finger, die ihn berührten. Er sah seinen Atem davonwehen.
Christine fiel ihm halb entgegen, und er hatte Mühe, sie vor einem Sturz zu bewahren. Sie verlor ihre Schuhe, als er sie unsanft aus dem Wagen herauszerrte. Ihr Kopf schlug hart gegen die Dachkante, das dumpfe Geräusch ließ Freeman aufstöhnen. Als hätte er nur noch diesen letzten Beweis benötigt, wusste er nun, dass sie tatsächlich tot war.
Bevor er die Tür zuschlug, klaubte er eine Taschenlampe aus dem Handschuhfach. Der Weg auf dem Damm, den er gehen wollte, und der Tunnel selbst lagen in tiefem Dunkel, und sicherlich war beides mit gefährlichen Stolperfallen gespickt. Er würde ein wenig Licht benötigen. Er glaubte nicht, dass um diese Uhrzeit und bei einem solchen Wetter jemand in der Nähe war. Aus diesem Grund ließ er auch die Scheinwerfer seines Wagens an, in deren Licht für einen Moment Christines blutbesudeltes Gesicht zu sehen war. Wieder sah Freeman unheimliche Bilder aufflackern, Schnappschüsse aus der Hölle: Er schlug immer wieder zu, wie ein Besessener hieb seine Faust mit roher Gewalt in Christines aufplatzendes Gesicht. Ihre Augen waren vor Panik geweitet, sie schrie und kreischte Worte ohne Sinn, aber selbst wenn Freeman in ihnen eine Botschaft erkannt hätte, so hätte er nicht mehr aufhören können, ihr wehzutun. Die Schmach der Abweisung saß zu tief in ihm. Er hörte ihre Nase brechen, und kochendes Blut schoss heraus. Schließlich legte er ihr seine schmerzenden Hände um den Hals und drückte erbarmungslos zu. Christine zuckte unter seinem Griff und röchelte, ihre Beine hämmerten eine wilde, verzweifelte Melodie auf den Boden, und mit einer Hand versuchte sie, ihm die Augen auszustechen, aber dazu fehlte ihr bereits die Kraft. Bald erstarben Christines sinnlose Zuckungen, und Freeman lehnte sich vor Erschöpfung keuchend zurück, während wilde Gedankenschwärme durch seinen Kopf schossen.
Er spürte heiße Tränen in sich aufsteigen, während er durch die Dunkelheit schritt und die Last der Leiche auf seiner Schulter spürte. Warum war es nur so weit gekommen?, überlegte er verzweifelt. Überdeutlich wurde ihm nun klar, dass er zum Mörder geworden war.
"Es tut mir leid", greinte er. "Verdammt, es tut mir wirklich leid, glaub mir. Oh Gott, lass es mich wieder rückgängig machen können."
Mit tränenverschleierten Augen stieg er den trügerisch-glitschigen Bahndamm hinauf. Der Regen kühlte seine heiße Stirn und ein wenig auch die Verzweiflung. Keuchend ging sein Atem, der als weiße Wolke vor seinem Gesicht flatterte. Endlich hatte er den letzten steilen Anstieg bewältigt und stolperte über die mit zum Teil dichten Unkraut überwucherten, rostigen Bahngleise, über die seit vielen Jahren kein Zug mehr gefahren war. Manchmal kickte er unabsichtlich einige Steine beiseite, die im Gleisbett lagen. Die letzten Schritte bis zum Tunneleingang legte er im Dunkeln zurück. Das Gewicht der Frau auf seiner Schulter machte ihm mittlerweile zu schaffen. Schwer rang er nach Luft, und als er in den muffigen Tunnel eintrat, wehte ein schwaches Echo zurück an seine Ohren, als würden tausend Münder aus der Finsternis zurückseufzen.
Unsicher blieb er stehen und schaltete seine Taschenlampe ein, deren Licht Unmengen von Unrat und pure Verwüstung aufdeckte. Freeman sah zu seiner Rechten zu einem Berg angehäuften Müll, meist Flaschen, die zerbrochen waren, und verrostete Bierdosen, aber auch zu einer Pampe aufgeweichte Zeitungen und Kleidungsstücke, selbst unbrauchbare Möbel waren darunter. Er nahm an, dass es sich um Hinterlassenschaften von Obdachlosen handelte, die sich hier soweit wohnlich eingerichtet hatten, wie das in einem zugigen, dunklen Tunnel möglich war. Freeman konnte sich an Diskussionen erinnern, die vor einigen Jahren durch Londons Lokalzeitungen gegangen waren, die sich um das wenig zurückhaltende Treiben der Tunnelbewohner drehten, und an die Versprechungen der Stadtväter, diesen Zustand so schnell wie möglich zu beenden. Es sah so aus, als hätten sie das geschafft.
Schwarz schimmerte der rohe Fels der Wände, an dem an einigen Stellen Regenwasser herabperlte, das sich am Boden zu Pfützen und kleinen Seen angesammelt hatte. Die Schienen beider Gleise waren in einem denkbar schlechten Zustand, die Bohlen zu einer weichen, schimmelnden Masse aufgeweicht. Außerhalb des kleinen Lichtkreises, den seine Taschenlampe zu werfen vermochte, glaubte er gelegentlich Schatten zu erkennen, die umherwuselten und lauerten, und dass es sich dabei nicht um eine Täuschung handelte, begriff er, als er schließlich die leisen fiependen Laute der Ratten hörte. Angewidert verzog er das Gesicht.
Freeman schwankte mit seiner Last über den unebenen, mit großen Steinen übersäten Boden, die Luft wurde immer unerträglicher, mittlerweile war sie zu einem Gemisch aus Fäulnis und Urin reduziert worden. Der Tunnel erstreckte sich seiner Schätzung nach über eine Entfernung von mehr als zwei Kilometern, aber es genügte – jedenfalls hoffte er es -, wenn er die Strecke nur zu einem kleinen Teil bewältigte. Aber noch hatte er den Punkt nicht erreicht, an dem er Christine in ihr würdeloses Grab legen konnte. Ganz in der Nähe lag ein alter, aufgeweichter Schlafsack mit aufgeplatzten Nähten. Leicht stupste Freeman ihn mit einem Fuß an und zuckte erschrocken zurück, als aus dem Innern ein wütendes Fiepen drang.
Verbissen ging er weiter. Das feuchte Haar Christines kitzelte ihm unangenehm im Gesicht, und ihre pendelnde Hand schlug bei jedem Schritt, den er machte, gegen seinen Bauch.
Immer wieder überkam ihn Wehmut und Trauer. Die Entwicklung der Dinge, die in den letzten beiden Stunden geschehen waren, verwirrte ihn ständig aufs Neue. Er hätte sich nie träumen lassen, dass er innerhalb weniger Minuten die ganze Leiter der Gefühlsregungen, zu denen Menschen fähig waren, rauf- und runtergejagt war: blinde Liebe, die sich zu Ekstase steigerte und schließlich in zerstörerischem Hass umschlug. Und nun suchte er in einem unheimlichen, rattenverseuchten Eisenbahntunnel nach einem Grab für die Frau, die ihm all diese Empfindungen zugemutet hatte.
Immer wieder musste er gegen aufkommende Panik ankämpfen. Es kostete ihn viel Mühe, die Nerven zu bewahren und stur nach vorn zu starren. Er folgte den verrosteten Strängen der Schienen, die oft um mehr als eine Handbreit verzogen waren. Wann war hier der letzte Zug gefahren?, überlegte er. Vor zwanzig, dreißig Jahren? Zu einem Zeitpunkt, als er selbst noch ein Kind gewesen war.
Nach weiteren zehn Minuten beschwerlichen Marsches wankte er völlig entkräftet zu der rohen Felswand, die sich rechts von ihm hinzog, und legte dort die Leiche nieder. Christines mit Blut besudeltes Gesicht blickte in seine Richtung. Mit leisem Grausen erkannte Freeman, dass ihre Augen im Licht der Lampe funkelten; geradeso, als wäre ein wenig Leben in sie zurückgekehrt. Blickten sie nicht spöttisch?
Nein!, beschwor er sich und atmete langsam ein und aus: Trugschluss! Seine überreizten Sinne gaukelten ihm Leben vor, wo keines war.
Christines Nase stand etwas zur Seite ab, zertrümmert von der rohen Gewalt der über sie niederprasselnden Schläge, und ihr Mund stand ein wenig offen, die blasse Spitze der Zunge lugte hervor.
Mit übertriebener Hast sammelte Freeman einige Steinbrocken auf, die in Massen an den Tunnelwänden lagen, und schichtete sie zu einem primitiven Grab auf. Bald bedeckten sie Christines Oberkörper und löschten ihren bannenden Blick aus, dann ihren Schoß, zum Schluss und etwas nachlässig die hübschen Beine.
Schwitzend von der Anstrengung und mit zitternden Gliedern beobachtete Freeman das Grab im schwächer werdenden und flackernden Licht der Taschenlampe und nickte erleichtert. Vielleicht würde irgendjemand sie hier finden, aber er war voller Zuversicht, dass dies erst dann geschehen würde, wenn alle verräterischen Spuren ausgelöscht waren. Die Zeit und die Ratten würden ihr das Fleisch von den Knochen nagen und sie nach und nach zu einem unbekannten, bedauernswerten Opfer reduzieren.
Kurz legte er zwei Finger an seine Stirn und stand da in der Pose eines nachlässig salutierenden Soldaten. Sein Mund öffnete sich, als wollte er etwas zum Abschied sagen, aber dann schüttelte er den Kopf und ging den beschwerlichen Weg zurück, den er gekommen war.
Unentwegt hallte ihr Name durch seinen Kopf, und er sah ihre blitzenden Totenaugen, die auf ihn niederstarrten.

In den folgenden Tagen schwand Christine nicht völlig aus seiner Erinnerung, aber Freemans Gedanken drehten sich nicht mehr permanent um sie, und auch seine Befürchtung, jemand könne ihr Grab vorzeitig entdecken, verblasste bald. In den Zeitungen, die er fieberhaft studierte, fand er nicht den geringsten Hinweis darauf, dass sie vermisst wurde. Wie beschämend, dachte er: Jemand stirbt, und die Welt bemerkt es nicht. Der Gedanke beschäftigte ihn eine Weile, dann schob er ihn beiseite. Er hatte ein langweiliges Leben ausgelöscht – einen Namen und eine Handvoll fadenscheiniger Träume -, jeden Tag geschah andernorts Schlimmeres.
Freeman fuhr durch Londons Straßen und empfand zum ersten Mal wirklich Spaß an seinem Beruf als Vertreter. Es war beinah so, als hätte der Mord eine unbekannte Welt, in der Leidenschaft herrschte, aus dem Dunkel seines Kopfes gezerrt. Die Toten konnten nichts, er hingegen alles. Ihm war nie bewusst geworden, wie groß seine Macht war.
Er lachte hell auf, es klang wie eine Salve aus einem Maschinengewehr. Er hatte in den vergangenen Tagen, obschon stets allein, soviel gelacht wie nie zuvor in seinem Leben, wenn er auch meist den Grund dafür nicht kannte. Allein das Geräusch gefiel ihm.
Manchmal tasteten seine Gedanken, wenn er es zuließ, sich zurück zu jenem Abend, als er Christine in einer Bar kennen gelernt hatte. Es war eine Begegnung jener Art gewesen, die Freeman sehr gut kannte. Er wusste, dass sie nur mit ihm sprach, weil sie betrunken genug war. Warum sie sich plötzlich auf der Fahrt zu Freemans Wohnung gegen seine Berührungen gesträubt hatte, verstand er nicht. Es mochte einen lichten Augenblick in ihrem vom Alkohol getränkten Verstand gegeben haben. Was hatte sie gesagt?, überlegte er nachlässig, mit welchen Worten hatte sie ihn verletzt, während seine Hand auf ihren warmen Schenkeln lag? Es fiel ihm nicht mehr ein.
Langsam durchfuhr er die Commercial Road. Weiter vorn sah er das Ende eines Staus, für diese Tageszeit nichts Außergewöhnliches. Normalerweise brachte dies sein Blut in Wallung, nun aber blieb er angesichts der Verzögerung völlig gelassen. Er schwitzte und fluchte nicht, als es nur langsam voranging. Grinsend zündete er sich eine Zigarette an und beobachtete die Passanten, die aneinander vorbeihasteten. Einer jungen Frau mit nach unten gewandtem Blick pfiff er hinterher.
Plötzlich erstarb sein Grinsen. Im gemächlichen Voranfahren kam er in die Nähe einer Kreuzung, an der zu allen Seiten der Straßen Menschen standen, die sie überqueren wollten. Freeman gab ein Stöhnen von sich und sagte etwas, das er nicht verstand, während er auf das mit trockenem Blut besudelte Gesicht der Frau innerhalb einer dieser Trauben von Menschen starrte. Es war, dort wo es nicht mit Blut beschmutzt war, so bleich, dass es zu leuchten schien. Niemand sonst nahm die schreckliche Frau wahr, einige Passanten schauten in ihre Richtung, aber der Blick rief kein Entsetzen hervor.
Christine, dachte Freeman erschaudernd. Panik schäumte in ihm hoch, wie in jener Nacht spürte er auch diesmal den schalen Geschmack des Entsetzens auf seiner Zunge, nur war es diesmal beinah noch schlimmer. Sie ist doch tot!, hämmerte es in ihm. Ich hab´ sie doch umgebracht und begraben.
Er nahm nicht wahr, dass seine Blase sich entleerte. Er umklammerte das Lenkrad seines Ford so krampfhaft, dass die Knöchel seiner Finger weiß und spitz hervorstachen.
Nun ist es vorbei!, dachte er benommen. Sie kriegen mich!
Freeman schüttelte den Kopf und schrie voller Qual auf. Christine schaute mit bannendem, ernstem Blick zu ihm hin, in ihrem zerstörten Gesicht war kein Anzeichen eines Lächelns. Sie trug, sah Freeman nun, keine Schuhe. Ihre nackten, von rauem Gestein zerkratzten Füße waren so bleich und blutleer wie ihr Gesicht.
Vielleicht lag es an diesem Anblick, dass er die Kontrolle verlor. "Nein!" schrie er auf. Er kurbelte wild am Lenkrad und scherte mit quietschenden Reifen nach rechts aus. Er fuhr auf seinen Vordermann auf, dessen Wagen einen Satz nach vorn machte. Splitterndes Glas stob davon, aber Freeman kümmerte sich nicht darum, er fuhr halb auf der Straße, teils auf dem Gehweg und raste davon.
Er sah die Gesichter einiger Passanten vor ihm, deren Münder zu einem Schrei aufklafften, bevor sie sich mit großen Sprüngen in Sicherheit brachten. Andere machten verzweifelte Gesten in seine Richtung – Halten Sie an, wollten sie ihm bedeuten, bevor Sie ein Blutbad verursachen! -, aber Freeman schenkte ihnen keine Beachtung.
Er versuchte, mit weit aufgerissenen, irr schauenden Augen im Rückspiegel etwas von Christines entsetzlichem Gesicht zu erkennen, aber es gelang ihm nicht. Ständig pendelte sein Blick zwischen Rückspiegel und Windschutzscheibe.
Dann zuckte sein Körper verkrampft zusammen. "Haut ab!" schrie er. Einen Steinwurf von ihm entfernt standen zwei Männer, die in einer Unterhaltung vertieft gewesen waren. Hinter ihnen wuchs drohend eine Litfasssäule empor. Von dem Plakat lächelte riesenhaft eine Frau zu ihm herunter.
Ich schaff´s nicht!, wimmerte eine Stimme in Freeman auf.
Bevor sein vor Schock erstarrtes Hirn eine Entscheidung treffen konnte, war er bereits heran. Einer der Männer besaß die Geistesgegenwärtigkeit, einen verzweifelten Satz zur Seite zu machen, der andere schaffte es nicht. Beinah mit einem Ausdruck des Erstaunens schaute er, wie Freemans dunkler Ford heranraste.
Das Geräusch des Aufpralls war grässlich. Freeman wurde mit brutaler Wucht nach vorn gegen die Windschutzscheibe geschleudert und hörte Metall kreischen, dann den Menschen, der zwischen dem Wagen und der Säule verkeilt war. In seinem Mund nahm er den Geschmack von Blut wahr. Haltlos rutschten seine Hände vom Lenkrad herunter und blieben auf seinem Schoß liegen.
Ich hab´ mir in die Hose gepisst!, dachte er unangenehm berührt. Aber tief in ihm schlummerte die Gewissheit, dass niemand darüber lachen würde.
Mit einem Stöhnen drückte er sich zurück in den Sitz und blickte in das vor purem Schmerz verzogene Gesicht des zerquetschten Mannes, der wie eine Sirene kreischte. Seine Augen schienen immer weiter hervorzuquellen. Mit seinen blutenden Fäusten hämmerte er auf das verbogene Blech der Motorhaube, es war ein rasender Wirbel, der im Innern des Wagens laut dröhnte.
Freeman sah ihn, aber er konnte den Anblick nicht begreifen. Sein Kopf war kalt und dunkel, wie leer gefegt. Ein beinah angenehmes Gefühl machte sich in ihm breit. Er entzifferte den Slogan auf dem Plakat: Lebe Dein Leben!
Er öffnete mit Mühe die Wagentür und stolperte aus seinem zerstörten Wagen. Die Passanten um ihn herum starrten ihn an, und für einen schrecklichen Moment befürchtete Freeman, dass sie doch lachen würden. Einige von ihnen übergaben sich brüllend, andere ließen ihren Tränen freien Lauf und schauten auf den verkeilten Mann, dessen Beine in grotesken Winkeln und völlig deformiert vom Leib abstanden. Sein rechtes Bein, sah Freeman, als er ebenfalls kurz hinüberschaute, zuckte und zitterte haltlos, weiße Knochen stachen durch sein blutüberströmtes Fleisch. Der Mann schrie nicht mehr, sein Kopf hatte sich nach unten gesenkt, Blut floss aus seinem Mund.
Freeman schaute sich nach Christine um, konnte sie aber nicht entdecken. Er begann zu laufen, erst zögerlich, dann, als er Zuversicht gewann, immer schneller, und niemand besaß die Geistesgegenwärtigkeit, ihn aufzuhalten.

Das Erwachen war eine Abfolge von verwirrenden Eindrücken, die sich summierten und ein flackerndes Bild ergaben, das neue Fragen aufwarf: Wo war er, und was von dem, was an Erinnerungsfetzen in seinem Hirn rumorte, war wirklich geschehen? Er schaute sich um, so gut es ging. Freeman stellte fest, dass er in einem Bett lag, aber es war nicht sein eigenes – die Laken rochen zu sauber -, und auch das abgedunkelte Zimmer war ihm nicht bekannt. Er sah Schränke und einige Geräte und ein weiteres Bett, das leer stand.
Ein Krankenhaus, dachte er. Wie war er hier hingekommen? Freeman erinnerte sich an seine verzweifelte Flucht und an den Unfall, der ein weiteres Opfer gefordert hatte. Sicher war der Mann mit den zuckenden Beinen inzwischen tot.
Freeman sah die Bilder des um sich schlagenden Mannes und konnte sie nicht vertreiben. Das Blut, das aus seinem Mund tropfte, seine aufgeplatzten, deformierten Beine, das erstarrte Gesicht der lächelnden Frau darüber.
"Nein...", schluchzte Freeman voller Trauer und legte eine Hand über seine Augen, als könne er damit die Schreckensbilder ausblenden. Er spürte den Verband, der um seinen Kopf gewickelt war.
War er bis zum Zusammenbruch durch die Straßen gehetzt?
Für einen Moment konzentrierte er sich auf den Gedanken, welche Erklärung er den Ärzten und der Polizei für seinen Amoklauf bieten sollte, aber er gab ihn auf, als ihm nichts weiter als Fetzen unsäglicher Ideen durch den Kopf gingen. Freeman sehnte sich plötzlich nach Schlaf. Es gelang ihm kaum noch, die Augen auf einen Punkt zu fixieren.
Was immer er sagen musste, wenn man ihn nach den Gründen fragte, es würde ihm ganz sicher morgen einfallen. Mit diesem Gedanken schlief Freeman ein.

Es war eine Regung, die ihn erwachen und voller Ratlosigkeit umherschauen ließ. Schließlich sah er im Halbdunkel eine Person in der Nähe der Tür stehen.
Eine Krankenschwester, nahm er an, die gerade eingetreten war und nach dem Patienten sehen wollte.
"Ich bin wach", sagte er zu ihr, damit sie das Zimmer nicht wieder verließ. Obwohl sein Kopf noch schwer war von unverdauten Träumen und verabreichten Beruhigungsmitteln, empfand er das tiefe Bedürfnis, mit jemandem zu reden. Krankenschwestern waren Kummer gewohnt, sicherlich würde sie ihn ein wenig trösten können.
Sie rührte sich nicht.
"Hören Sie?", fragte er etwas lauter. "Ich schlafe nicht."
Er hörte das leise Lachen einer Frau, und er fragte sich, warum sie das tat.
"Aber du solltest es tun."
Freeman riss voller Bestürzung die Augen auf. Diese Stimme...
"Erkennst du mich wieder, Robert?" Christine kam näher heran, verließ das Dunkel der Schatten, in denen sie verharrt hatte. Ihr Gesicht war bleich und nun wieder ernst.
Freeman wimmerte auf und hob beschwörend beide Arme. In seinem von Medikamenten umnebelten Hirn machte sich träge die Erkenntnis breit, dass sein Opfer ihn immer wieder würde aufspüren können.
"Bitte verzeih mir", schluchzte er, und einen Moment lang war seine Reue durchaus aufrichtig. Tränen traten aus seinen Augen. "Ich hab´ es nicht tun wollen."
"Robert", murmelte die tote Christine. Sie stand am Fußende seines Krankenbettes und starrte mit geschwollenen Augen auf ihn nieder. Ihre Schönheit war dahin, radikal ausgelöscht. "Und ich hab´ nicht sterben wollen. Glaubst du nicht, dass es mir ein wenig Genugtuung bereiten würde, dir wehzutun?"
Freeman konnte nur den Kopf schütteln und sinnloses Zeug brabbeln: nicht zu Ende gebrachte Entschuldigungen, Ausflüchte, Drohungen.
"Hast Rattenfraß aus mir gemacht, weißt du das?", fragte sie. "Sie haben mich regelrecht ausgehöhlt, die Biester. Sie schlafen in mir, sie verrichten ihr Geschäft in mir." Sie lächelte und spie dann bitter aus: "Sie kacken in mir."
"Bitte!", flüsterte Freeman leise. Er wollte das nicht hören.
"Hätte Lust, dir meinen wahren Körper zu präsentieren, augenlos, ohne Gesicht. Du solltest ihn sehen, mein Schatz." Sie kam um das Bett herum.
Freeman starrte ihr aus angstgeweiteten Augen entgegen. Wieso kam denn niemand?, überlegte er. Wieso schaute niemand von diesen verdammten Ärzten nach ihm?
Christine hockte sich rittlings auf seinen Brustkorb. Er konnte ihren Körper riechen, von dem eine Ausdünstung von Zersetzung ausging. Altes Fleisch, dachte er, totes Fleisch. Plötzlich spürte er den Druck ihrer Hände an seinem Hals, und der Gedanke ging dahin. Freeman packte ihre Handgelenke und riss und zerrte mit aller Kraft an ihnen, aber er bekam sie nicht weg. Christines Gesicht war über dem seinen, es wirkte ruhig und gelassen. Blickte es nicht sogar ein wenig freundlich?
"Schlaf ein", murmelte sie. Sie drückte unnachgiebig zu und lockte die grauen Schatten des Todes heran.

 

Die Geschichte ist spannend erzählt! Dafür ein dickes Lob! Ich hab ja schon mal gesagt; nicht jeder kann gekonnt und gut erzählen - Du kannst es eindeutig, finde ich! <IMG SRC="smilies/thumbs.gif" border="0">

Was mich allerdings etwas enttäuscht hat, das war der Schluß: Warum kam nicht auch der Mann, den Robert umgebracht hat, um ihn zu holen? :confused:

Griasle
stephy

 

Also: Unzweifelhaft feststellen möchte ich, dass die Story sehr gut erzählt ist! Natürlich könnte man am Stil an einigen Stellen noch etwas feilen, doch soll dies kein Kritikpunkt, sondern eine Anmerkung sein.

Inhaltlich würde ich sie als Mittelmaß bezeichnen:
Ein Mord wird vom Toten gesühnt, wobei nicht klar ist, ob diese/r tatsächlich zurückgekehrt, oder nur eine Wahnvorstellung des Mörders ist.
Daraus ergibt sich für mich leider, dass die Story spannungslos ist. Nach starkem Beginn flaut sie ab und nach dem Auftauchen der Toten ist die Geschichte gelaufen.
Schade drum! Das Potenzial zu einer fabelhaften Story hättest du mit Sicherheit.

Ich würde sagen: Weiter schreiben! ;)

 

Spannungslos? Da stimme ich Rainer in keinster Weise zu.
"Totenrache" ist vielmehr ein Highlight auf Kurzgeschichten.de, ohne Einschränkung: Brillant erzählt und spannend bis zum Schluss, par exellence eine perfekte Horrorstory.
Mein Kompliment!

Günter

 

@GKL - uff, vielen Dank für das Lob :)

Da werd ich dann gleich nochmal eine Geschichte veröffentlichen.

Schönen Gruß

sb

 

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