- Beitritt
- 22.11.2005
- Beiträge
- 993
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 16
Tränenblut
Der Hall der am Jesuskreuz zerspringenden Whiskyflasche bebt durch die stille Kirche. „Ich hasse dich!“, speie ich dem Altar entgegen und bin bis auf die Unterwäsche tränengeträngt. Oder vielleicht vom Regen. Seitdem sie tot ist, regnet es immer.
Der Vikar ergreift mich. „Schäm dich deiner, mein Sohn!“ und zerrt mich zurück vor die schweren Türen. „Ich habe es dir oft genug gesagt: Geh in eine Therapie!“, sagt er in windgetragener Kutte.
Bei ihrem Grab angelangt, buddele ich mich zu ihr, klopfe an den Sarg, doch sie hat nicht gewartet, keinen Zettel hinterlassen, keinen Kuss hinterlegt, nicht zurückgesehen. Nur kühle, nüchterne Erde und schweigende, graue Blumen, ein chiffrierter Stein.
Ich lege mich auf den Sarg und wache auf, sobald ich eingeschlafen bin und finde mich auf einer Vernissage wieder. An der Wand schwanken Bilder von weinenden Personen. Ich kenne diese Personen, habe sie zuletzt auf der Beerdigung gesehen. Die Bilder sind von unten gemacht worden, wie aus einem offenen Grab heraus. An der Decke des Ateliers schwingen Stricke, das Licht der Neonröhren zuckt unregelmäßig und immer wenn man nicht damit rechnet, die Personen flanieren, schwenken den Wein in ihren Gläsern zum Rhythmus der Bilder und bleiben vor diesen stehen, tuscheln dann; während sie vor einem Gemälde verweilen, haben sie die andere Hand, mit der sie kein Weinglas halten, in der Hosentasche hängen. Sie tragen Anzüge.
Vorsichtig nähere ich mich einem Pärchen, das wie beschrieben vor einem Bild steht. Der Mann linst über die Schulter. „Hallo“, sagt er mit klarer Stimme. „Ich habe meiner Frau gerade schon erzählt, dass ich finde, dass an diesem Bild hier der Zusammenbruch der Wirklichkeit schön zu erkennen ist. Finden Sie nicht?“
Ich antworte nicht, starre nur auf das Bild, auf dem ich deutlich zu erkennen bin, wie ich vor dem Grab stehe und meine Tränen in dieses fallen, in der Perspektive hervorgehoben wurden und in den Vordergrund stechen.
Dann sammelt sich etwas Wasser an den unteren Bildrändern und nur wenig später beginnt es zu tropfen, dann zu fließen, jetzt strömt es. „Igitt!“, empört sich die Frau und sie entfernen sich. Auch das Bild verschwindet wie von Schnüren gezogen in den Himmelsweiten über mir.
Aus der kahlen Wand wird ein bordeauxroter Vorhang, der sich nun aufzieht, und ich sehe eine Bühne vor mir wachsen, ganz aus Holz und verstaubt, mit Balkonen an beiden Seiten und einem tiefen Orchestergraben, als Hintergrund die Nacht errichtet.
Aus schwachem Licht tritt eine Gestalt zaghaft auf die Bühne, Dielen knarren erzürnt. Ich bin es und halte meine Hände als wolle ich in meinem Bauchnabel einen Eingang suchen.
Ein Blick an mir herunter lässt dieselbe Handhaltung erkennen. Als ich aufschaue erhebe auch ich den Kopf, dann den Arm und ich tu es mir gleich. Ein Klatschen von mir dringt bis zu mir hin. Dann gehe ich und sehe mich hinfort gehen, stehe jetzt auf der Bühne und habe Fäden an mir, die Angelschnüren gleichen, in meiner Haut verankert sind und über mir in der Dunkelheit verschwinden.
Sie ziehen mich vorwärts zu einem Tisch hin, voll mit Kuchen, und meine Knochen knacken hölzern.
Gelenkt greife ich zu und mit den hinzu stoßenden Personen erfüllt sich die Szenerie mit Akustik. Die Stimmung ist gedrückt. Weit ab trinken sie etwas Bier an kaum dekorierten Tischen, schwatzen, schwatzen wie Schweine denen ein Zufall vor Momenten diese Gabe geschenkt hat.
Mit dem Kuchen balancierend werde ich zu einem langen Tisch gezogen. Manchmal lässt die Spannung der Fäden etwas nach, so dass ich kurz zusammensacke. Die Leute am Tisch wenden sich zu mir hin und schauen mich mit tränenerfüllten Augen an.
Dann knarrt es einmal, mehrmals, und einige der mich haltenden Fäden reißen. Zuerst meine linke Seite, sodass ich mit dem linken Knie und dem linken Arm auf dem Boden liege, mein rechter Arm noch in der Luft hängt und mein Kopf noch aufrecht ist. Nur für flackernde Momente noch, bis auch diese Fäden reißen und ich komplett auf den Boden klatsche, der kalt jedoch weich ist und sich als Matratze entpuppt. Du liegst neben mir. Bist wach. Ich muss dich durch meinen Alptraum aufgeweckt haben. Ich bin hier, mein Schatz! Warum weinst du? Hey, sieh mich an! Wie gerne will ich dich trösten, doch ich bin wie arretiert, angekettet oder festgefroren. Weder meinen Kopf noch meine Augen kann ich steuern, geschweige denn meine Arme, unterhalb meiner Taille spüre ich mich nicht einmal mehr.
Und so werfe ich einen fixierten Blick in dein Zimmer, der mich noch so eben die Matratze erkennen lässt, als würde ich in einem Loch in der Wand sein. Dann du. Dann du in meinem Blick. Du siehst mir in die Augen. Ich liebe dich. Ich liebe dich. Deine Hand streicht an mich, berührt mich jedoch nicht. Du redest, allerdings nicht mit mir. Du vermisst mich, du vermisst mich, du vermisst mich. Dann weinst du. Wieder.
Mein Vater.
Mein Vater vor mir in voller Größe. Ich höre nicht, was er schreit, aber er meint mich, ist böse, erzürnt, enttäuscht. Mutter steht im Hintergrund und wischt sich Tränen aus dem Gesicht. Es ist schon Tränenblut.
Ich zittere und hänge am Hosenzipfel meines alten Herren. „Geh!“, sagt er. „Geh dort hin, wo der Teufel Lehrlinge sucht.“