- Beitritt
- 31.10.2003
- Beiträge
- 1.543
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 23
Tower Zero - Brodin
Dies ist ein Gemeinschaftsprojekt von chazar und mir.
Hier geht es zu chazars Teil
Wir haben gemeinsam Plot und Hintergrund einer Geschichte entwickelt und dann diese aus jeweils zwei Perspektiven beleuchtet.
All diejenigen, die beide Geschichten lesen und kommentieren wollen, sollten mit Salems Teil beginnen.
Tower Zero - Brodin
»... man weiß nicht, was sie sind oder woher sie kommen. Fest steht, dass sie keine friedlichen Absichten verfolgen....«
»... man kann ihre Umrisse nicht genau erkennen, ihre Struktur nicht genau erfassen, aber eigentlich wissen wir auch jetzt kaum etwas über sie. Es gibt nur selten Überlebende...«
»...wir wissen nicht, was mit Europa passiert. Oder mit Asien. Oder Afrika. Die Kommunikation ist zusammengebrochen, Satelliten, Telefone, alles ist ausgefallen. Sie haben uns in die Steinzeit zurückgeschickt...«
»...jede Kontaktaufnahme zu ihnen scheiterte, jedes Friedensangebot wurde mit Gewalt und Tod beantwortet. Das ist… das Ende...«
„Heute früh gegen 5.32 Uhr ist der letzte Kontakt zu Tower Zero abgebrochen.“
* * *
„Fuck!“ Brodin fegte den Becher Kaffee vom Tisch. Die Muskeln unter seinem Hemd traten hervor.
Hank, der ihm an dem kleinen Tisch gegenüber saß, sah ihn an. „Es war doch eine Frage der Zeit.“
Brodin rieb sich mit den Händen durchs Gesicht, verweilte einen Moment in den Haaren. „Freitag wäre die Lieferung gekommen“, murmelte er.
„Es muss nichts bedeuten, wenn der Funkkontakt abgebrochen ist.“ Hank legte die Füße auf den Tisch. Er war um einiges kleiner als Brodin, aber das lag einfach daran, dass dieser fast die zwei Meter Grenze überschritt.
„Es bedeutet etwas, glaub mir“, sagte Brodin leise und stand wieder auf. Sein Kopf berührte beinahe die Decke des kleinen Offiziersraumes.
„Du denkst, Tower Zero könnte wirklich eingenommen sein? Dachte, Zero wäre außerhalb der sicheren Zeit immer hermetisch abgeriegelt?“
Brodin schluckte. „Sie werden irgendeine Stelle übersehen haben. Einen Spalt, so breit wie ein Finger; irgendeine Luftzufuhr. Was weiß ich.“
„Kann ich mir nicht vorstellen. Zero ist der sicherste Bunker. Die übersehen keinen Spalt.“ Hank nahm die Füße wieder runter. „Und nun?“
Der Raumlautsprecher knackte. „Lieutenant Brodin. Melden Sie sich augenblicklich im Besprechungsraum!“ Die verzerrte Stimme von Colonel Jefferson hallte durch die stickige Luft.
„Gleich wissen wir, was nun“, murmelte Brodin und ging zur Tür.
* * *
Zwei Stunden später betrat er wieder den kleinen Offiziersraum von Tower Eleven. Ein gleichmäßiges Schnarchen erfüllte die stickige Luft.
Wer auf die Idee gekommen war, die Bunker mit Tower zu bezeichnen ... Brodin schüttelte den Kopf. Seltsamerweise machte er sich immer wieder darüber Gedanken, wenn er mit Jefferson gesprochen hatte. Jefferson war der Leiter von Tower Eleven; ein arrogantes Arschloch, fand Brodin. Jedes Mal, wenn er ihm gegenüber stand, über seine Nickelbrille hinweg mit eisigen Augen und abgenagtem Ohr in den Raum blickend, empfand Brodin dieses ausgeprägte Gefühl der Antipathie.
Brodin hatte ihn schon immer mal auf das Ohr ansprechen wollen, aber es war ihm auch egal. Jefferson war nicht der Typ, mit dem man gern über Persönliches redete.
Er ging zu der verdreckten Kaffeemaschine und schüttete die schwarze Brühe in seine ebenfalls mit dunklen Rändern verzierte Tasse. Das Zeug stank wie Jauche. Wahrscheinlich war es auch welche. Anscheinend machte sich hier niemand Gedanken darüber, woher der Kaffee kam. Inzwischen waren seit der Invasion drei Jahre vergangen, aber es wurde immer noch Kaffee geliefert. Brodin konnte sich nicht vorstellen, dass Tower Zero Kaffee anbaute.
Er verzog das Gesicht, als die lauwarme Suppe seine Zunge passierte.
Die spärliche Deckenbeleuchtung verwandelte den Raum in ein sargähnliches Gewölbe. Seit einer Woche wurde der größte Teil der Generatoren nachts abgeschaltet. „Wir müssen mit dem Sprit haushalten“, hatte Jefferson gesagt. „Zero kann nicht mehr so viel liefern.“
„Fuck!“ Hauptsache sein Arsch holte sich nachts keine Frostbeulen.
Brodin hockte sich an den Tisch und blickte auf die drei Betten, von denen zwei belegt waren. Das stetige Schnarchen stammte von Hank. Der andere war Pontiac – seltsam, Brodin kannte noch nicht einmal seinen richtigen Namen. Er war bei der letzten Lebensmittelübergabe vor dreißig Tagen mit einer dicken Tasche hier angetanzt, sah aus wie ein schwuler Rekrut, der gerade der Pubertät entsprungen war. Er war Corporal, und warum sie einen Unteroffizier hier in den Offiziersraum steckten, konnte sich Brodin nicht erklären.
Als er den Offiziersraum betreten hatte, hatte er sofort vom Feinsten salutiert und sich mit Pontiac vorgestellt. Vielleicht hieß er ja wirklich so.
Schien aber ein recht netter Kerl zu sein, und hatte auch was auf dem Kasten; ein richtiger Technikfreak. Und schwul war er auch nicht.
Brodin nippte noch einmal an seinem Kaffee, überlegte, ob er sich eine Zigarette drehen sollte und verwarf den Gedanken wieder. Sein Vorrat neigte sich dem bitteren Ende entgegen. Und wenn Tower Zero wirklich nicht mehr liefern konnte ...
Er stand auf und ging auf Hanks Bett zu. Hank kannte er seit ihrer Aufnahme in die Air Force, und sie hatten alle Stationen gemeinsam durchgemacht; waren sogar zur gleichen Zeit in die Offiziersakademie eingetreten. Und sie waren kurz vor dem Abschluss gewesen, als die Invasion begann und sie in diese Bunker fliehen mussten.
Aber wenigstens war einer in der Nähe gewesen.
Brodin dachte an die letzten Stunden in der Indian Springs Airforce Basis, dachte an die ersten Meldungen. Hank und er hatten sich die Ärsche plattgesessen, als sie den eintönigen Erörterungen von Major Bedloe über die Pratt and Whitney F100-PW-200 Engine der F-16 lauschten. Meine Güte, sie wollten so ein Ding fliegen und nicht auseinander schrauben.
Und dann waren sie gekommen.
Keiner hatte den ersten Berichten Glauben geschenkt. Wie sollte das auch möglich sein? Doch dann hatten sie sich überschlagen. Radiomeldungen, zitternde Reporter vor laufenden Kameras. Kontakte brachen ab. Kontakte zu anderen Bases, Kontakte zu anderen Städten, Kontakte zu anderen Ländern. Alles innerhalb von Stunden. Die F-16 wurden startklar gemacht. Sie flogen einer Bedrohung entgegen, wie es sie bisher noch nicht gegeben hatte. Und keine von ihnen kehrte zurück.
Hank und er hatten geholfen, die Zivilisten, die sich auf der Basis befanden, zu evakuieren.
Danach wurde der Bunker der Indian Springs AFB hermetisch abgeriegelt. Keine Möglichkeit mehr rauszukommen.
Damals hatten sie noch gedacht, dass es zwar ein harter aber auch ein schneller Kampf werden würde. So war es auch. Und Tower Eleven wurde ihr zuhause.
Brodin hatte das Bett erreicht und griff nach Hanks Schulter. Ruckartig fuhr dieser hoch; seine Augen waren sofort hellwach. „Kommen sie rein?“ Seine laute Stimme prallte ihm entgegen. Brodin grinste.
„Ich denke, sie hätten dich nicht so sanft geweckt.“
„Was wollte Jefferson?“ Hank entspannte sich wieder.
„Wir gehen hin.“
„Wohin?“
„Zero!“
„Du meinst, er schickt uns zu Tower Zero? Wozu?“
Brodin ging zurück zum Tisch.
„Der Kontakt ist doch abgebrochen“, fuhr Hank auf der Bettkante sitzend fort. „Wozu sollen wir unseren Arsch riskieren?“
„Er denkt, dass noch welche leben.“
„Warum warten wir dann nicht, bis sie zu uns rüber kommen? Schließlich haben sie Fahrzeuge, nicht wir.“ Hank stand auf und ging zur Kaffeemaschine.
„Vielleicht leben nur noch Zivilisten.“
„Warum schickt er keine Schwärmer?“ Hanks Stimme wurde lauter. „Die sind doch so was gewohnt.“ Hank war in letzter Zeit immer sehr gereizt.
„Er braucht Leute mit Kampferfahrung.“
„Scheiße, Brodin. Er will nur seine Schwärmer nicht opfern. Du weißt doch, was er über sie denkt. Seine Schwärmer gehen ihm über alles. Er würde den gesamten Bunker opfern, wenn er nur die Schwärmer behält. So viel ich weiß, war er selbst mal einer.“
„Die Schwärmer haben keine Kampferfahrung.“ Brodin sprach ruhig.
„Wir doch auch nicht. Oder kennst du einen, der schon mal gegen so ein Ding gekämpft hat?“
„Brüll nicht so, sonst weckst du noch unseren Unteroffizier auf. Zumindest wurden wir für so was ausgebildet.“
„Ich wette, er fickt Morena“, fuhr Hank nach einer Weile fort.
Brodin musste grinsen. Lisa Morena war der einzig weibliche Schwärmer; und wohl auch der Beste. Brodin konnte sie sich durchaus in seinem Team vorstellen. „Jefferson hat damals seine Frau verloren.“
„Ach Shit, das ist inzwischen drei Jahre her. Denke, hier würde jeder Morena ficken, wenn er die Gelegenheit dazu hätte“, sagte Hank.
„Kannst es ja mal versuchen.“
Inzwischen gab auch Pontiac verschlafene Laute von sich. „Ist etwas passiert?“, krächzte er aus den Kissen heraus.
„Jefferson will, dass wir raus zu Tower Zero gehen“, antwortete Hank, während er sich den Kaffee über die Finger schüttete und zischend fluchte.
„Warum? Freitag kommt doch die Lieferung.“ Pontiac räusperte sich. Seine blonden Haare standen in alle Himmelsrichtungen.
„Es gibt keinen Kontakt mehr zu Zero“, sagte Hank. „Und wir sollen nachsehen, ob nur ihr verdammter Funk ausgefallen ist.“
„Warum schickt er keine Schwärmer?“ Pontiac wischte sich die Augen.
„Es ist beschlossene Sache, Leute“, schaltete sich Brodin ein. „Jefferson will, dass wir Freitag bei Sonnenaufgang los marschieren. Bis dahin müssen wir einen Trupp zusammen haben.
Also, lasst uns, anstatt zu diskutieren, lieber überlegen, wen wir mitnehmen. Und bitte: keine Schwärmer!“
* * *
„In sechs Minuten geht die Sonne auf. Sind Ihre Männer bereit, Lieutenant Brodin?“ Jefferson sah über seine Nickelbrille hinweg in die Runde.
Warum fragst du sie nicht selbst, hätte Brodin am Liebsten gesagt. Er blickte auf die in ihren Tarnanzügen steckenden Männer, sah Hank, der mit zweien von ihnen diskutierte. Pontiac kontrollierte noch einmal – inzwischen bestimmt zum zehnten Mal – das mobile Funkgerät. Ein riesiges, altmodisches Teil, das, in den ebenfalls riesigen Rucksack auf dem Rücken geschnallt, den Träger fast zu erdrücken drohte.
„Alles klar, Männer?“ Brodins Stimme dröhnte durch die Halle.
„Alles klar, Sir!“, kam es gleichzeitig aus zehn Kehlen.
Brodin sah zu Jefferson hinunter. „Alles klar“, sagte er.
Jefferson blickte über den Rand seiner Brille. „Denken Sie daran, Sie haben genau vierundzwanzig Stunden. Bis dahin sollten Sie Tower Zero erreicht haben. Versuchen Sie, mit ihnen von unterwegs Kontakt aufzunehmen; vielleicht ist nur ihr Hauptfunk ausgefallen. Sie können Ihnen und Ihren Männern dann mit den Fahrzeugen entgegen kommen. Ich erwarte ebenfalls Ihren stündlichen Bericht, Lieutenant Brodin. Haben Sie noch Fragen?“
Brodin atmete ruhig. „Keine Fragen, Colonel.“
„Gut, wir werden in vier Minuten die Schleuse öffnen. Viel Erfolg.“
Jefferson drehte sich um und verließ die Halle.
Brodin blickte auf das riesige Tor, das vor Jahren dem Schutz der F-16 Staffel gedient hatte.
Direkt neben dem Tor befand sich eine kleinere Tür, die zur Schleuse führte. Nachdem man erfahren hatte, dass diese Dinger durch jede noch so kleine Ritze dringen konnten, wurde der Bunker nur noch auf diesem Weg verlassen. Die Schleuse führte neben der gesamten Startrampe entlang und wurde durch mehrere Kameras überwacht.
Hank trat an ihn heran. „Seltsame Logik. Wenn Jefferson so sehr davon überzeugt ist, dass nur ihr Hauptfunk ausgefallen ist und dass dort noch alle leben, warum warten wir dann nicht einfach ab, bis sie mit den Fahrzeugen hierhin kommen?“
Brodin sah ihn an. „Wenn sie nicht leben, müssen wir wieder dreißig Tage warten, bis wir einen neuen Versuch starten können. Bis dahin haben wir uns gegenseitig aufgefressen. Hilf mal Pontiac mit seinem Funk.“
Hank wollte noch etwas sagen, schien aber zu merken, dass es zwecklos war. Colonel Thad Jefferson, der Herr des Bunkers, hatte etwas beschlossen, also wurde es auch so durchgeführt.
Brodin blickte ihm nach. Im Prinzip hatte er ja Recht, sie hätten genauso gut abwarten können. Doch wenn Tower Zero wirklich gefallen war, hieße das, dreißig Tage keinen Nachschub. Allerdings konnte Brodin sich auch wiederum schwer vorstellen, dass fünftausend Menschen einfach ausgelöscht worden waren.
´Sie haben Millionen Menschen einfach ausgelöscht.´ Seine innere Stimme verhöhnte ihn.
Damals hatte man herausgefunden, dass die Dinger alle dreißig Tage für vierundzwanzig Stunden verschwanden. Niemand wusste, wohin. Sie waren einfach weg.
Anfangs hatte man versucht, diese Tatsache auszunutzen; man hatte Verteidigungslinien errichtet, alle möglichen Sprengfallen und sonst was ausprobiert. Doch nach zig vergeblichen Versuchen hatte man festgestellt, dass diese vierundzwanzig Stunden die einzige Möglichkeit waren, hinauszugehen und wieder lebend zurückzukommen.
Und Feuer. Feuer hielt sie zurück; so wurde es zumindest behauptet. Es tötete sie nicht – anscheinend war das gar nicht möglich – aber es konnte sie für einen kurzen Moment aufhalten.
Brodin blickte auf seinen Flammenwerfer. Man musste mit diesem Ding verdammt schnell sein. Und ein Bunker in unmittelbarer Nähe konnte auch nicht schaden.
Tower Zero war der Versorgungsbunker für alle umliegenden Tower. Es gab elf, plus Tower Zero. Zumindest in diesem Staat; zum Rest der Welt gab es seit Jahren keinen Kontakt mehr.
Brodin wusste nicht, wie Tower Zero es schaffte, so viele Lebensmittel zu besorgen, um alle Bunker zu versorgen. Jefferson hatte einmal gesagt, dass dort mehr als fünftausend Männer, Frauen und Kinder lebten. Tower Zero war angeblich so groß wie eine mittlere Kleinstadt.
Hier in Tower Eleven lebten gerade mal 452 Seelen. Damals, kurz nach der Invasion, waren es noch über Fünfhundert gewesen.
Ein Zischen entstand an der Schleusentür und Brodin zuckte kurz zusammen.
„Es ist soweit, Männer!“
Jefferson hatte gesagt, dass die anderen Bunker ebenfalls Männer losschickten. Alle, außer Tower Six. Dort lebten eh nur noch dreizehn. Warum sie den Bunker nicht aufgaben, war ihm ein Rätsel.
Mit einem Ruck öffnete sich die Tür. Brodin richtete die Reservetanks auf seinem Rücken zurecht, berührte kurz den Flammenwerfer in der Halterung daneben, dann rief er: „Auf geht’s!“
Von hier aus war es etwa eine halbe Meile bis zum eigentlichen Ausgangstor. Eine halbe Meile durch diesen Tunnel. Grelles Neonlicht verwandelte die glatten Wände in eine sterile Passage. Einige der Röhren flackerten. Brodin blickte auf die dünnen Absaugdüsen; im Falle eines C-Angriffs wurde die gesamte Luft ausgetauscht.
Die Schritte der Männer hallten von den Wänden wider. Zehn Männer und er. Brodin hatte eine ungute Vorahnung; und wenn sie zutraf, würde Tower Eleven ab morgen nur noch mit 441 Seelen aufwarten müssen.
Nachdem das Okay von Jefferson für das Öffnen der Außentür gekommen war, traten sie ins Freie. Brodin sog die feuchte Morgenluft in seine Lungen. Sie stank!
Jedes Mal wenn sie hier draußen waren, und das war wahrhaftig nicht häufig vorgekommen in den letzten Jahren, empfand er das Selbe. Ein schon fast zähflüssiger Gestank, der sich augenblicklich auf die Nasenschleimhäute legte.
Er blickte auf die Männer, sah ihre starren Gesichter, die ohne große Regung die Gegend abpeilten. Er sah die großen Rohre der automatischen Außenflammenwerfer über dem Eingang zur Schleuse.
Das Gelände vor ihnen war tot. Die vereinzelten Armeegebäude wirkten wie die trägen Überbleibsel einer alten Geisterstadt. Die Start- und Landebahn der F-16 Staffel, die er etwas weiter hinten sehen konnte, war zum größten Teil aufgerissen. Hier und da hatten sich Sträucher durch den Asphalt gegraben; faszinierende Schöpfungen der Natur und genauso tot wie der Rest der Umgebung.
Brodin blickte in den Himmel; keine Vögel. Jedes Mal, wenn sie raus mussten – meist nur, um die Versorgungsfahrzeuge von Tower Zero während des Ausladens zu bewachen – hatte Brodin in den Himmel geschaut. Jedes Mal hatte er gehofft, wenigstens einen gefiederten Freund dort oben zu entdecken, denn dann hätte er gewusst, dass noch Leben auf dem Planeten außerhalb der Bunker existierte. Und jedes Mal war er enttäuscht worden.
Hank kam auf ihn zu. „Sieht Scheiße aus.“
„Riecht auch so“, murmelte Brodin.
Hank rümpfte die Nase. „Ja, wie immer. Wie lange werden wir brauchen?“
„Wenn wir gut durchkommen, müssten wir es in fünfzehn Stunden geschafft haben.“
„Du scheinst nicht überzeugt.“
„Hm ...“ Brodins Vorahnung keimte in seiner Brust wie ein schmerzhafter Stachel. Irgendwas gefiel ihm an der ganzen Sache nicht. Warum sollte auf einmal nach drei Jahren der Funkkontakt abbrechen?
„Lass uns aufbrechen.“ Er wandte sich an die Männer. „Laufschritt, meine Herren! In zwei Stunden legen wir die erste Rast ein. Bis dahin will ich ein gutes Stück geschafft haben.“
Dann fügte er hinzu: „Und haltet die Augen offen!“
* * *
Flirrende Hitze legte sich wie ein zäher See auf ihre Körper.
Vor dreißig Minuten hatten sie den Highway erreicht, der sich wie ein Relikt durch die tote Landschaft fraß. Die Füße glühten auf dem heißen Asphalt und das, obwohl es erst kurz vor sieben war. Brodin wollte gar nicht daran denken, wie es in ein paar Stunden aussehen würde.
Sie liefen der Sonne entgegen, die sich wie ein gigantischer Feuerball über den Horizont geschoben hatte. An einigen Stellen hatten sich dicke Schichten Sand und Staub über den Asphalt gelegt. Sie wirkten wie übergroße Gräber.
Brodin hatte das Gefühl, dass mit jedem Schritt der Gestank an Intensität gewann.
Er hörte die Männer hinter sich gleichmäßig keuchen. Hank und er hatten die Besten ausgesucht; ihnen war es in erster Linie nicht um Kampferfahrung gegangen – einen richtigen Einsatz hatten sie alle noch nicht gehabt – Brodin war es wichtig gewesen, dass die Männer Kondition besaßen. Denn nur wer Laufen konnte, hatte eine Chance Tower Zero zu erreichen.
Doch was würde sie dort erwarten? Vielleicht hatten diese Dinger ja tatsächlich Tower Zero eingenommen und warteten jetzt nur darauf, dass die Verrückten aus den anderen Bunkern sich in ihre ausgebreiteten Arme warfen. Doch was hätten sie davon gehabt? Sie hatten mit Sicherheit bereits zu Anfang fast die gesamte Menschheit ausgerottet. So wie sich Brodin erinnern konnte, hatte es keine zwei Wochen gedauert, bis der Kontakt zum Rest der Welt abgebrochen war.
Brodin erschrak, als Hank neben ihm auftauchte. Irgendwie schien heute sein Nervenkostüm blank zu liegen.
„Wir sollten die Pause etwas vorziehen“, keuchte Hank.
„Wir sind gerade mal etwas über eine Stunde unterwegs.“ Unbewusst rannte Brodin schneller.
Hank blieb auf gleicher Höhe. „Es ist zu heiß. Ich befürchte, dass uns ein paar der Männer wegklappen.“
„Sie sind doch alle fit.“ Brodin wurde lauter. Er hasste nichts sosehr, wie die Abweichung von einem vorher festgelegten Plan.
Hank wusste das und sprach ruhig weiter. „Noch sind sie das. Aber wenn es jetzt schon so heiß ist, schaffen sie es nicht. Wir haben nichts davon, wenn sie uns wegklappen. Wir brauchen jeden Mann für das Gepäck. Vielleicht nur kleinere, kurze Pausen.“
Brodin fluchte leise. Er wusste, dass Hank Recht hatte, aber was hatten sie davon, wenn sie nicht rechtzeitig ankamen? Nur, wenn Männer aufgrund von Erschöpfung ausfielen, kamen sie mit Sicherheit auch nicht an. Scheiß Hitze!
Brodin verlangsamte seinen Lauf. „Kurze Pause, Männer. Jones und Peters behalten die Gegend im Auge.“
Brodin erkannte dankbare Gesichtszüge, als sich die Männer im heißen Staub niederließen.
In einiger Entfernung entdeckte er ein Fahrzeug am Straßenrand. Die Fahrertür stand offen.
Er kramte nach dem Fernglas. „Hank? Wir sollten uns das da drüben mal ansehen.“
„Was hast du entdeckt?“
„Pontiac!“, brüllte Brodin ohne den Blick von dem Wagen zu lassen.
Corporal Pontiac, der neben dem großen Funkrucksack saß, sprang auf. „Sir?“
„Sie übernehmen kurz das Kommando. In fünf Minuten folgen Sie uns mit den Männern.“
Dann rannte er los und Hank folgte ihm.
Als sie das Fahrzeug fast erreicht hatten, sah Hank die Überreste eines menschlichen Skeletts, das aus dem Wagen hing. Brodin wurde langsamer.
„Was ist das?“, murmelte Hank.
Einige der Knochen schienen miteinander verwachsen zu sein. Brodin erkannte den Teil eines Oberarmknochens, der aus einem klumpenförmigen Rippenbogen hervortrat.
„War das ein Mensch?“ Hank ging in die Hocke und strich vorsichtig über das seltsame Gebilde. „Der Arm scheint aus der Brust herausgewachsen zu sein.“
Brodin griff nach dem Schädel und hob ihn hoch. Die Vorderseite sah aus wie ein schlieriger Spiegel; der Unterkiefer zog sich bis hinauf zu den Augenhöhlen. Diese waren von einer Knochenschicht überzogen, aus der längliche Zahnstumpen ragten.
„Wie ist das möglich?“, fragte Hank.
„Sie verändern bei Berührungen die molekulare Struktur“, sagte Brodin leise. Er spürte, wie sich der Schweiß auf seinem Rücken einen Weg nach unten bahnte.
„Sie tun was?“
„Die einzelnen Zellen“, fuhr Brodin fort ohne dabei den Blick von dem Schädel zu lassen, „einschließlich der Knochenstruktur scheinen miteinander verschmolzen zu werden; verbunden, ohne jegliches Konzept. Ohne Funktion.“
Brodin dachte an ein Gespräch mit Jefferson zurück, das sie vor Monaten geführt hatten. Er hatte gesehen, wie Jefferson und der Doc neben einer Art OP-Tisch gestanden hatten. Und er hatte gesehen, was sich darauf befand.
„Sie werden nichts über den Zustand der Leichen nach außen dringen lassen, Lieutenant Brodin“, hatte Jefferson gesagt. „Haben Sie mich verstanden? Bei der nächsten Lieferung werden sie nach Zero überführt. Die werden sich dann um die Autopsie kümmern.“
Molekulare Veränderung der Zellstruktur. Zellen und Gewebe werden miteinander verbunden. Mehr hatte Brodin damals nicht erfahren.
Davor hatte es immer geheißen, es gäbe keine Leichen. Die Leute verschwanden einfach.
„Es ist für die Menschen hier drin schon bedrohlich genug, dass sie wissen, dass da draußen etwas ist. Wir werden keine neuen Details bekannt geben, solange es sich vermeiden lässt. Und das ist ein Befehl, Lieutenant Brodin!“
„Brodin? Was ist mit dir?“ Hank sah ihn an. „Woher weißt du das?“
„Lass uns die Knochen in den Wagen legen, bevor die Anderen kommen.“
* * *
Um 14.36 Uhr hatten sie die Straße wieder verlassen und liefen seitdem querfeldein. Immer wieder mussten sie den Lauf durch längere Gehstrecken unterbrechen. Brodin hatte die Hitze bei weitem unterschätzt.
Er musste an ihren Fund in dem Wagen denken, und wieder entstand dieses ungute Gefühl in seiner Magengegend. Molekulare Veränderung der Zell- und Gewebestruktur.
Vor fünf Minuten hatte er festgestellt, dass irgendwas mit seinem Kompass nicht zu stimmen schien. Die Nadel flackerte, beruhigte sich, um kurz darauf erneut zu flackern.
„Lieutenant?“
Brodin blieb stehen und sah Pontiac auf ihn zugelaufen kommen. Der schwere Funkrucksack wippte wie ein fettes Geschwür auf seinem Rücken.
„Sergeant Schneider für Sie.“ Pontiac hielt ihm den Hörer hin.
„Hier Brodin.“
„Lieutenant Brodin? Tower Six wird gerade angegriffen!“ Die verzerrte Stimme von Schneider, dem Funker von Tower Eleven, drang in Brodins Verstand wie ein Raketenangriff. Von wem wurde Tower Six angegriffen? Doch er wusste es ja bereits.
„Lieutenant Brodin?“
„Wie ist das möglich?“, schrie er in den Hörer. „Wie ist die verdammte Scheiße möglich? Es sind gerade mal neun Stunden vergangen!“
„Wir wissen es auch nicht. Aber es ist definitiv Fakt.“
Brodin spürte, wie sich ihm der Magen umzudrehen schien. Er hatte es gewusst. Alles war mit Sicherheit ein teuflischer Plan gewesen. Sie hatten dem kläglichen Rest der menschlichen Rasse eine billige Falle gestellt. Drei Jahre sollten sie sich in Sicherheit wiegen; alle dreißig Tage für vierundzwanzig Stunden Sicherheit. Und die intelligenteste Rasse auf Erden war darauf reingefallen.
„Lieutenant Brodin? Können Sie mich noch verstehen?“ Schneiders Stimme brüllte aus dem Hörer.
„Was ist passiert?“, fragte Hank.
Brodin drückte den Hörer in die Halterung zurück. Schweiß rann in dicken Tropfen von seiner Stirn herab. Das nasse Hemd spannte sich um seinen bebenden Brustkorb.
Hank legte seine Hand auf Brodins Schulter.
„Sie sind da“, flüsterte dieser.
Hank schien zu verstehen und atmete zischend aus. „Wo sind sie?“
„Bis jetzt wissen wir von Tower Six. Er wird angegriffen.“
„Was ist mit den Anderen, die unterwegs nach Tower Zero sind?“
Brodin schüttelte den Kopf. „Keine Ahnung.“
„Was meinst du, wie lange wir noch brauchen?“
Brodin blickte auf die Männer, die abwartend in einiger Entfernung standen. Er sah ihre nasse Kleidung, die den triefenden Körper umschlungen hatte, sah ihre müden, feucht glänzenden Gesichter.
„Acht Stunden“, antwortete er leise. „Vielleicht mehr.“
„Vielleicht haben sie sich nur auf die Bunker konzentriert.“
„Vielleicht haben sie auch Tower Zero zu ihrem Hauptquartier gemacht.“ Brodins Stimme klang ironisch.
Hank nahm die Hand von seiner Schulter. „Wir müssen es auf jeden Fall versuchen.“
Brodin grinste irre in die hoch stehende Sonne. Hier und da waren ein paar Wolkenfetzen aufgetaucht.
„Versuch noch mal Jefferson zu erreichen und frag ihn, was mit den Anderen ist. Außerdem stimmt irgendwas mit meinem Kompass nicht.“
„Laut meinem sind wir richtig. Sollten wir den Männern bescheid sagen?“
„Sag´s ihnen, wenn du es für richtig hältst.“
„Pontiac!“, rief Hank. „Stell mir noch mal eine Verbindung zu Eleven her!“
* * *
Hank hatte die Männer aufgeklärt; und obwohl Brodin vermutet hatte, dass einige von ihnen nervlich zusammenbrechen würden, hielten sie sich recht tapfer.
„Jeder geht zwanzig Schritt versetzt hinter seinem Vordermann“, rief Hank. „Jones und Peters übernehmen die Flanken. Sollte eines dieser Dinger auftauchen, formieren wir uns sofort zu einem Kreis. Denkt daran, dass sie sehr schnell sein sollen.“
Die Männer nahmen ihre Position ein, und Hank kam zu Brodin hinüber.
„Es ist wie bei einem Haiangriff.“
„Was?“ Brodin sah ihn verdutzt an.
„Hab mal gelesen, wenn nach einem Schiffsuntergang noch Überlebende im Wasser sind, sollen sie sich zu einem Kreis zusammenschließen. Wenn nur ein Hai kommt, erwischt es nur einen von ihnen. Kommt ein ganzer Schwarm ...“ Hank versuchte zu grinsen, doch es wirkte hölzern.
„Was hat Jefferson gesagt?“
Hank stellte sein Grinsen ein. „Nur dass Six angegriffen wird. Sie wissen nichts Genaues.“
„Was ist mit den anderen Bunkern?“
„Anscheinend hat es nur Six erwischt. Zu den anderen besteht noch Kontakt. Sie sagten, bei ihnen sei alles ruhig.“
Brodin sah sich um. Die Landschaft wirkte auf einmal verschwommen, aber das konnte auch an der flirrenden Hitze liegen.
„Meinst du, sie tauchen auch hier auf?“, fragte Hank und blickte zum Horizont.
„Wer weiß, vielleicht sind sie ja schon da. Oder weißt du, wie sie aussehen?“ Brodins Stimme klang gefasst; aber Hank erkannte auch einen nervösen Unterton.
Hank dachte an die ersten Meldungen von vor drei Jahren zurück. »... man kann ihre Umrisse nicht genau erkennen, ihre Struktur nicht genau erfassen, aber eigentlich wissen wir auch jetzt kaum etwas über sie. Es gibt nur selten Überlebende...« Ihm schauderte.
Die wabernde Luft am Horizont zauberte seltsame Gebilde.
* * *
„Was, zum Teufel, ist das?“
Brodin blickte zu Pontiac, der etwa zwanzig Fuß versetzt vor ihm stehen geblieben war und in den Himmel starrte. Auch die Anderen hatten ihren Marsch unterbrochen. Seit etwa einer Stunde war keiner mehr gelaufen; Brodin hatte angeordnet, nur noch im strammen Schritt weiter zu gehen. Es ging einfach nicht mehr anders.
„Was ist das?“, fragte Pontiac noch einmal.
Brodin sah hoch, die vereinzelten Wolkenfetzen am Horizont schienen aufeinander zuzustreben. Er runzelte die Stirn. Vier von ihnen kamen aus unterschiedlichen Richtungen und es war, als wollten sie sich an einem zentralen Punkt treffen.
„Scheiße“, murmelte er. „Haltet die Augen offen, Männer!“ Der Flammenwerfer in seiner Hand nahm an Gewicht zu. „Und los! Weiter!“
Brodin rannte hinüber zu Hank, vorbei an Pontiac, der hektisch keuchte. Auf dem Weg erkannte er, dass seine Kompassnadel schnelle Kreise drehte.
„Irgendwas stimmt mit den Wolken nicht.“ Er hatte Hank erreicht.
„Was meinst du?“ Hank blickte während des Laufes nach oben. Dann zischte er leise: „Scheiße. Wie ist das möglich?“
Die Wolkenfetzen hatten ihren Zielpunkt erreicht und sich zu einem gigantischen Ball am Horizont geformt.
„Wir sollten auch das Tempo wieder forcieren.“ Brodin fühlte sich zwar auch nicht mehr so, als habe er gerade sechsunddreißig Stunden geschlafen, aber er befürchtete, dass sie viel zu langsam waren. Nein, er wusste es.
Er sah die ausgelaugten Gesichter der Männer, sah, dass einige von ihnen damit kämpften, den Flammenwerfer halbwegs waagerecht zu halten. Und er sah die Wolkenfront.
„Scheiße, Brodin. Wir können nicht schneller“, flüsterte Hank. „Sieh sie dir an. Mindestens zwei von ihnen schaffen es noch nicht mal mehr ne Stunde.“
„Dann müssen sie zurück bleiben, Hank. Wir sollten versuchen, so viele Männer wie möglich durchzubringen.“
Hank wischte sich über das Gesicht. „Wir werden es nicht schaffen.“
Brodin sah ihm tief in die Augen. „Wir haben bisher alles geschafft, mein Freund.“ Dann drehte er sich um. „Pontiac! Kommen Sie noch mal mit dem Funk hier rüber. Die Anderen laufen weiter.“ Dann: „Los, Hank, treib sie an, so gut es geht.“
Hank nickte.
„Geben sie mir eine Verbindung mit Jefferson.“
Pontiac hockte sich hin und versuchte, den schweren Rucksack von seinem Rücken zu bekommen. Brodin half ihm.
Vor einer halben Stunde hatten sie versucht, mit Tower Zero Kontakt aufzunehmen, jedoch ohne Erfolg.
Brodin blickte zum Horizont. Die Wolkenfront schien sich wieder aufzulösen. Einzelne Fetzen lösten sich daraus hervor und schwebten … Oh mein Gott, dachte Brodin. Sie schweben Richtung Erde.
„Der Colonel“, sagte Pontiac und hielt Brodin den Hörer hin.
„Sir? Hier Brodin. Haben Sie was Neues?“
„Keinen Kontakt mehr zu Tower Six. Wo sind Sie, Brodin?“
„Oh, ich liege hier in einem gut gekühlten Whirlpool mit drei hübschen Blondinen an meiner Seite.“ Blöde Frage. Natürlich sitzen wir hier draußen in der Scheiße. Und nur weil ...
„Lassen Sie die Scherze, Brodin. Die Lage ist ernst genug. Warum wollten Sie mich sprechen?“
Brodin blickte auf den Horizont. „Sir, irgendwas braut sich da am Himmel zusammen. Ich sehe eine Wolkenfront. Sie müsste eigentlich direkt über Ihnen sein.“
„B...din...?“ Ein statisches Rauschen durchbrach die Verbindung.
„Sir?“ Brodin wurde lauter. Ein kreischendes Summen war die Antwort.
Brodin blickte zu Pontiac, der auf dem Boden saß, sich die Waden massierte und dabei ständig nach oben sah.
„Sie nehmen meinen Flammenwerfer, Pontiac. Helfen Sie mir bei dem Rucksack!“
Pontiac blickte auf. Sein Gesicht sah aus, wie das eines kleinen Kindes. „Ich schaff das schon, Lieutenant.“
Brodin schnallte den Flammenwerfer ab. „Hier, ich hoffe, Sie können damit umgehen.“
* * *
Der schwere Funkrucksack zog an Brodins Schultern und er fragte sich, wie dieser schmächtige Pontiac das Ding so lange hatte tragen können.
In weiter Ferne sah Brodin durch das Flirren des Sandes die Anderen. Sie waren nur noch als winzige Punkte auszumachen.
Ein seltsames Geräusch, ähnlich dem eines entfernten Gewässers, drang an seine Ohren.
„Was ist das, Lieutenant?“, fragte Pontiac.
„Keine Ahnung, aber wir sollten uns beeilen.“
Und dann sah er die Wolke!
Etwa eine Meile vor ihnen bildete sie sich am Himmel. Und darunter befand sich Hank mit den anderen Männern. Das stetige Geräusch schien lauter zu werden. War es wirklich oder entstand es nur in seinem Innern?
Brodin schüttelte den Kopf, sah wieder die Wolke; sah die schlierigen Fetzen, die sich jetzt aus dem weißen Ball lösten.
„HANK!“, brüllte er. Doch er bezweifelte, dass ihn irgendjemand hören konnte.
Die flirrenden Silhouetten der Anderen schienen seltsam zu tanzen. Brodin kniff die Augen zusammen und blitzende Funken erschienen vor seinen geschlossenen Lidern.
Und dann war da der Schrei!
Brodin zuckte zusammen, riss die Augen auf.
„Oh mein Gott“, keuchte Pontiac. „Oh mein Gott!“
Die Wolke riss auf und längliche Teile stoben Richtung Erde.
„Los, geben Sie mir den Flammenwerfer, Pontiac!“ Er riss sich den Funkrucksack runter.
Pontiac zog hektisch an den Schulterriemen.
Wieder ein Schrei!
Brodin schnallte sich die Tanks um. „Warten Sie hier!“ Er blickte nicht mehr zu Pontiac und stürmte los.
Unterwegs versuchte er den Flammenwerfer zu zünden, und nach drei vergeblichen Versuchen gelang es ihm auch. Er sah die flirrenden Gestalten immer noch in weiter Ferne. Sie schienen sich aufzulösen und an anderer Stelle wieder zu entstehen. Verdammt, wie weit war Hank mit denen gelaufen?
Die Wolke am Himmel hatte sich aufgelöst.
Brodin rannte; jede Faser seiner Oberschenkel, jedes Lungenbläschen schien mehrfach zu explodieren. „HANK!“, brüllte er wieder. Und plötzlich waren die Silhouetten der Anderen verschwunden.
Brodin spürte, wie sich sein Magen verkrampfte. Warum tauchten sie nicht wieder auf? Wie weit waren sie denn noch weg?
Er sah helle, flackernde Blitze. Die Flammenwerfer! Jetzt hörte er Fetzen von irgendwelchen Stimmen. Wieder ein Schrei. Dann waren auch die Blitze verschwunden.
Brodin blieb abrupt stehen. Sein Atem ging stoßweise. Die kleine, blaue Flamme an der Öffnung seiner Waffe zischte gleichmäßig.
„Hank?“ Seine Stimme krächzte. Jeden Augenblick würde er sich übergeben. Langsam bewegten sich seine Beine vorwärts. Da war wieder dieses Geräusch des fließenden Wassers. Es wurde von seinem hämmernden Herzschlag und dem Keuchen seiner Lungen fast übertönt, aber es war da. Er blickte zum Himmel. Nichts.
Dann war auch das Geräusch verstummt.
Das Flirren vor seinen Augen löste sich auf, und Brodin erkannte in einiger Entfernung zwei angewinkelte Beine neben einem verdorrten Strauch. Langsam ging er weiter, den Flammenwerfer im Anschlag.
Eine weitere Gestalt lag links von ihm. Brodin trat näher heran. Von der Statur her musste es Peters sein. Der Kopf war nicht mehr zu erkennen. Er sah seltsam deformiert aus, allerdings ohne blutende Öffnungen. Die rechte Gesichtshälfte schien mit der Schulter verschmolzen zu sein; das linke Auge befand sich dort, wo eigentlich der Mund hätte sein müssen, doch dieser ging jetzt, wie eine zähe Masse auseinander gezogen, in die Schulter über. Peters Flammenwerfer lag etwas abseits.
„Sie verändern bei Berührungen die molekulare Struktur. Die einzelnen Zellen und Knochenstrukturen verschmelzen miteinander; werden verbunden, ohne jegliches Konzept. Ohne Funktion.“ Die Stimme des Doc, der neben Jefferson stand, hallte in seinem Kopf.
Brodin wandte sich ab. In einiger Entfernung entdeckte er einen weiteren Körper. Hier waren die Beine unterhalb der Knie miteinander verbunden. Zwei Altarkerzen gleich, die man versucht hatte, zu einer grotesken Einheit zu verschmelzen.
Brodin blieb stehen. Die Wesen hatten ganze Arbeit geleistet.
Sein Blick fiel auf einen verkohlten Klumpen, der neben einem bis auf wenige Zentimeter abgebrannten Strauch lag. Es war definitiv kein Mensch. Brodin ging ein Stück näher heran.
Das Ding hatte Ähnlichkeit mit einem Vulkan, nur dass es maximal einen Meter maß. Eine verbrannte, ledrige Schicht umgab eine kleine Öffnung an der Oberseite.
Was, zum Teufel, war das? Ein leises Gurgeln entstand in dem Innern des Klumpens. Brodin riss den Flammenwerfer hoch und drückte ab. Ein schriller Ton platzte durch seinen Schädel, schwoll an, wurde mit jedem Herzschlag lauter – schriller.
Brodins Hände umklammerten den Flammenwerfer; die Knöchel an seinen Händen traten weiß hervor. Der grelle Strahl fraß sich in das Ding hinein, und die ledrige Oberfläche platzte an einigen Stellen auf; schäumende Blasen spritzten einen dampfenden Inhalt in die Glut.
Der durchdringende Ton schien ihm die Schädeldecke auseinander reißen zu wollen. Brodin schrie.
Beißender Gestank quoll ihm wie eine wabernde Nebelwand entgegen. Brodin schrie weiter; ein perfider Schrei des Schmerzes und der Wut.
Der Flammenwerfer ließ den Sand neben dem Ding schmelzen. Glänzende Kristalle entstanden.
Und dann war es still. Brodins Schädel wurde von einem lähmenden Vakuum erfüllt. Eine Stille, die beinahe schlimmer war als das, was sie hinterlassen hatte.
Nur noch das dumpfe Gurgeln des Flammenwerfers drang von weit entfernt an seine Ohren. Brodin ließ den Abzugsgriff langsam nach vorne gleiten und die Flamme erlosch.
Brennender Schweiß rann in seine Augen; sein keuchender Atem sog die trockene Luft in seine Lungen.
„Brodin?“
Er zuckte zusammen, riss den Flammenwerfer in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Hinter einem weiteren Strauch stand Hank. Sein Gesicht schien zu lächeln.
„Verdammt, Hank, was ist hier passiert?“ Brodin ließ die Waffe sinken.
„Brodin, bist du es?“
„Hank, was soll die Frage? Du siehst mich doch.“ Er blickte auf seinen Kameraden, der ihn jetzt anlächelte.
„Brodin, es ... es tut gar nicht weh ...“
„Was tut nicht weh, Hank? Bist du verletzt?“ Brodin ging langsam auf ihn zu.
Er sah, wie Hank hinter dem Gebüsch hervor kam, dann hörte er den dumpfen Aufprall seines eigenen Flammenwerfers im Staub.
„Es ... tut ... gar nicht weh, Brodin ...“
Hanks Unterleib war ein einziger breiiger Klumpen. Ein fester Klumpen, als ob man sein Inneres nach außen gekehrt hätte. Brodin sah pulsierendes Gedärm in der Sonne glänzen. Fetzen der Uniform flatterten an einigen Stellen aus dem Auswuchs hervor, verschmolzen mit dem rosagrauen Fleisch.
„Oh Gott, Hank.“
Brodin sah, wie dieser nach unten blickte, dann lächelte er ihn wieder an. „Man ... könnte ... meinen, ich ... ich sei ... schwanger.“
Dann kippte Hank vornüber und schlug hart auf dem sandigen Boden auf. Brodin rannte auf ihn zu, den Flammenwerfer hinter sich herziehend.
Vorsichtig drehte er ihn herum und blickte in die glasigen Augen.
„Scheiße ... Brodin. Sie ... sehen eigentlich ganz ... nett aus. So wie ... Geister.“
Brodin wollte etwas sagen, doch ein dicker Kloß hatte sich um seine Stimmbänder gelegt.
Hank hatte die Augen geschlossen. „Es ... tut gar nicht weh“, flüsterte er.
Brodin sah, wie sich der Brustkorb noch einmal hob, und dann sanft abflachte.
„Hank?“
Nach einer Weile erhob sich Brodin und blickte auf die Gestalt, die da mit einem riesigen Rucksack auf dem Rücken auf ihn zugewankt kam. Pontiac!
Er blieb stehen und starrte auf die Toten. „Oh Gott ...“, hörte Brodin ihn murmeln.
Er sah, wie Pontiac den Hörer in seiner Hand hielt.
„Pontiac?“
Der Corporal sah ihn an, schien augenblicklich aus einer Art Trance zu erwachen.
„Lieutenant, ich hatte gerade Kontakt.“
Brodin blickte hinunter zu Hank. Beinahe sah es so aus, als würde er schlafen.
„Zu wem?“
„Tower Zero. Ich hatte Kontakt zu Tower Zero. Ganz kurz nur, aber es scheinen noch welche zu leben. Und ...“
Brodin bückte sich nach dem Flammenwerfer. „Und?“
Pontiac trat auf ihn zu. „Wir sind ganz in der Nähe. Sie sagten, sie hätten uns auf ihrem Radar. Vielleicht noch eine halbe Meile östlich.“
„Eine halbe Meile.“ Brodin schluckte. „Nur noch eine verdammte, halbe Meile.“
„Sie haben gesagt, dass wir uns beeilen sollen. Und sie haben gesagt, dass die vierundzwanzig Stunden diesmal nicht eingehalten wurden.“
Brodin atmete tief. „So, das haben sie gesagt. Welch eine Überraschung.“
„Es tut mir Leid um den Lieutenant. Um die Anderen natürlich auch.“ Pontiac wirkte seltsam gefasst.
„Ja“, sagte Brodin, „mir auch. Was denken Sie, warum wir noch leben? Warum sind diese Dinger einfach verschwunden?“
Pontiac blickte zu Boden. „Ich weiß es nicht, Lieutenant.“
„Wir werden es herausfinden. In Tower Zero.“
Noch einmal blickte er auf das Schlachtfeld, sah Hank, dessen Gesicht in die heiße Luft lächelte. „Wir werden es herausfinden.“
* * *
Sie gingen Richtung Osten, schweigend. Brodin blickte zu Boden, sah den trockenen Staub, der von seinen Stiefeln aufgewirbelt wurde. Er dachte an Hank. Dachte an die Worte von Pontiac. „Ich hatte Kontakt zu Tower Zero. Sie haben uns auf ihrem Radar. Vielleicht noch eine halbe Meile östlich.“
Wie konnte das sein? Laut seiner Berechnung hätten sie noch Stunden entfernt sein müssen. Was ist mit diesen Wesen? Warum hatten sie alle niedergemetzelt? Alle, außer ihn und Pontiac?
Noch einmal blickte er zum Himmel. Der Horizont war klar. Er dachte an Jefferson, dachte an Tower Eleven. Waren sie auch angegriffen worden? Lebte noch irgendjemand?
„Da vorne ist der Eingang, Lieutenant!“
Brodin sah am Rande eines Felsens eine winkende Gestalt, das lange Rohr des Flammenwerfers nach oben gestreckt.
Brodin grinste gezwungen. Zumindest war es ein Mensch …