Träges Grauen
Da sitze ich nun. Auf dem feuchten Moos umgeben von den Sträuchern die mit jedem Windhauch zu rascheln begannen, so dass ich jedes mal zusammenzucke und mich an die Kamera, die mir um den Hals hängt, klammere. Der Blick auf die Krypta ist mir durch aufkommenden Nebel verschleiert. Immer noch ist mir übel, von dem, was ich gerade beobachten musste.
Ich war unterwegs für eine Recherche gewesen. Es ging um irgendetwas mit Problemen, bei der Sanierung des örtlichen Friedhofs.
Einige der alten Gräber waren so verfallen, dass die städtischen Behörden sie versiegeln wollten. Auf gut Deutsch bedeutete das, sie sollten vernichtet werden.
Natürlich hatte die Kirche etwas dagegen. Sie wiesen daraufhin, dass bedeutende Persönlichkeiten in diesem Bereich des Totenackers begraben lägen. Und, dass nebenbei bemerkt es natürlich unter keinen Umständen vertretbar sei, die Totenruhe und damit den Seelenfrieden auch nur des geringsten frommen Bürgers zu stören.
Eine satanistische Vereinigung, die wie ich später herausfand, sogar vom Verfassungsschutz beobachtet wurde, stimmte in diesem Fall interessanterweise mit dem Gemeindekaplan überein. Der Sektenführer hatte in einer fanatischen Radioansprache vor dem bevorstehenden Untergang gewarnt:
„Denn es kommt die Stunde, in der alle, die in den Gräbern sind, seine Stimme hören werden, und werden hervorgehen! Die Gräber werden sich auftun und die Toten werden heraufgeführt ans Licht. Und Satan wird losgelassen werden aus seinem Gefängnis und wird ausziehen zu verführen die Völker an den vier Enden der Erde. Und sie werden heraufsteigen auf die Ebene der Erde und umringen, das Heerlager der Heiligen und die geliebte Stadt! So steht es geschrieben und so ist es euch prophezeit worden!“
Viel länger hatten sie ihn nicht reden lassen, aber es hatte genügt um mich aufmerksam zu machen. Ich verabredete mich mit einem Neuling aus der Sekte. Johannes hieß er. Er war siebzehn, mittelgroß, aber sehr dünn. Wir trafen uns in einem kleinen Café.
Während wir redeten sah er sich pausenlos nervös um. Es kam mir so vor, als wollte er sein Gesicht hinter seinen glatten, schwarzen Haaren verbergen. Er war bleich und stotterte ein wenig, wenn er redete.
Von ihm erfuhr ich von „Anastasius“, wie der Anführer sich selbst nannte. Den richtigen Namen wusste er nicht. Dafür erzählte er mir, dass sie für das Wochenende so etwas wie eine Séance planten, und da wollte ich natürlich dabei sein.
Einer nach dem anderen kommen sie wieder aus der Krypta. Ich kann niemanden erkennen, weil sie die Kapuzen ihrer schwarzen Kutten tief ins Gesicht gezogen tragen. Nicht mal, ob Johannes unter ihnen ist, kann ich mit Bestimmtheit sagen.
Und wie sie gekommen waren, verschwinden sie in der Dunkelheit, einer nach dem anderen, bis sich nur noch die Grabsteine als Umrisse von der Umgebung abheben. Es wird kühl und mir beginnt ein wenig zu frösteln.
Trotzdem kann ich noch nicht aus meinem Versteck. Ich kann einfach nicht.
Der Mond tritt hinter den Wolken hervor und beleuchtet die Szenerie in einem kühlen Licht. Ich kann meinen Blick nicht von der Krypta wenden, mit den hohen dünnen Fenstern, dem Bogen aus grauem Stein, an dem sich die Schlingpflanzen langsam empor winden, weil dieser Teil der Grabstätten nicht mehr gepflegt wird, und unter dem Bogen die Treppe, die in die Tiefe führt und das Tor, wie es weit offen steht um mich willkommen zu heißen. Das Tor durch das sie ihn gerade in die Finsternis getragen haben, die dahinter liegt und auf mich wartet.
Langsam wage ich mich aus meiner Deckung und gehe ein paar Schritte auf die Gruft zu. Ich zögere. Etwas hält mich zurück.
Aber ich muss nachsehen, zumindest sehen, ob er noch lebt. Auch, wenn ich weiß, das es nicht so ist.
Schritt für Schritt gehe ich hinunter. Als ich die Türschwelle in die Gruft übertrete umhüllt mich die Schwärze. Ich kann kaum etwas sehen und taste mich vorsichtig voran. Spinnweben streichen über mein Gesicht und verheddern sich in meinen Haaren. Ich gehe noch einen Schritt und rutsche beinahe aus.
Irgendeine schmierige Flüssigkeit. Ich hoffe es ist nicht das..
Um mir etwas Licht zu spenden greife ich nach meinem Handy und leuchte mit der Anzeige ins Dunkle. Die Luft ist schlecht, ich kann kaum atmen. Wenigstens erkenne ich wieder Umrisse. Überall um mich herum stehen Särge aufgebahrt. Auf einer Art Tisch oder Altar aus Stein sehe ich ihn liegen.
Anastasius, der Sektenführer. Ich schaue, ob er atmet, fühle seinen Puls.
Nichts. Er ist tot. Sie haben ihn geopfert. Im Namen irgendeines Dämons oder Teufels, hatten sie ihn geopfert.
Hatte er sich geopfert.
Sein entblößter Oberkörper ist fast makellos. Sie hatten ihm das Blut abgewaschen, aber noch immer sah man die klaffende Wunde in seiner Brust, aus der sie getrunken hatten. Das Handy-Licht geht aus. Hatte ich eine Bewegung gesehen?
Panisch suche ich die Taste, finde sie und habe wieder Licht.
Nichts. Ich bemerke das Messer, das auf einer Aufhängung des Tisches hängt und greife instinktiv danach. Im selben Moment begreife ich meinen Fehler: Fingerabdrücke.
Behutsam wische ich mit meinem Shirt über den Griff und lege es dann zur Seite. Wieder geht das Licht aus. Diesmal bin ich mir fast sicher: Der Arm hat sich bewegt.
Plötzlich vibriert das Handy. Eine SMS von Nina:
Wo bleibst du? Du
wolltest vor einer
stunde da sein.
*kuss* nina
Habe keine Zeit zu antworten, denke ich und leuchte wieder auf den Altar. Anastasius ist verschwunden. Verstört schaue ich mich um, kann aber nichts erkennen. Ein röchelndes Geräusch kommt hinter dem Altar hervor. Erschrocken weiche ich zurück.
Wo ist nur das Messer? Ich wünschte ich hätte es nie weggelegt. Vorsichtig lehne ich mich über den Altar und versuche nachzusehen.
Schlagartig gerät Anastasius Kopf in mein Blickfeld. Seine aufgerissenen Augen starren mich leer an. Er röchelt, sabbert, greift nach mir. Ich kann nicht anders und laufe davon. Renne, stolpere, zum Ausgang ins helle Mondlicht.
Am Fuß der Treppe halte ich an, warte, beruhige mich. Ich hätte ihm helfen sollen. Am besten sofort einen Arzt rufen.
„Ist alles in Ordnung?“, rufe ich in die Dunkelheit. Ich bekomme keine Antwort. Nur ein dumpfes Schlurfen, das langsam näher kommt. Ich versuche hinein zu leuchten, aber meine Augen haben sich bereits wieder an das helle Mondlicht gewöhnt.
„Was tun sie da? Keine Bewegung!“, erschreckt mich eine Stimme über mir. Ein Wächter. Er wird mir helfen können. Ich will mich gerade umdrehen, als auf einmal Anastasius aus der Gruft stolpert und auf mich stürzt. Seine dürren Finger klammern sich um meinen Hals. Sie sind kalt, wie die Finger eines Toten. Ich versuche mich zu wehren, aber er drückt immer stärker zu. Seine Finger bohren sich tief in meinen Hals. Ich bekomme keine Luft.
Ich sehe in seine irre blickenden Augen. Speichel läuft aus seinem Mund und tropft auf mein Gesicht. Er versucht zu zubeißen. Ich strecke meine Hand vor mich, und er umschließt sie mit seinen Zähnen. Ein stechender Schmerz durchzuckt mich. Egal wie ich mich winde, ich schaffe es nicht ihn abzuschütteln, während seine Zähne sich tiefer in das Fleisch meiner Hand bohren. Ich schreie vor Schmerz. Blut tropft von meiner Hand. Anastasius schlürft es mit seinen kalten, blauen Lippen. Mir wird schwindelig und ich kratze nur noch schwach mit der Hand auf seiner Schulter. Hautfetzen lösen sich von seiner Schulter, aber er scheint es nicht zu bemerken. Langsam wird mir schwarz vor Augen.
Ich höre nur noch den dumpfen Schlag der Schaufel, und das knackende Geräusch einer zerberstenden Schädeldecke.
Der Friedhofswärter hatte Anastasius niedergeschlagen und einen Krankenwagen gerufen. Als ich aufwachte, wurde ich schon versorgt.
Anastasius war tot. Seine Beerdigung auf nächste Woche angesetzt. Die Gerichtsmediziner stellten als Todesursache die Messerverletzung fest. Sowohl der Schädelbruch, als auch die Schulterverletzungen seinen posthum zugefügt worden. Ich war nach Hause gekommen und hatte mich sofort schlafen gelegt. Als ich aufwachte fühlte ich mich wie gerädert. Ich hatte starke Kopfschmerzen und konnte mich kaum Bewegen.
Nina glaubte mir die Geschichte erst als jemand von der Behörde anrief um sich nach meinem befinden zu erkunden, weil ich noch eine Aussage machen sollte.
Sie kümmert sich gut um mich, bringt mir Vitaminsäfte und Tees, kocht für mich. Nur will mir nichts schmecken, ich habe einfach keinen Appetit. Am Sonntagmorgen fragt sie sogar, ob ich mit ihr in die Kirche will. Ich gehe nicht so regelmäßig wie sie, ich vergesse es meistens und sie denkt gar nicht daran, mich jedes Mal mit zu schleifen, wenn ich beschäftigt in einer Ecke der Wohnung herum sitze.
Heute fühle ich mich zu erschöpft. Ich lasse sie allein gehen und schlafe gleich wieder ein.
Ich wache auf, als mein Magen knurrt und wälze mich aus dem Laken. Ich fühle mich, als hätte ich zuviel getrunken. Während ich erbittert durchs Haus torkle, weil ich im ganzen Haus nichts zu Essen finden kann, worauf ich Lust habe wird mir schlecht.
Ich stolpere ins Bad und muss mich übergeben. Immer und immer wieder. Nach einer Weile bleibe ich erschöpft auf dem Boden liegen.
Es muss eine Stunde vergangen sein, bis ich mich aufraffen kann. Was habe ich mir da nur zugezogen, frage ich mich. Ich ziehe mich am Waschbecken in eine aufrechte Haltung und betrachte mich im Spiegel. Mir ist schwindelig. Meine Haut erscheint aschfahl im Badezimmerlicht, meine Augen sind ganz blutunterlaufen. Die Wunde an meinem Hals beginnt zu Eitern. Auch die Bisswunde an meiner Hand entzündet sich. Ich habe gehört, dass der Biss eines Menschen schlimmer Krankheiten übertragen kann, als die Bisse von Tieren. Mit Daumen und Zeigefinger drücke ich auf eine Blase an der verkrusteten Halswunde. Unter einem leisen Schnalzen fließt ein Schwall gelben Schleims meinen Hals herunter.
Ich knicke in die Knie ein. Es tut höllisch weh. Ich muss mich wieder übergeben.
Ich liege auf dem Bett. Ich weiß nicht wie lange schon. Nina liegt neben mir. Ich sehe ihren Rücken, wie er sich im Mondlicht räkelt. Ihre zarte, samtige Haut, ihre durchtrainierten Muskeln.
Ich will aufstehen und zum Kühlschrank gehen. Noch immer bin ich Hungrig. Ich frage Nina, wie spät es ist, bekomme aber nur ein Röcheln heraus.
Diese dumpfen Kopfschmerzen. Ich bin vollkommen benebelt.
Irgendwie schaffe ich es aufzustehen. Langsam schlurfe ich auf die andere Seite des Zimmers, wo der Wecker steht. Nina liegt mit geschlossenen Augen da und Atmet tief und ruhig. Ich rieche ihren Duft mit jedem Atemzug.
Langsam läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Ich bin zu betäubt und schwindelig um mir selbst etwas zu machen. Ich könnte Nina fragen und setzte mich taumelnd neben sie.
An ihrem dünnen Hals sehe ich deutlich ihren Puls pochen. Mein Kopf sackt etwas zusammen. Die Kopfschmerzen schwellen zu einem vielstimmigen Getöse an. Ich muss dringend etwas essen. Wie lange hatte ich kein fleischiges, saftiges Steak mehr zwischen den Zähnen?
Meine Hand streicht gleichmütig ihre Haare aus dem Gesicht und verharrt einen Moment an ihrem Hals.
Ich werde sie nicht wecken. Nicht jetzt. Ich nähere mich ihr um sie auf die Wange zu küssen. Ich spüre ihre Wärme, ganz nah. Ihr zarter, süßer Geschmack auf meinen Lippen. Speichel tropft aus meinem Mund auf ihr Gesicht. Es ist mir etwas peinlich, ich schlürfe es sanft auf. Ich küsse ihren Hals und halte sie in meinen Armen. Ein wenig windet sie sich unter meinem Griff, aber wacht nicht auf.
Mein Magen knurrt.
Genüsslich lecke ich über meine Lippen. Meine Kopfschmerzen werden immer drängender. Hastig dringen meine Zähne in ihren Hals. Sie bäumt sich auf, aber schreit nicht, als sich mein Mund mit ihrem Blut füllt. Aus dem Augenwinkel kann ich ihre in Panik weit aufgerissenen Augen erkennen. Ihre Fingernägel krallen sich tief in meinen Arm und meinen Rücken, aber es tut nicht weh.
Der salzige Geschmack ihres Fleisches, das ich zwischen meinen Zähnen zermalme gibt mir neue Kraft.
Sie bewegt sich nicht mehr. Meine Kopfschmerzen werden weniger. Endlich Ruhe.
Der Nebel um mich wird immer dichter. Ich stehe auf vom Bett und stapfe schlurfend den Gang entlang zur Treppe.
Es wird Dunkel.
"Wenn in der Hölle kein Platz mehr ist, kommen die Toten auf die Erde zurück."
Dawn of the Dead